Weder Israel noch die Hizbullah sind an einem neuen Krieg interessiert – aber doch bereit, ihn zu führen. Christoph Leonhardt argumentiert, warum die libanesische Miliz für Israel eine größere Gefahr darstellt als die Hamas.
Seitdem die Hamas mit der Unterstützung des Islamischen Dschihads am 7. Oktober 2023 Israel attackiert hat, überschlagen sich die Ereignisse im Nahen Osten. Bei dem Überraschungsangriff haben etwa 1.500 Hamas- zusammen mit Kämpfern des Islamischen Dschihad über 1.400 Israelis und andere Staatsangehörige in über zwanzig israelischen Städten, Dörfern und Kibbuzen getötet, über 4.000 verletzt und über 220 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. US-Präsident Joe Biden bezeichnete den Überfall als »das schlimmste Massaker am jüdischen Volk seit dem Holocaust«.
Als Reaktion auf den Angriff rief der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu zum ersten Mal seit 50 Jahren – seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 – offiziell den Kriegszustand aus. Der Führungsstab der israelischen Verteidigungstruppen (IDF) leitete als Vergeltung auf den Angriff die »Operation Eiserne Schwerter« ein. Ihr Ziel ist es laut IDF-Generalstabschef Herzi Halevi, die Hamas vollständig zu »demontieren« und damit endgültig »vom Angesicht der Erde zu tilgen«.
Obwohl bis dato keine Beweise dafür vorliegen, dass die von Teheran angeführte »Achse des Widerstands« (in erster Linie Iran, Syrien und die Hizbullah im Libanon) in die operative Planung des Überfalls eingebunden war, erscheint es unwahrscheinlich, dass sie darüber keinerlei Kenntnis hatte. Die Speerspitze des selbst proklamierten »antizionistischen Widerstandskampfes«, die iranische Revolutionsgarde (IRGC), betreibt zusammen mit der libanesischen Hizbullah und der palästinensischen Hamas seit dem letzten israelischen Militäreinsatz gegen Gaza 2021 eine gemeinsame Kommandozentrale in Beirut. Daher ist es wahrscheinlich, dass IRGC und Hizbullah der Hamas für ihre Militäroperation zumindest Sicherheitsgarantien gegeben haben.
Aufgrund der Tatsache, dass die Attacke am 7. Oktober 2023 aus einer Kombination von simultanen Land-, See- und Luftoperationen bestand, in deren Vorfeld die israelischen Grenzschutzanlagen zum Gazastreifen per Drohnen ausgeschaltet wurden, ist von einer langfristigen strategisch-komplexen Militärplanung auszugehen. Der Angriff war beispiellos und wäre zum Zeitpunkt der letzten Auseinandersetzung des militärischen Arms der Hamas, der »Qassam-Brigade« (QB), gegen Israel im Mai 2021 noch undenkbar gewesen.
Auch palästinensische Kämpfer von Hamas und Islamischem Dschihad liefern sich im libanesisch-israelischen Grenzgebiet Gefechte mit den IDF
Seit dem Überraschungsangriff auf Israel, den die Hamas unter Verweis auf die »Entweihung der Al-Aqsa-Moschee« als »Operation Al-Aqsa-Flut« bezeichnet, feuert sie tagtäglich Raketen auf israelisches Gebiet ab. Außerdem rief ihr Politbüro-Chef Ismail Haniyeh andere »antizionistische Widerstandsgruppen« wie die Hizbullah im Libanon dazu auf, sie bei der »Flutung Israels« mit Waffengewalt zu unterstützen.
Die Hizbullah, die ganze Stadtviertel Südbeiruts, die Bekaa-Ebene und den Südlibanon kontrolliert und als Staat im Staate agiert, hat von Beginn an Solidarität mit dem Überfall der Hamas demonstriert. Ihre erste Attacke auf Israel erfolgte nur einen Tag später mit einem Beschuss der Shebaa-Farmen. Das kleine Gebiet liegt am Westhang der 1967 von Israel im Sechstagekrieg besetzten Golanhöhen und wird sowohl vom libanesischen Staat, als auch der Hizbullah reklamiert.
