Nach der Schwächung der Hizbullah durch die israelischen Militärschläge eröffnen sich dem neuen libanesischen Präsidenten Joseph Aoun Spielräume, einen politischen Wandel herbeizuführen. Eine Schlüsselpersonalie sowie die Besatzung im Süden unterlaufen diese Pläne jedoch.
Das Jahr 2025 begann verheißungsvoll für den Libanon: Am 9. Januar wurde Joseph Aoun vom libanesischen Parlament zum Präsidenten gewählt, eine Woche danach der von ihm favorisierte Premierminister Nawaf Salam von den Abgeordneten des libanesischen Parlaments bestätigt. Joseph Aoun – nicht verwandt mit seinem Vorgänger Michel Aoun – genießt in der Bevölkerung beträchtliches Ansehen, da er zuvor Oberbefehlshaber der libanesischen Streitkräfte war, der vielleicht einzigen Institution des Staates, die parteiübergreifend wertgeschätzt wird.
Vorausgegangen waren 26 Monate, in denen das Präsidentenamt nach Ablauf von Michel Aouns Amtszeit unbesetzt geblieben war – und das, obwohl Joseph Aoun bereits 2022 als Nachfolger gehandelt wurde.
Der Libanon ist derlei politische Hängepartien gewohnt. Bereits 2007 gab es sieben Monate lang keinen Präsidenten; von 2014 bis 2016 dauerte es ganze 29 Monate, das Amt neu zu besetzen. Der BTI-Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung von 2024 beschreibt dies als Folge der Konsens-Ausrichtung des politischen Systems im Libanon – ein Umstand, der in Krisenzeiten das politische Geschehen lähmt, weil die Akteure ihre Macht, die Präsidentschaftswahlen zu blockieren, nutzen, um hinter den Kulissen Zugeständnisse in anderen Fragen zu erzwingen.
Der Libanon ist über die Jahre immer tiefer in eine Art Multi-Krise geschlittert
Beginnend mit dem Zusammenbruch des libanesischen Bankensektors 2019 und der folgenden dramatischen Finanzkrise ist der Libanon infolge der Covid-19-Pandemie, der Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut 2020 und der Abwanderung qualifizierten Personals über die Jahre immer tiefer in eine Art Multi-Krise geschlittert. Als trauriger Tiefpunkt hat 2024 der Krieg Israels gegen die Hizbullah zu flächendeckender Zerstörung im Süden des Libanons geführt und Hunderttausende zur Flucht innerhalb des Landes und ins angrenzende Syrien getrieben.
Woher also kommt die vielversprechende Wendung, gerade zu diesem Zeitpunkt? Der BTI benennt zwei unterschiedliche Konstellationen, in denen sich die politische Elite des Libanons trotz grundlegender Differenzen einige: das Ziel des »kollektiven Überlebens« oder anzuerkennen, dass sich die Realität unwiederbringlich geändert hat. Während bei der Regierungsbildung 2019 das Interesse überwog, die eigenen Privilegien zu bewahren, dürfte es jetzt eher der Wandel regionaler Machtverhältnisse sein, der sich in der Innenpolitik des Libanons niederschlägt.
Allen voran betrifft das die Hizbullah. Unterstützt durch Iran und Syrien konnte sie ihre Macht im Libanon so weit ausbauen, dass sie oftmals treffend als »Staat im Staate« beschrieben wurde. Mit der gezielten Tötung fast ihres gesamten Führungspersonals, einschließlich des Generalsekretärs Hassan Nasrallah Ende September 2024, wurde die Hizbullah maßgeblich geschwächt. Auch wenn die meisten Libanesinnen und Libanesen die Art der Kriegsführung, die auch Tausende Zivilisten das Leben kostete, verurteilen, zeigen sich viele in bilateralen Gesprächen erleichtert darüber, dass die Macht der Hizbullah gebrochen ist. Und auch, wenn das UN-Sondertribunal zur Ermordung des früheren libanesischen Premierministers Rafiq Al-Hariri nicht die Hizbullah an sich schuldig sprach: Sie gilt vielen als verantwortlich nicht nur für dieses Attentat, sondern auch für eine Reihe politischer Morde wie zuletzt am schiitischen Intellektuellen Lokman Slim 2021.
Was die dringend notwendigen Wirtschafts- und Finanzreformen betrifft, blieb der Text des Aktionsplans vage
Die Aussichten der Hizbullah auf ein politisches Comeback verschlechterten sich mit dem 8. Dezember 2024 weiter. An diesem Tag stürzte jählings das Assad-Regime in Syrien, das zuvor als Verbündeter Irans wie der Hizbullah Waffenlieferungen über sein Territorium hinweg gewährleistet hatte.
