Basketball erlebt im Libanon einen ungeahnten Aufschwung. Das liegt vor allem an einer Mannschaft, die weiß, für wen sie spielt.
In den Wochen und Monaten vor Beginn der Basketball-Weltmeisterschaft 2023 ist Edy Bouzakhm ein viel beschäftigter und schwer zu erreichender Mann. Und wenn er es dann doch mal schafft, ans Handy zu gehen, legt er fast gleich wieder auf: »Heute ist es schlecht, morgen spielen wir gegen Ägypten«, erzählt der Manager der libanesischen Nationalmannschaft. Danach steht Mexiko, schließlich die Elfenbeinküste auf dem Spielplan in der WM-Vorbereitung.
In diesem Sommer 2023 ist im Libanon allerorts die Vorfreude auf das Turnier spürbar. Tausende strömen zu diesem letzten Testspiel ihrer »Zedern« Mitte Ausgust gegen die Elfenbeinküste in die Nouhad-Naufal-Halle im Beiruter Stadtteil Zouk Mikhail. Und sind danach optimistisch, fast schon euphorisch, obwohl die Partie mit 67-77 verloren geht. Die 27-jährige Miriam hat sich einen Libanon-Schal um die Stirn geschlungen und ins lange Haar geflochten. »Wir haben die härteste Gruppe von allen erwischt«, sagt sie, den Blick weiter aufs Spielfeld gerichtet. »Aber wenn wir so spielen wie im vergangenen Jahr bei den Asienmeisterschaften, könnten wir Lettland besiegen und vielleicht noch eines der anderen Teams.«
Point Guard Wael Arakji, Spitzname »der Furchterregende«, kennen im Libanon jetzt alle
Es war der vielleicht größte Moment in der Geschichte des libanesischen Basketballs: Im Juli 2022 spielt das Team beim »FIBA Asia Cup« in Indonesien ein Wahnsinnsturnier, erreicht das Finale und verliert schließlich nur knapp gegen den damaligen Weltranglistendritten Australien. Wael Arakji, heute 29 Jahre alt, wird zum wertvollsten Spieler des Turniers gekürt und über Nacht zum Nationalhelden im Libanon. Mit der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2023, der ersten seit 13 Jahren, ist der Traum perfekt. Und der 1,92 Meter große Point Guard Arakji, Spitzname »der Furchterregende«, kennen im Libanon spätestens jetzt alle.
Vor der WM in Indonesien, den Philippinen und Japan ziert sein Konterfei unzählige Reklametafeln in Beirut und fast im ganzen Libanon. Mal hält er ein Frischkäsepaket ausgestreckt in die Kamera, mal hängen er und seine Teamkameraden auf einem Plakat als Feiertraube über dem Highway 51, der die Libanesen sowohl in den Norden, als auch den Süden führt. Die Asienmeisterschaften haben aus den Basketball-Nationalspielern des Libanon Stars gemacht, die nicht mehr unentdeckt im Supermarkt einkaufen können.
Edy Bouzakhm schreibt auf WhatsApp: »Wir sind gerade in Jakarta gelandet, morgen letztes Training, ist schlecht.« »Danach?« »Auf jeden Fall.« Und dann, am Tag danach: »Heute ganz schlecht, morgen spielen wir ja dann gegen Lettland.« Also nur eine kurze schnelle Frage: »Wie war die letzte Trainingseinheit, wie ist die Stimmung im Team?« »Sehr gut, wie glauben an uns«.
Das sieht am 25. August, als das libanesische Team zu seinem ersten WM-Spiel gegen Lettland aufläuft, dann allerdings anders aus. Die Mannschaft lässt sich überrollen, bekommt keinen Zugriff aufs Spiel, verwandelt in der ersten Stunde keinen einzigen Drei-Punkte-Wurf und verliert letztlich mit 39 Punkten Rückstand. Immerhin gegen eines der Überraschungsteams des Turniers, das den späteren Weltmeister Deutschland im Viertelfinale beinahe nach Hause schickt.
Edy Bouzakhm geht von jetzt an gar nicht mehr ans Handy. Zu viel um die Ohren, die Konzentration muss hochgehalten werden. Doch der Libanon verliert auch gegen Kanada: 73-128. Das Spiel ist so einseitig, dass manche Libanesen zu schimpfen beginnen. Dabei gehören die Kanadier zu den Turnierfavoriten und gewinnen schließlich gegen die USA die Bronzemedaille.