Neben der Hizbullah liefern sich auch palästinensische Kämpfer von Hamas und Islamischem Dschihad, viele von ihnen aus dem Lager Ain Al-Hilweh bei Saida, im libanesisch-israelischen Grenzgebiet täglich Gefechte mit den IDF. Bei den Zusammenstößen, bei denen einerseits Kleinwaffen, Granaten, Mörser, Raketen, Flugkörper und Drohnen mitsamt Infiltrationsversuchen, andererseits Artillerie, Luftschläge und Kampfdrohnen zum Einsatz kommen, sind bereits Dutzende Menschen gestorben: Auf libanesischer Seite sind nach eigenen Angaben mindestens 44 Menschen getötet (darunter circa 25 Hizbullah- sowie 6 Hamas- und Islamischer Dschihad-Kämpfer, fast ein Dutzend Zivilisten und ein Journalist) und viele weitere verletzt worden. Auf israelischer Seite sind nach eigenen Angaben mindestens 8 IDF-Soldaten sowie ein Zivilist getötet und ein Dutzend verletzt worden.
Trotz der teils heftigen Auseinandersetzungen stellen sich die Kämpfe im Grenzgebiet militärtaktisch noch als limitiert dar. Bis dato richten beide Konfliktseiten die Stärke ihrer Angriffe am Ausmaß der Attacke des Gegenübers aus, womit eine weitere Eskalation vermieden werden konnte. Die Hizbullah scheint die IDF durch ihre Angriffe an der Nordflanke lediglich binden und ihren Fokus von der Front im Süden verschieben zu wollen. Sollte die Hizbullah Israel jedoch in größerem Umfang attackieren, ist von israelischer Seite auch mit deutlich stärkeren Vergeltungsschlägen zu rechnen – und diese könnten nicht nur auf den Libanon begrenzt bleiben, sondern wie bereits jüngst geschehen sich auch punktuell auf Syrien, den Irak und sogar auf Iran ausweiten.
Der Hintergrund für die bisher kalkuliert taktischen »Scharmützel«
Der Hintergrund für die bisher kalkuliert taktischen »Scharmützel« ist, dass weder die Hizbullah noch Israel ein Interesse an einer größeren Auseinandersetzung haben. Auf der einen Seite befindet sich die israelische Bevölkerung noch im Schockzustand durch den beispiellosen Angriff, den viele im Land als Israels 11. September bezeichnen. Die IDF werden längerfristig im Süden gebunden sein und wollen deshalb einen Zweifrontenkrieg unbedingt vermeiden. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant betonte erst am 15. Oktober 2023, dass »Israel keinen Krieg an seiner Nordfront führen« möchte, sondern die Situation an der Grenze zum Libanon lieber »so belassen will, wie sie gerade ist«, was letztendlich gegen eine Eskalation spricht.
Auf der anderen Seite erklärte der Vertreter der Hamas im Libanon, Ahmad Abdel Hadi, am 20. Oktober das Eingreifen der Hizbullah damit, dass ihr Verbündeter lediglich seine »Pflicht« erfülle, »den Palästinensern gegen die israelische Besatzung« beizustehen, dies aber gewiss »ohne dem Libanon zu schaden«. Tatsächlich kann sich auch das Land auf der Gegenseite einen Krieg mit Israel nicht leisten: Der Libanon erlebt derzeit eine seiner schwersten Krisen seit Jahrzehnten.
Die Wirtschaft befindet sich in einer schweren Rezession: Das Bruttoinlandsprodukt ist von 2018 bis 2021 um über 40 Prozent gesunken. Das Libanesische Pfund hat seit Ende 2019 mehr als 95 Prozent seines Wertes verloren. Etwa die Hälfte der erwerbsfähigen Bevölkerung ist arbeitslos und rund 80 Prozent leben in Armut. Weite Teile der Gesellschaft sind auf Überweisungen von Angehörigen aus der großen libanesischen Diaspora angewiesen. Unter diesen Umständen wäre ein Krieg mit Israel derartig fatal, dass sicherlich mehrere Hunderttausend Libanesen in die Flucht getrieben würden.
Die Explosion im Beiruter Hafen am 4. August 2020 mit über 200 Toten und über 6.500 Verletzten hat nicht nur große Teile der libanesischen Hauptstadt zerstört, sondern die Krise im Land zusätzlich verschärft. Die Katastrophe führte zum Zusammenbruch der Regierung von Premierminister Hassan Diab. Seitdem wird sie lediglich geschäftsführend und ohne Staatsoberhaupt geführt. Nicht Wenige im Land machen Funktionäre der Hizbullah, deren politischer Arm seit vielen Jahren an der Regierung beteiligt ist, den Vorwurf, die Verantwortung für das Unglück im Hafen zu tragen.