Die Schwächung der Hizbullah und das Drängen regionaler – Katar, Saudi-Arabien und Ägypten – und internationaler Akteure – allen voran Frankreich und die USA – haben den Weg für Joseph Aouns Wahl im Januar 2025 bereitet.
In seiner Antrittsrede sagte Aoun der organisierten Kriminalität den Kampf an und betonte, dass er die Einmischung der politischen Interessenvertreter in das Justizsystem zurückdrängen werde. Insofern ist es ein ermutigendes Zeichen, dass er mit Nawaf Salam einen Premierminister benannt hat, der zuvor Richter am Internationalen Gerichtshof und zuletzt auch dessen Vorsitzender war. Das Kabinett, das kurz darauf vom Parlament bestätigt wurde, setzt sich überwiegend aus Technokraten zusammen, vorgeschlagen zwar von den politischen Parteien, aber inhaltlich qualifiziert für die jeweiligen Ämter – ein deutlicher Unterschied zu vorherigen Konstellationen, in denen parteiinterne Interessen wichtiger die fachliche Eignung erschienen.
Der Aktionsplan, den das Kabinett vor Salams Amtseinführung vorlegen musste, konzentrierte sich überwiegend auf Fragen der Stabilität und Sicherheit des Libanons in einem regionalen Kontext. Zwar führen die Minister auch das Recht des Libanons auf Selbstverteidigung an, unterstreichen jedoch, dass die Entscheidung über Krieg und Frieden ausschließlich bei der libanesischen Regierung liegen sollte. Das ist im libanesischen Kontext als klare Einschränkung der Macht der Hizbullah zu lesen. Prominent wird ebenso herausgestellt, dass die Regierung UN-Resolution 1701 umsetzen werde, also südlich des Litani-Flusses keine bewaffneten Akteure außer der UN-Mission und der libanesischen Armee zuzulassen. Was die dringend notwendigen Wirtschafts- und Finanzreformen betrifft, blieb der Text vage.
Die fortgesetzte Besatzung Israels stärkt politisch genau jene Kräfte, die damit eigentlich geschwächt werden sollten – insbesondere die Hizbullah
So dämpft die Ernennung von Karim Soueid, unterstützt von der Banken-Lobby, als Gouverneur der Zentralbank am 27. März 2025 die Erwartungen. Gewählt wurde Soueid gegen den Willen das Premierministers von einer heterogenen Koalition, eben weil er verheißt, den Status quo zu wahren. Experten des Think Tanks The Policy Initiative deuten seine Wahl als Zeichen, dass mit ernsthaften Reformen nicht mehr zu rechnen ist. So sieht Soueids Plan vor, kritische staatliche Sicherheiten wie beispielsweise die Goldreserve einzusetzen, um die privaten Banken zu retten, statt diese in die Verantwortung zu nehmen und die dringend notwendige Reform des Bankensektors anzugehen.. Auch der Sender Al-Jazeera charakterisiert Soueid als »Sinnbild der libanesischen Missstände« und zitiert Quellen, die bezweifeln, dass seine Reformvorschläge den Ansprüchen des Internationalen Währungsfonds gerecht werden.
Auch wenn die wesentlichen Weichenstellungen des letzten Jahres einen Hoffnungsschimmer für den Libanon beinhalteten: Das Problem liegt nicht in einer einzigen Partei begründet. Folglich verändert die Schwächung der Hizbullah zwar vieles, nicht jedoch die Korruption und den Klientelismus, von dem die gesamte politische Elite geprägt ist. Weitreichendere Reformen wären dringend erforderlich, sind aber in einem sich selbst reproduzierenden System, in dem keiner als erstes Abstriche an den eigenen Pfründen riskieren möchte, unwahrscheinlich. Wie Sami Atallah und Sami Zoughaib von The Policy Initiative schreiben: Es ist »keine ministerielle, sondern eine systemische Krise«, mit der der Libanon konfrontiert ist.
Eine weitere Schwierigkeit: Die fortgesetzte Besatzung Israels stärkt politisch genau jene Kräfte, die damit eigentlich geschwächt werden sollten – insbesondere die Hizbullah. Das Bekenntnis von Präsident Aoun und den Ministern zur Umsetzung der UN-Resolution 1701, die den vollständigen Rückzug der Hizbullah nördlich des Litani vorsieht, dürfte angesichts der israelischen Militärpräsenz nicht leichter umzusetzen sein, sondern auf mehr Widerstand vor allem bei der Bevölkerung im Süden treffen. Während die regionalen Machtveränderungen kurzfristig neue Möglichkeiten im Libanon eröffnet haben, stehen sie gleichzeitig einem tatsächlichen Neuanfang auch im Wege.
Dr. Bente Scheller übernahm im September 2019 die Referatsleitung Nahost und Nordafrika der Heinrich-Böll-Stiftung. Von 2012 bis 2019 leitet sie das Büro der Stiftung in Beirut.