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Syrischer Muslimbruder Molham Aldrobi

»Wir wollen Damaskus, nicht Jerusalem«

Interview

Der Muslimbruder und syrische Oppositionelle Molham Aldrobi über die Strategie der Rebellen, salafistische Milizen und die Frage, ob es vor dem Winter noch eine Kriegsentscheidung in Syrien geben wird.

Herr Aldrobi, Sie gehören als Muslimbruder der syrischen Auslandsopposition an und halten sich die meiste Zeit in der Türkei und Saudi-Arabien auf. Haben Sie und ihre Freunde von der Opposition irgendeine Kontrolle über die bewaffnete Rebellion in Syrien?

Molham Aldrobi: Einfluss ja, aber nicht die volle Kontrolle. Die hat im Übrigen niemand, denn der Aufstand ist eher dezentral organisiert. Der Syrische Nationalrat ist, trotz aller Kritik, die größte und stärkste Organisation, die mit dem Rest der Welt verhandelt. Und wir stehen in Verbindung mit den städtischen und regionalen Räten, die sich in den vergangenen Monaten in Syrien gebildet haben und sowohl politische, als auch militärische Entscheidungen treffen. Etwa vor einem Monat haben wir ein Zentralkomitee gegründet, das die zivilen Räte – immerhin über 90 im ganzen Land – mit ausländischen Spendern und Unterstützern zusammenbringt.

 

Was für ein Budget haben Sie bisher?

Noch gar keines, außer dem, was wir selbst einbringen konnten. Wir haben gerade erst begonnen, den Bedarf und die entsprechenden Hilfsprojekte in den Regionen zu erarbeiten und sie den ausländischen Unterstützern vorzulegen, auch ausländischen Regierungen – Business-Pläne, wenn Sie es so wollen, für den Wiederaufbau in der befreiten Zone.

 

»Ich glaube nicht, dass wir noch vor dem Winter siegen werden«

 

Auch in diesem Herbst sollten einige zehntausend reguläre Rekruten in Syrien zur Armee eingezogen werden. Haben Sie Zahlen oder Schätzungen, wie viele sich tatsächlich zum Dienst gemeldet haben?

Keine Zahlen, aber wir hören natürlich, dass viele junge Männer desertieren, indem sie einfach die Musterung umgehen und untertauchen. Allerdings scheint das Regime nun massiv unter der alawitischen Bevölkerung zu rekrutieren. Nicht nur junge Männer, sondern so ziemlich jeden, der noch eine Waffe bedienen kann.

 

Einer unserer Reporter ist vor wenigen Tagen aus Aleppo zurückgekehrt – einer Wirtschaftsmetropole, die zunächst alles andere als revolutionsbegeistert war. Die Freie Syrische Armee (FSA) hat den Krieg bewusst dorthin getragen und sich damit bei der Bevölkerung nicht nur Freunde gemacht. Seit über 90 Tagen tobt in Aleppo nun der Krieg mit tausenden Toten und einer beispiellosen Vernichtung des historischen Erbes dieser geschichtsträchtigen Stadt. War es eine gute Entscheidung, die Schlacht um Aleppo zu eröffnen?

Die FSA war zuvor in den Dörfern um Aleppo aktiv. Es stimmt, dass diese Kämpfer nach Aleppo gekommen sind, aber es gab auch in der Stadt zahlreiche Anhänger der Revolution. Strategisch gesehen ist Aleppo die größte Stadt in der Nähe der türkischen Grenze; und wenn es gelingt, dieses Gebiet vollständig unter Kontrolle der Revolutionäre zu bringen, wäre das ein sehr großer Erfolg. Es gäbe dort dann eine geschlossene, befreite Zone, in die Soldaten desertieren können und in der wir die Bevölkerung schützen können.

 

In wenigen Monaten beginnt auch in Syrien der Winter – es wird härter für die Menschen, sich mit Versorgungsgütern einzudecken. Glauben Sie, dass die FSA alles dransetzen wird, noch vor Dezember eine Entscheidung zu erzwingen?

Beide Seiten wollen so schnell wie möglich fertig werden. Wir brauchen mehr Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft, sonst schaffen wir es nicht. Baschar al-Assad hat sein Bestes gegeben, uns niederzuschlagen. Aber es gelingt ihm nicht, denn mehr und mehr Menschen setzen sich zur Wehr. Ich glaube nicht, dass wir vor dem Winter einen Sieg erringen werden.

 

»Ich habe nichts gegen türkische Bodentruppen in Syrien«

 

Waren Sie vor Beginn der Schlacht von Aleppo optimistischer?

Ich wusste, dass Aleppo irgendwann drankommt und dass es hart wird. Andererseits: In einer Revolution geschehen immer wieder überraschende Dinge.

 

Sie fordern, dass das Ausland umgehend in Syrien intervenieren müsse. Was für eine Art Intervention stellen Sie sich denn vor?