Die Hizbullah muss als regionaler Machtfaktor gesehen werden
Die Hizbullah kontrolliert viele Transportwege im Land, darunter nicht nur den Beiruter Flughafen, sondern auch einen Teil des Hauptstadthafens, in dem jahrelang über 2.500 Tonnen hochexplosives Ammoniumnitrat unsachgemäß gelagert wurden. Die Spekulationen über die Verwicklungen der Hizbullah erhielten dadurch Nahrung, dass deren Abgeordnete die Ermittlungen zur Explosionsursache behinderten. Zudem demonstrierten Anhänger der Hizbullah sowie der mit ihr verbündeten Amal gegen den leitenden Ermittlungsrichter Tarek Bitar. Bei den folgenden gewaltsamen Ausschreitungen wurden sieben Menschen getötet und Dutzende verletzt.
Obwohl die multiplen Krisen im Libanon gegen eine Eskalation sprechen, muss in Betracht gezogen werden, dass die Hizbullah nicht nur als libanesischer Akteur betrachtet werden darf. Vielmehr stellt sie den Hauptpfeiler der von Teheran angeführten »Achse des Widerstands« dar, der neben den vielen schiitischen Ablegern auch die sunnitische Hamas sowie der Islamische Dschihad angehören. Entsprechend wird die Entscheidung über einen Kriegseintritt der Hizbullah gegen Israel auch eher in Teheran als in Beirut getroffen, wie einst schon in Bezug auf Syrien 2013 geschehen. Darüber hinaus hat die Hizbullah in Folge ihres Kriegseinsatzes auf Seiten des Assad-Regimes eigene Ableger gegründet: nicht nur in Syrien wie die »Soldaten des Mahdi« oder die »Kräfte Ridhas«, sondern auch im Irak wie die »Liga der Gerechten« oder die »Bewegung der Noblen der Partei Gottes« .
Aus diesem Grund muss die Hizbullah mittlerweile als regionaler Machtfaktor gesehen werden. Unter dieser Berücksichtigung müssen Warnungen wie die des Hizbullah-Funktionärs Nabil Qaouq ernst genommen werden. Er betonte am 20. Oktober 2023, dass »die Aggression gegen den Gazastreifen einer Aggression gegen den Widerstand« gleichkomme und erklärte, dass die Hizbullah sich damit als eines »der Hauptziele dieses Krieges« betrachte.
Obwohl ihr Eingreifen in den Nahostkonflikt bisher im überschaubaren Rahmen ablief, deutet Qaouqs Aussage darauf hin, dass die Entwicklung schnell außer Kontrolle geraten kann. Nicht nur taktische Fehleinschätzungen des Gegenübers oder eine von diesem wahrgenommene unverhältnismäßige Vergeltungsaktion, sondern auch die angekündigte Bodenoperation der IDF im Gazastreifen könnte die Hizbullah dazu bewegen, die Nordfront gegen Israel zu eröffnen.
Im Kriegsfall ist die Hizbullah vermutlich in der Lage, mehrere Zehntausend ihrer rund 50.000 Kämpfer zu mobilisieren
Diese Gefahr droht in dem Maße zu steigen, in dem die Gewalt in den Palästinensergebieten weiter zunimmt, die zivilen Opferzahlen im Zuge der israelischen Offensive in Gaza steigen, die IDF einen schweren Schlag gegen die Hamas-Führungsriege ausübt oder Israel seinem erklärten Ziel nahekommt, die Hamas in ihrer Existenz zu bedrohen. Die kommenden Schritte der Hizbullah werden also stark von Israels weiterem Vorgehen abhängen. Schon die erste Phase der »Operation Eiserne Schwerter« mit schweren Luftangriffen auf das dicht besiedelte Gebiet von Gaza hat nach palästinensischen Angaben bis dato über 5.000 Palästinenser das Leben gekostet und über 16.000 teils schwer verletzt.
Ein Indiz für die hohe Eskalationsgefahr zeichnet sich schon darin ab, dass viele Länder, darunter Belgien, Deutschland, Frankreich und die USA, ihre Staatsbürger zum sofortigen Verlassen des Libanons aufgefordert haben. Ferner hat Washington die Flugzeugträger »USS Gerad R. Ford« und »Dwight D. Eisenhower«, eine Reihe weiterer Kriegsschiffe und Kampfjets sowie Raketenabwehrsysteme vom Typ THAAD und Patriot in die Region entsandt, um eine Warnung in Richtung Iran und Hizbullah zu senden. Nicht nur der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian warnte jüngst davor, eine »andere Front zu eröffnen«. Auch Hizbullah-Generalsekretär Hassan Nasrallah hat mehrfach bekräftigt, dass die »Partei Gottes« fortan »für einen Krieg mit Israel« bereitstehe.
