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Tripoli im Libanon trotzt dem IS

Das ist unsere Stadt!

Feature

Mutige Bürger kämpfen um Image und Identität von Tripoli: Eine Fremdenführerin lenkt Touristen an Panzern vorbei in osmanische Suks, ein Rechtsanwalt kämpft für sein Recht auf Bier, und junge Männer rappen zwischen IS-Fahnen vom Frieden.

»Je suis Charlie«, heißt es auch noch zwei Wochen danach bei vielen jungen Libanesen auf Facebook. »Je suis Tripoli«, heißt es bei den anderen Landsleuten. Gemeint ist nicht die Hauptstadt Libyens, sondern die alte libanesische Hafenstadt im Norden. Im säkularen Libanon ist man zur Zeit entweder Charlie oder Tripoli.

 

Und die Bruchlinien verlaufen mal wieder entlang der Konfessionen. In Tripoli sprengten sich drei Tage nach den Anschlägen von Paris zwei Islamisten in einem gut besuchten Café in die Luft und rissen neun Menschen in den Tod. Einen Tag später demonstrierten in Beirut ein paar hundert Menschen in Solidarität mit den französischen Opfern. Neben viel Applaus gab es aber auch Fragen: Was ist mit den Opfern aus Tripoli? Wieso wird hier der von Islamisten ermordeten Franzosen gedacht, aber nicht der von Islamisten ermordeten Libanesen nebenan?

 

Paris ist näher als Tripoli

 

»Wir stehen hier für die gleichen Werte ein, wie Europa«, sagt der Demonstrant Omar Boustany. Er sieht den Solidaritäts-Protest mit Paris als positives Zeichen aus der arabischen Welt, die sich »genauso wie das protestierende Europa zu Meinungsfreiheit und Toleranz bekennt«. Auch der Aktivist Johnny Assaf aus Tripoli kämpft für diese Werte. Trotzdem macht ihn der Marsch durch Beirut wütend: »Nur weil Charlie groß in den Medien ist, rennen die frankophonen Beiruter zu der Demo.

 

Und was ihren Nachbarn passiert, interessiert sie nicht«, sagt er. »Es ist wirklich traurig, dass Libanons Christen sich mit Frankreich näher verbunden fühlen als mit Tripoli.« Er meint damit wohl jene Libanesen, die wie die Demonstrantin Sarah Warde auf einer französischen Schule und Universität waren und mittlerweile besser Französisch als Arabisch sprechen. »Ich liebe Charlie Hebdo und das freie Frankreich, für das das Magazin steht – deshalb bin ich hier«, sagt sie. In Frankreich war sie schon zig mal.

 

Aber erst ein einziges Mal im 150 Kilometer entfernten Tripoli. Dabei war die Hafenstadt Tripoli jahrhundertelang großer Stolz der Mamluken und Osmanen. Doch vom alten Glanz ist wenig übrig, heute wird die Stadt von Gewalt und Terror erschüttert. In den Ohren der meisten Beiruter klingt Tripoli schon fast wie Mossul oder Raqqa. Kein Wunder, dass sich Paris für sie näher anfühlt.  »Nach Tripoli darfst du auf keinen Fall gehen«, sagt der christliche Taxifahrer in Beirut eindringlich, »da wirst du sofort vom Islamischen Staat gekidnappt!«

 

Er ist nicht der einzige, der so denkt. »Die Armee sagt, sie habe die Lage unter Kontrolle, aber in Wahrheit ist Tripoli doch schon längst Teil des IS-Kalifats!«, ist auch der Frisör Karim überzeugt. Die wenigsten Beiruter würden in diesen Zeiten auch nur daran denken, einen Fuß in die sunnitische Stadt zu setzen. Tripoli – das ist für sie Armut, Extremismus und Dschihad.

 

Tourismus statt Terror: Jetzt erst recht!

 

Ihnen zum Trotz fährt genau eine Woche nach den Selbstmordanschlägen ein Reisebus voller junger Libanesen und Expats aus Beirut gen Norden, um in Tripoli durch die Suks zu schlendern und Hummus zu essen. Angst? Scheint hier keiner zu haben. »Ein bisschen Bauchgrummeln hatte ich schon«, gibt der italienische Student Gugliermo Gori zu, »aber die Neugier auf die Stadt war größer.« So kann er seinen ängstlichen Freunden wenigstens erzählen, was sie verpasst haben – »falls wir es zurück nach Beirut schaffen«, witzelt er. So wie die meisten, haben seine Freunde nämlich nach der Meldung über die Selbstmordattentate wieder abgesagt. Die Organisatorin Mira Minkara hat das Event daraufhin aber nicht etwa verschoben, sondern eine Rundmail losgeschickt: »Lasst uns die Angst mit positiver Energie bekämpfen! Jetzt erst recht!«

 

Die Tripolitaner danken es ihr. Mira ist stadtbekannt, ohne sie würden die Händler in den Suks überhaupt keinen Touristen mehr zu Gesicht bekommen. Auch die Betenden in der mamlukischen Taynal-Moschee aus dem 13. Jahrhundert freuen sich über den Besuch aus Beirut. Erstaunt lächelnd betrachten sie die bunte Truppe von Röhrenjeans tragenden Männern und Frauen mit schnell improvisiertem Kopftuch, dann wenden sich wieder ihrem Gebet zu. Und der orthodoxe Patriarch ist gerührt, dass Mira, selbst Sunnitin, seine Jahrhunderte alten Kirchen am Herzen liegen.