Jede Art. Eine Flugverbotszone, die Einrichtung eines Sicherheitskorridors – alles, was effektiv und für das Ausland kostengünstig ist.

 

Sie hätten gerne türkische Bodentruppen in Syrien?

Ich habe nichts dagegen.

 

Was bekommen Sie denn bisher? Geld für Waffen aus Katar und Saudi-Arabien?

Sehr wenig. Oder besser: nicht genug.

 

Liefert die Türkei Ihnen Geld und Waffen?

Ja, aber zu wenig.

 

Welche Art Waffen verlangen Sie?

Ich bin kein Soldat, um die technischen Details zu nennen. Aber wir brauchen Raketen zur Luftabwehr und panzerbrechende Waffen. Unsere Offiziere haben ihre Wunschlisten ja bereits herausgegeben. Einiges hat sich verbessert, man sieht ja, dass unsere Leute einige Flugzeuge und Helikopter abgeschossen haben.

 

Finanziert die deutsche Regierung Waffenkäufe für die FSA?

Ich denke nicht.

 

Auf dem »Berliner Forum Außenpolitk« der Körber-Stiftung sagten Sie am 23. Oktober: »Wir wollen Damaskus, nicht Jerusalem«. Im Raum wurde es beinahe hell – so sehr strahlten die deutschen Parlamentarier und Diplomaten. Wollen Sie, ein syrischer Muslimbruder, die »Normalisierung« mit Israel? Oder haben Sie das nur gesagt, um sich die Sympathie der Europäer und der USA zu kaufen?

Nein, es geht mir darum, die richtigen Prioritäten für mich, die Muslimbrüder und für das syrische Volk zu setzen. Zu diesem Zeitpunkt ist unser Ziel, unser Land zu befreien, und nicht, uns in den Konflikt in Palästina einzumischen.

 

»Die salafistischen Milizen sind keine Gefahr für uns – wir haben das gleiche Ziel«

 

Salafistisch-dschihadistische Gruppen unter den Rebellen bauen täglich ihren Einfluss aus. Sie gelten als tapfer, rekrutieren junge Männer, werben sie bei anderen Freischärler-Brigaden ab und planen nach unseren Informationen nun eine Serie von Selbstmordanschlägen auf Armee-Posten und andere taktische Ziele. Die Rede ist vor allem von der Gruppe »Al-Nusra-Front«. Ist diese Gruppe eine Gefahr für die Revolution? Oder für die Muslimbrüder?

Keine Einheit der Revolution ist eine Gefahr für uns, ob sie säkular oder salafistisch ist. Wir haben ein gemeinsames Ziel: das Land zu befreien. Al-Nusra hat das Recht, ihren Beitrag zum Sieg zu leisten. Es stimmt, was Sie sagen: Diese Männer sind tapfer, denn sie glauben an das, was sie tun, und haben eine tiefe religiöse Überzeugung. Dass sie Leute von anderen Gruppen abwerben, ist normal. Es wechseln ständig Kämpfer von einer Miliz zur anderen – es gibt einen Wettbewerb darum, welche Truppe attraktiver ist und sich im Kampf hervortut. Diese Leute sind keine strategische Gefahr für uns. Wenn Baschar al-Assad besiegt ist, wird es eine Verfassung und demokratische Regeln geben. Und wer sich daran hält, ist berechtigt, am politischen Prozess mitzuwirken. Auch die Salafisten. Wenn sie sich nicht an diese Regeln halten, werden sie vor Gericht gestellt – das gilt für alle.

 

Sollte Präsident Assad das Land verlassen, muss zunächst jemand die Regierung übernehmen und – wollen wir optimistisch sein – mit der Rebellion in Verhandlung treten. Einige Oppositionelle halten Farouk al-Sharaa, Vizepräsident, Ex-Außenminister und Sunnit, für einen annehmbaren Kandidaten. Sie auch?

Verfassungsrechtlich gesehen ist er es. Er könnte Assad einen Ausstieg ermöglichen. Wir haben nichts dagegen – wer auch immer nach Assad kommt, ist eine Interimsfigur. Wenn nicht, werden die Menschen in Syrien schnell eine Interimsregierung wählen. Wir von der Opposition sind gerade dabei, eine Interimsregierung aufzubauen und binnen drei Monaten wollen wir Namen dazu veröffentlichen.

 

Werden darunter auch Angehörige des jetzigen Regimes sein?

Nein. Denn selbst wenn wir solche Namen hätten, würde Assad dafür sorgen, dass diese Leute tot sind, noch bevor er sich selbst zurückzieht.


Molham Aldrobi, 47, zählt zu den führenden Köpfen der Muslimbruderschaft im Syrischen Nationalrat (SNC). Der Computer-Ingenieur stammt aus Homs, schloss sich als junger Mann im ägyptischen Exil den Muslimbrüdern an und lebte unter anderem in Saudi-Arabien und der Türkei.

Von: 
Daniel Gerlach

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