Nachdem sich die Kämpfe im libanesisch-israelischen Grenzgebiet in den vergangenen Tagen weiter intensiviert hatten, sprach der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant am 21. Oktober seinerseits davon, dass Israel im Falle eines Kriegseintritts der Hizbullah »einen hohen Preis verlangen« werde. Dem entgegnete der stellvertretende Hizbullah-Generalsekretär Naim Qassem tags darauf, dass »Israel selbst einen hohen Preis zahlen« werde, denn die Hizbullah befände sich bereits »im Herzen der Schlacht«.
Im Kriegsfall ist die Hizbullah vermutlich in der Lage, mehrere Zehntausend ihrer rund 50.000 Kämpfer zu mobilisieren. Im Verhältnis dazu zählt die Hamas lediglich circa 20.000 Kämpfer im gesamten Gazastreifen. Obwohl die zivile Infrastruktur des Libanons beim letzten Krieg 2006 schwer beschädigt wurde und große Teile Südbeiruts und des Südlibanons zerstört wurden, konnte die Hizbullah Israel schmerzhafte Verluste zufügen. Bei den rund einmonatigen Kämpfen waren auf libanesischer Seite über 1.300 Tote zu verzeichnen, darunter mindestens 250 Hizbullah-Kämpfer sowie rund 4.400 Verletzte; auf israelischer Seite fast 170 Tote, darunter über 120 IDF-Soldaten sowie circa 4.300 Verletzte.
Der Hizbullah steht ein zehnmal größeres Arsenal zur Verfügung als der Hamas
Allerdings hat die Hizbullah seit dieser letzten großen Auseinandersetzung mit tatkräftiger Unterstützung aus Iran ihr Raketenarsenal massiv ausgebaut. Israelische Geheimdienstquellen sprechen von über 150.000 modernen Kurz- und Mittelstreckenraketen – ein zehnmal größeres Arsenal, als es etwa der Hamas zur Verfügung steht. Außerdem kann die libanesische Miliz im Gegensatz zur Hamas auf Langstreckenraketen zurückgreifen, dank derer sie Israels gesamtes Territorium treffen kann. Dazu kommen hochpräzise Lenkflugkörper mit enormer Sprengkraft. Außerdem haben viele Hizbullah-Kämpfer während ihres Kriegseinsatzes in Syrien und bei den dortigen Gefechten gegen die gut ausgerüsteten Dschihadisten des sogenannten Islamischen Staats oder der Nusra-Front weitreichende Kampferfahrungen gesammelt – etwa bei der Schlacht um die libanesisch-syrische Grenzregion Qalamun 2013/14.
Ihre jüngsten Angriffe auf israelische Grenzposten in den Golanhöhen deuten zudem darauf hin, dass die Hizbullah ihr Drohnenarsenal weiter aufgestockt hat, nachdem sie zu einer der ersten nichtstaatlichen Kampfakteuren gehörte, die sich bereits in den frühen 2000er-Jahren der Technologie bedient hatte. Insgesamt stellt die Hizbullah für Israel also eine weitaus größere Gefahr als die Hamas dar.
Aus diesem Grund hat Israel von seinen rund 360.000 einberufenen Reservisten viele an der angespannten 120 Kilometer langen Grenze zum Libanon stationiert. Das israelische Verteidigungsministerium hat die Evakuierung von über 300.000 Israelis aus über 40 Städten, Dörfern und Kibbuzen angeordnet, die im Umkreis von fünf Kilometern um die sogenannte »Blaue Linie« liegen, die von den Vereinten Nationen nach dem Rückzug Israels aus dem Südlibanon im Jahr 2000 festgelegt wurde.
Diese Vorkehrungen verdeutlichen die Explosivität der aktuellen Konfliktlage, die sich als einer der kritischsten Momente seit Jahrzehnten herausstellt. Aus diesem Grund bedarf es jetzt einer breiten internationalen Anstrengung zur Deeskalation des Krieges, sonst kann es durchaus sein, dass auch die bisher limitierten Auseinandersetzungen an der libanesisch-israelischen Grenze in eine unberechenbare Gewaltspirale münden.
Christoph Leonhardt hat an der Universität der Bundeswehr München über radikal-religiöse Gruppierungen im Syrienkrieg promoviert. Er ist Leiter von »Okzident & Orient«, Analyst bei »Middle East Minds« und Associate Fellow beim »Center for Middle East and Global Order« (CMEG) in Berlin.