 

Schon seit einem knappen Jahr organisiert die Tripolitanerin diese Stadtführungen. Sie möchte den Libanesen das reiche historische Erbe ihrer Stadt näher bringen, in dem Phönizier, Griechen, Römer, Araber und Osmanen ihre Spuren hinterlassen haben. Doch leicht hat sie es nicht: Oft bleiben ihre Touren leer, weil die Leute Angst haben. »Viel Geld verdiene ich damit natürlich nicht«, sagt sie, »ich mache das aus Überzeugung. Das ist meine Art des Widerstandes gegen die Radikalen aus Bab al-Tabbaneh, an die wir langsam, aber sicher unsere schöne Stadt verlieren.«

 

IS-Fahnen hier, Assad-Poster dort

 

Dort, im bitterarmen Viertel Bab al-Tabbaneh, weht die schwarze IS-Flagge an jedem zweiten Laternenmast. Der Islamische Staat und die Nusra-Front rekrutieren hier ihre Attentäter. Ihre Erzfeinde sind die Alawiten aus dem Nachbarviertel Jabal Mohsen, wo statt der schwarzen die syrische Nationalflagge weht und Plakate des Machthabers Assad an den Häuserwänden prangen. Der Konflikt zwischen den Vierteln ist alt, doch seit im Nachbarland Syrien ein Bürgerkrieg tobt, gehören Schießereien und Granaten wieder zum Alltag für die Bewohner.

 

Viele syrische Rebellen haben in Bab al-Tabbaneh Unterschlupf gefunden, während die Alawiten aus Jabal Mohsen das syrische Regime und die Hizbullah unterstützen. Mitten im Herzen dieses alawitischen Viertels sprengten sich die beiden 21 und 28 Jahre alten Attentäter am vergangenen Wochenende in die Luft und besiegelten damit endgültig den Bruch des Waffenstillstandes, den die Armee vor einem halben Jahr durchgesetzt hat. Seitdem verhaftet die Armee täglich Terroristen, und solche, die sie dafür hält. Die Islamisten töten im Gegenzug immer wieder Soldaten. Mira läuft mit ihrer Gruppe deshalb schnell an jedem Panzer vorbei: »Schnell vorbei, und keine Fotos!«, ruft sie, »die Armee ist ein Angriffsziel!«

Gefechte in den Suks, Arak und Elektro in Mina

Das Fotografieren militärischer Einrichtungen ist streng verboten. Doch knipsende Touristen gehören in Tripoli ohnehin nicht mehr zum Stadtbild. Das Auswärtige Amt warnt dringend vor Reisen in Libanons zweitgrößte Stadt. Die Hotels, die in der Aufbruchsstimmung der 2000er Jahre entstanden sind, haben daher längst zugemacht. Wer kann, zieht nach Beirut und eröffnet dort eine Bar oder ein Gästehaus. Nur Nabil Najjar macht es umgekehrt. Er ist vor drei Jahren von Beirut nach Tripoli gezogen, hat eine historische Villa im Tripolitaner Hafenviertel Mina restauriert und zu einem Gästehaus umgestaltet. Im Herbst hat er das Beit el Nessim zu einem kulturellen Zentrum erweitert: Jetzt finden hier Konzerte, Ausstellungen und Yoga-Kurse statt. Als im Oktober 2014 eingeweiht werden sollte, brachen mitten in der Stadt schwere Kämpfe aus: Bewaffnete Milizen stürmten nach dem Freitagsgebet auf die Straßen, nachdem mehrere Scheichs zum gewaltsamen Aufstand aufgerufen hatten. Militär und Islamisten bekämpften sich dann drei Tage lang in den historischen Suks. »Die politische Instabilität hat uns alle deprimiert, viele meiner Freunden überlegten wegzuziehen«, erinnert er sich. Da hat er eine große Einweihungs-Party geschmissen, zur Elektro-Musik servierte er Arak – und hinterher wollten dann alle in Tripoli bleiben.

 

Morddrohungen für eine Bier-Kampagne

 

Auch der Aktivist und Rechtsanwalt Khaled Merheb kam auf die Party. Als die blutigen Kämpfe vorüber waren, hat er Freiwillige aus dem ganzen Land in die historischen Suks geholt und den Händlern beim Aufbau ihrer Läden geholfen. Er ist überzeugt, dass sich die Fanatiker nicht mit militärischer Stärke bekämpfen lassen. Nach den letzten Selbstmordanschlägen umso mehr: »Die Selbstmordattentäter sind doch genauso Opfer, wie die Opfer die sie schaffen«, sagt er.