Zeit für ein Gespräch hat dagegen die Journalistin Rayane Moussallem, dabei berichtet sie fast ununterbrochen über die libanesische Nationalmannschaft, ist die ganze Zeit nah dran. Auf Twitter folgen der 32-Jährigen mehr als 30.000 User, die an dem Tag auch die kritischen Fragen lesen, die sie stellt. »Wir haben in der Vorbereitung gegen kein einziges europäisches Team gespielt«, analysiert sie dann auch im Gespräch.
»Die Spieler teilen den gleichen Schmerz und wollen ein bisschen Freude ins Land bringen«
»Womöglich waren unsere Testgegner zu schwach und haben keinen realistischen Eindruck vom Zustand der Mannschaft vermittelt.« Im gleichen Atemzug übt die Sportjournalistin Nachsicht: »Lettland und Kanada haben einige Spieler mit NBA-Erfahrung im Kader«, sagt sie. »Wer Ahnung von Basketball hat, wusste von Anfang an, dass wir in dieser Gruppe wahrscheinlich nicht weiterkommen.« Dennoch schiebt auch sie ein wenig enttäuscht hinterher: »55 Punkte Rückstand auf Kanada müssen trotzdem nicht sein.«
Die Versöhnung für alle kommt dann schließlich mit dem letzten Gruppenspiel gegen Frankreich. Der Vizeweltmeister und Vize-Olympiasieger hat womöglich viel mehr Grund zur Enttäuschung: Nach zwei Niederlagen steht schon fest, dass die hoch gehandelte »Équipe Tricolore« ebenso den Einzug in die Zwischenrunde verpasst wie die »Zedern«. Für beiden Mannschaften geht es in den kommenden Spielen nur noch um die Platzierung. Zur Halbzeit liegt das libanesische Team deutlich in Front, letztlich geht die Partie gegen den Weltranglisten-Fünften unglücklich mit sechs Punkten verloren.
Wael Arakji ist mit 29 Punkten Topscorer, vor den Kameras fließen im Anschluss bittere Tränen, seine Landsleute in der Halle und vor den Bildschirmen weinen mit. Er sei nicht ohne Grund der beste Basketballer Asiens, twittert Rayane Moussallem und setzt ein Herz dahinter, denn es geht um mehr als nur den sportlichen Wert. Im Gespräch sagt sie später: »Man merkt einfach, wie eng die Spieler mit den Menschen im Libanon verbunden sind. Sie wissen, was es ihnen bedeutet, sie kämpfen und siegen zu sehen«, ist die Sportjournalistin überzeugt. »Die Spieler teilen den gleichen Schmerz und wollen ein bisschen Freude ins Land bringen.«
Der Libanon geht durch eine der schwierigsten Phase seiner Geschichte, die viele Menschen als ernstere Bedrohung als während des 15 Jahre dauernden Bürgerkriegs beschreiben. Die Währung hat 90 Prozent ihres Werts verloren, in Restaurants, vielen Taxis und Geschäften wird mittlerweile öfter in US-Dollar als in Libanesischer Lira bezahlt. Politisch steht das Land einmal mehr still: Seit den Parlamentswahlen im Mai 2022 ist die Regierung nur geschäftsführend im Amt, auch einen neuen Präsidenten hat der Libanon seit dem Auszug von Michel Aoun aus dem Baabda-Palast im Oktober 2022 nicht. Unterhändler des Internationalen Währungsfonds, die seit Jahren mit Regierungsvertretern über Hilfszahlungen im Gegenzug für Reformen beraten, haben die Gespräche mehr als einmal frustriert hingeschmissen.
Das alles erleben die Spieler, die fast alle in der heimischen Liga spielen, am eigenen Leib. Sie kennen das Gefühl, wenn es in der Halle plötzlich dunkel wird, weil der Strom ausfällt. Sie haben miterlebt, wie die größte Explosion seit dem Zweiten Weltkrieg vor wenigen Jahren weite Teile der Hauptstadt verwüstete. Sie müssen mitansehen, wie ihre Eltern das mühsam Ersparte nicht mehr vom Bankautomaten abheben konnten. Um all das für ein paar Minuten vergessen und vielleicht für einen kurzen Moment wieder stolz auf den Libanon sein zu können, dafür spielen sie.