 

Armut und Perspektivlosigkeit trieben sie in die Arme von Politikern und Scheichs, die sie manipulieren und für ihre blutrünstige Hass-Ideologie in den Tod schickten. »Verantwortlich dafür sind wir alle.« Dieser korrupten Elite möchte er deshalb etwas entgegen setzen: Er kämpft für eine starke Zivilgesellschaft in Tripoli – und erhält dafür immer wieder Morddrohungen. Die heftigste Reaktion folgte auf seine #Tripoli_liebt_Bier- Kampagne.

 

Die Aktion sollte provozieren, sollte zeigen, dass es auch ein säkulares, Bier trinkendes Tripoli gibt. Sein Foto kursierte daraufhin auf Facebook und Twitter unter den Worten »dieser Mann ist kein Moslem mehr. Er ist ein Ungläubiger.« »Ich nehme das in Kauf, weil ich meine Stadt liebe, und weil ich sie nicht so einfach den Radikalen überlasse«, sagt Khaled. Er organisiert Demonstrationen, Rockfestivals, und Workshops für Jugendliche aus den verfeindeten Stadtvierteln Tabbaneh und Mohsen. Als Islamisten im vergangenen Jahr eine griechisch-orthodoxe Bibliothek in Brand steckten, war er sofort zur Stelle, hat Spenden gesammelt und gerettet, was zu retten war.

 

Vom multireligiösen Schmelztiegel zur Hauptstadt der Sunniten

 

Dass Tripolis Christen um ihr Leben fürchten müssen, war nicht immer so. Vor dem Bürgerkrieg lebten Sunniten, Schiiten, Orthodoxe und Maroniten friedvoll miteinander. »Früher habe ich vor der Moschee gesessen und Bier getrunken und die Gläubigen, die zum Gebet gingen, haben mir zugelächelt«, erinnert sich Khaled mit Wehmut an die Tage seiner Kindheit. »Wenn ich heute irgendwo nach Schinken frage, werde ich angeschaut, als hätte ich den Propheten umgebracht.« Dabei war Schinken noch bis in die 1970er Jahre hinein keine Seltenheit in Tripoli.

 

Doch der aufkommende Islamismus der 1980er Jahre und die konfessionelle Politik des sunnitischen Premierministers Rafik Hariri in den 1990er Jahren haben das multireligiöse Tripoli stark verändert. »Hariri wollte Tripoli zur Hauptstadt der Sunniten machen, und das hat er geschafft«, sagt Khaled. Als Hariri 2005 ermordet wurde, waren die Fronten in Tripoli schnell klar: Die ideologische Machtkampf zwischen dem sunnitischen Saudi-Arabien und dem schiitisch-alawitisch regierten Syrien wurde in Tripolis Armenvierteln Tabbaneh und Mohsen blutig ausgetragen. Und er wird es heute abermals. 

 

Die Syrien-Straße trennt die verfeindeten Viertel

 

Nur eine kleine Straße trennt diese beiden Viertel voneinander, die Scharia Suria – die Syrien-Straße. Eine bittere Erinnerung daran, dass der kleine Vielvölkerstaat Libanon schon oft von den Stellvertreterkriegen der Region zerrissen wurde. Auch der fünfzehnjährige Bürgerkrieg begann damals in der Damaskus-Straße. Links von der Syrien-Straße ist man für Assad, rechts dagegen. Früher einmal hingen an den gegenüberliegenden Balkonen weiße Jasminblumen statt IS- oder Syrienfahnen, und die alawitischen und sunnitischen Nachbarn liehen einander Milch.

 

Heute werden über die Syrien-Straße nur noch Schüsse ausgetauscht. Zum Klang dieser Schüsse schlafen Issa Noman, Ehab Nuhaily und Abdul Rahman Bkhit aus Bab al-Tabbaneh ein, seit sie denken können. Früher haben sie sich hilflos gefühlt, doch seit sie sich zu der Rap-Gruppe »Mn El Ekher« zusammengeschlossen haben, rappen sie sich den Hass von der Seele. Die anderen, besseren Zeiten, von denen sie sprechen, kennen sie nur aus den Erzählungen ihrer Eltern. »Tripoli, vergiss das nie«, rappen sie, »deine Suks, deinen Frieden, deine Harmonie«.

 

Dass sie sich zur libanesischen Einheit bekennen, sehen die bärtigen Kiez-Bosse nicht gern. Als die jungen Männer ihren Song »Jaish al-Watan«, eine Hommage an die Armee, aufnahmen, stürmten schwarzverhüllte Fanatiker das Studio und schlugen mit Schlagstöcken immer wieder auf sie ein. Doch die Musiker lassen sich nicht so einfach einschüchtern. Sie geben weiter Konzerte in Tripoli und zeigen, dass man sich auch als Sunnit aus dem Islamistenviertel Bab al-Tabbaneh gegen den Religionskrieg entscheiden kann. »Wir halten diesen Scheiß nicht mehr aus«, zischen sie zum schnellen Beat. »Lasst uns doch einfach alle den gleichen Gott anbeten.«

Von: 
Livia Gerster

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