Bei der WM macht das Team nach dem Spiel gegen Frankreich einen selbstbewussteren Eindruck und wirkt befreiter. Die folgenden Platzierungsspiele gegen die Elfenbeinküste und Iran laufen besser und werden beide mit zweistelligem Punktevorsprung gewonnen. Weil aber Japan das Turnier als beste Mannschaft aus Asien abschließt, verpassen die »Zedern« die direkte Qualifikation für die Olympischen Spiele 2024 in Paris. Trotz des durchwachsenen Ergebnisses: Die Libanesen sind stolz auf ihre Mannschaft: Bei den Trikots hat unter Kindern und Jugendlichen in Beirut, Tripoli und Tyros Arakji mehr Konjunktur als Messi.
Einen Monat nach WM-Beginn kehrt Edy Bouzakhm in den Libanon zurück und hat dann auch endlich Zeit für ein Gespräch. Er lädt ein nach Bikfaya, in die Berge nordöstlich von Beirut. In Bikfaya entstand einst in den 1930er Jahren mit der Kata'ib eine der ältesten christlichen Parteien. Doch der Ort blickt auch auf eine lange Basketball-Tradition zurück.
Die Anlage des Vereins »El Aamal« verfügt über Innen- und Außenplätze, auf denen jetzt, Mitte September, Tag und Nacht fast ununterbrochen gespielt wird. Weil es so viele Teams sind, bekommen manche nur den Slot von Mitternacht bis drei Uhr morgens, auch wenn am nächsten Tag Schule ist. Obwohl bei der WM nur Platz 23 von 32 Teams herausgesprungen ist, hält der Basketball-Boom im Libanon seit den Asienmeisterschaften an, der Andrang der Kinder und Jugendlichen in der Halle ist riesig. Auch die Nationalmannschaft habe die Wochen vor der WM hier in Bikfaya trainiert, erzählt der 56-jährige Bouzakhm, ein für libanesische Verhältnisse hochgewachsener Mann mit weißem Haar und blauem T-Shirt, während im Hintergrund Turnschuhe quietschen und Basketbälle gedribbelt, Crossover und Stepback-Dreier ausprobiert werden.
Er weiß um die Erwartungen der Libanesen an sein Team. Denn trotz der derzeitigen Euphorie: Basketball gehört schon seit 25 Jahren zu den beliebtesten Sportarten im Zedernstaat. »Angesichts des großen Interesses sind auch viele dabei, die keine Ahnung vom Sport haben und allein deshalb glauben, dass wir die Weltmeisterschaft gewinnen, weil sie es sich wünschen«, fasst Bouzakhm zusammen. Doch wirklich schlimm findet er das nicht, im Gegenteil: »Die Menschen brauchen so etwas, es gibt ihnen Kraft. Im Fußball haben wir immer nur verloren und im Basketball dann irgendwann mal gewonnen. Das war der Wendepunkt«. Seit 2002 hat die libanesische Nationalmannschaft an vier von sechs möglichen Weltmeisterschaften teilgenommen.
Was seit dem vergangenen Jahr passiert ist, überrascht aber auch Bouzakhm. »Die Spieler sind inzwischen Superstars. Ich bin mal einmal mit ihnen in den Supermarkt gegangen, da waren wir in kürzester Zeit umringt von Menschen, die Selfies mit ihnen machen wollten und ihnen gesagt haben, wie stolz sie auf sie sind.« Auch weil sie sich, anders als andere in ihrer Situation, nicht von libanesischen Politikern vereinnahmen lassen. Als der damalige libanesische Präsident Michel Aoun die Mannschaft nach ihrem Erfolg bei den Asienmeisterschaften in seinen Palast einlud, lehnten sie ab. »Politik spielt bei uns keine Rolle, wir sprechen nicht darüber, genauso wenig wie über Religion«, sagt Bouzakhm.
Im Libanon keine Selbstverständlichkeit. Das Proporzsystem zieht sich nicht nur durch die Posten in der Politik, sondern erstreckt sich auch auf den Sport: Der Präsident der Fußball-Föderation des Landes muss Muslim sein, der des Basketballverbandes Christ. Die beiden größten Klubs heißen Sagesse, gemeinhin bekannt als der Verein der Christen, und Al-Riyadi, wo Wael Arakji spielt, als der der Muslime. »Das geht vielmehr darauf zurück, wer diese Klubs sponsort«, sagt Bouzakhm. »Sagesse hat christliche Sponsoren, Al Riyadi muslimische. Aber natürlich spielen in beiden Klubs sowohl Christen als auch Muslime«.
»Und auch die Fans sind gemischt, das ist längst nicht so gespalten wie früher oder wie von einigen Politikern vielleicht gewollt«, gibt er zu Bedenken Im Nationalteam, das betont er dann noch mehrfach, spiele die Religionszugehörigkeit jedenfalls überhaupt keine Rolle. Mittlerweile weist der Kader mehr Muslime als Christen auf, obwohl Basketball im Libanon traditionell lange als der Sport der Christen galt.
Die Liga musste pausieren, Verträge konnten nicht länger erfüllt, Trainer, Spieler, Physiotherapeuten, niemand mehr bezahlt werden
Akram Halabi steht als Präsident der libanesischen Basketball-Föderation vor. »Alles ist kollabiert: die Banken, die Regierung, das ganze Land. Und der Sport natürlich auch«, sagt er und schiebt dann nach. »Der Basketball war das Licht in unserer dunkelsten Stunde.« Inmitten der Krise, die 2019 ihren Anfang nimmt, von der Corona-Pandemie und der Hafen-Explosion im August 2020 dramatisch verschärft wird, habe eine sympathische, nahbare Truppe aus jungen Menschen, die sich nicht darum scheren, woher sie kommen, ihren Landsleuten Halt gegeben. Nicht nur Wael Arakji, auch Sergio El Darwich, Ali Haidar, Karim Ezzedine, all die anderen, und auch der junge Trainer Jad El Hajj.
Die heimische Liga musste pausieren, Verträge konnten nicht länger erfüllt, Trainer, Spieler, Physiotherapeuten, einfach niemand mehr bezahlt werden. Kein Geld fließt aus dem geschröpften libanesischen Staatshaushalt an die Verbände, bis heute. »Nach wie vor bekommen wir keinen Cent vom Sportministerium. Nichts wurde dort unternommen, um den Basketball am Leben zu erhalten«, wütet Halabi. »Aber als der Erfolg sich trotzdem einstellte, da wollten sie natürlich alle Selfies machen.«
Lange schon ist Halabi der libanesischen Regierung aufgrund solcher Äußerungen ein Dorn im Auge. Als er versuchte, den US-amerikanischen Profi Omari Spellman einzubürgern, um die Qualität der Mannschaft zu steigern, hätten einige Politiker ihm Steine in den Weg gelegt. Letztlich gelang es ihm trotzdem. Halabi ist ein Geschäftsmann, der zu verhandeln und Kontakte zu nutzen weiß. So lockte er zunächst immer wieder libanesische Investoren, die Geld in den Basketball steckten, schließlich auch internationale Konzerne wie Visa und OMT. Nur so überlebt der Basketball im Libanon in diesen Zeiten.
»Wir müssen enger mit den europäischen Verbänden kooperieren«, fordert Verbandschef Halabi
Doch damit er auch eine Zukunft hat, muss viel passieren: Anderswo auf der Welt, in den USA sowieso, aber längst auch beim frischgebackenen Weltmeister Deutschland, ist der Basketball durchprofessionalisiert. Das beginnt bei den Kindern, die in Internaten und Akademien trainieren und möglichst früh auf eine Laufbahn als Profi vorbereitet werden. Dort arbeiten die besten Jugendtrainer, die wiederum entlang fortschrittlichster Standards ausgebildet werden. Auch die finanziellen Unterschiede sind immens: Der letzte WM-Gruppengegner des Libanon, Frankreich, verfügt über ein jährliches Budget von 44 Millionen US-Dollar, beim Libanon sind es 440.000 US-Dollar.
»Deshalb ist es so wichtig, dass wir unsere Denkweise verändern, den Realitäten anpassen«, sagt Halabi. »Wir müssen enger mit den europäischen Verbänden kooperieren, von ihrem Wissen und ihrer Erfahrung lernen. Wir wollen noch mehr europäische und amerikanische Coaches in den Libanon holen, damit sie unsere Trainer ausbilden«, versichert Halabi und fährt fort: »Wir müssen bei den Wettbewerben in den Schulen ansetzen, Talente frühzeitig erkennen und fördern.« Auch im Libanon operierten bereits einige professionelle Akademien, es seien aber nicht genug, viele andere schauten nur aufs Geld.
»In den vergangenen 20 Jahren haben wir uns regelmäßig für die Weltmeisterschaften qualifiziert – wir sind eines der besten Teams in Asien, das beste im arabischen Raum«, sagt Sportjournalistin Rayane Moussallem. »Dann dürfen wir uns aber auch nicht damit abfinden, immer schon in der Gruppenphase zu scheitern. Irgendwann muss es auch weitergehen.« Für den Basketball. Und für den Libanon auch.