Israels Krieg trifft die Menschen im Libanon mit voller Wucht – und lässt sie angesichts des Schulterzuckens im Westen wütend und ratlos zurück. Weil er jeden treffen kann, stellt der Krieg die Solidaritätsbereitschaft auf die Probe. Dahinter steckt auch ein Kalkül der Regierung Netanyahu.
Fünf Nächte in Folge war es in Beirut ruhig geblieben. Für die völlig übermüdeten Menschen in der Hauptstadt, die nächtliche Luftangriffe mittlerweile fast gewohnt sind, die mal 17, mal 35 Mal in der Nacht hochschrecken oder sich nur noch mit Schlafmitteln beruhigen können, bedeutete das, zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einigermaßen durchzuschlafen. Neue Kraft zu schöpfen für all das, was, davon sind alle überzeugt, was noch kommen wird.
Es ist Mitte Oktober, seit einem Monat tobt im Libanon der Krieg gegen Israel. Familie Qanso, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, schon gar nicht in einer deutschen, fährt an einem Morgen nach einer der ruhigeren Nächte zum ersten Mal seit der Tötung von Hizbullah-Generalsekretär Hassan Nasrallah wieder in die Dahiye, die südlichen Vororte Beiruts. Damals, es kommt den Menschen im Libanon so viel länger vor als drei Wochen, explodieren kurz vor Sonnenuntergang Bomben mit 85 Tonnen Sprengkraft, nur zwei Häuserreihen vom Haus der Familie entfernt. Fensterscheiben zerbersten, auch das Auto des Sohnes bekommt etwas ab. Familie Qanso war noch dortgeblieben, trotz der »gezielten« Tötungen von hochrangigen Hizbullah-Funktionären in unmittelbarer Nachbarschaft, die bis dahin bereits das Leben Dutzender Zivilisten gefordert hatten.
Jetzt verstehen sie: Bleiben ist unmöglich, sie würden damit ihr Leben riskieren. Hastig packen sie an diesem Abend ein paar Habseligkeiten zusammen, hechten ins Auto, nichts wie weg aus der Dahiye. Die seitdem mit nächtlichen Luftangriffen überzogen wird.
Fatima Qanso, ihr Ehemann und der 31-jährige Sohn leben jetzt bei Verwandten in Tarik Jdeide, noch immer südliches Beirut, aber innerhalb der Stadtgrenzen, nicht mehr in der Dahiye. Doch auch in diesen Grenzen hat die israelische Armee schon bombardiert: im Viertel Cola, dann im zentralen Bachoura, und schließlich in Ras Al-Nabaa und Basta, in unmittelbarer Nähe zu Achrafieh, dem überwiegend christlichen Viertel, das als das sicherste gilt. Es sollen diese Angriffe gewesen sein, die Libanons Premierminister Najib Mikati dazu veranlasst haben, die Bemühungen mit den USA zu intensivieren, um von Israel ein Ende der »willkürlichen Bombardierungen Beiruts« zu verlangen. Danach sagte Mikati, er habe jetzt »eine Art Garantie«.
Allein an diesem Tag tötet die israelische Armee bei Luftangriffen 570 Menschen, mehr als 150 von ihnen Frauen und Kinder
An diesem Morgen Mitte Oktober setzen sich die Qansos mit einem mulmigen Gefühl ins Auto des Sohnes, an dem noch immer eine Glasscheibe fehlt. Sie wissen nicht, ob ihr Haus noch steht. Bei jeder Bombe, die fällt, wandert die bange Frage durch ihre Gedanken: Hat es jetzt unser Zuhause getroffen, mit all den Erinnerungen, mit alldem, was unser Leben ist? Aber sie benötigen bald wärmere Kleidung, festes Schuhwerk, irgendwann auch die Wintersachen. Noch ist es schön in Beirut, der Wind sanft, die Luft viel klarer als im Sommer. Doch niemand glaubt, dass das hier bald vorbei ist, und diese leiseren Tage in Beirut, sie wirken eher wie eine trügerische Ruhe vor dem nächsten Sturm. Die vergangenen Wochen haben allen im Libanon gezeigt, wie sich innerhalb von wenigen Tagen ihre ganze Welt ändern kann.
Am 23. September, keine Woche nach dem Angriff auf Tausende Pager und Walkie-Talkies der Hizbullah, weitet die israelische Armee ihren größtenteils im Südlibanon eingehegten Krieg gegen die Miliz fundamental aus. Allein an diesem Tag tötete sie bei Luftangriffen 570 Menschen, mehr als 150 von ihnen nach Angaben libanesischer Behörden Frauen und Kinder. Es ist der tödlichste Tag für den Libanon seit dem Ende des Bürgerkriegs 1990. Israel ist der Aussage seines Verteidigungsministers Yoav Gallant zufolge in eine »neue Phase des Krieges« eingetreten, deren Hauptziel es sei, Zehntausenden Israelis, die seit dem Beginn des Beschusses durch die Hizbullah am 8. Oktober vertrieben wurden, die Rückkehr in ihre Häuser an der Nordgrenze zum Libanon zu ermöglichen. Nach der Nasrallah-Tötung trifft es auch Beirut immer häufiger, am heftigsten aber weiterhin große Teile des Südens sowie die östliche Bekaa-Ebene.
2.412 Tote zählt das libanesische Gesundheitsministerium Mitte Oktober, nach einem Jahr Krieg. Der weit überwiegende Teil davon wurde jedoch nach dem 17. September getötet, 1.500 innerhalb von gerade einmal zwei Wochen.
Für Familie Qanso ist die Fahrt in die Dahiye gut gegangen, eine Menge Fotos und die warme Kleidung haben sie aus dem Haus herausgeholt. Das noch steht. Doch die Zerstörung drumherum gehört jetzt genauso zum Straßenbild wie die streunenden Katzen, die sich durch die dicken Rußschichten tasten. Den zwei Söhnen und der Tochter im Ausland schicken sie Bilder und Videos von dem Ort, an dem sie alle aufgewachsen sind und bei dem sie sich heute jedes Mal aufs Neue fragen, ob es jetzt das letzte Mal ist, dass sie ihn sehen.
Die Hilfsbereitschaft hat Risse. Denn die Menschen haben Angst, dass es auch sie selbst jetzt jederzeit und überall treffen kann
Und doch ergeht es Familie Qanso, wie sie selbst sagt, noch besser als vielen anderen, die nicht bei Freunden oder Verwandten unterkommen können, sondern an der Corniche schlafen, anfangs einfach im Freien, mittlerweile in Zelten, die wie an einer Perlenschnur aufgereiht von einem zum anderen Ende reichen. Andere campieren an den Stränden der Stadt, wieder andere wurden von den Treppen der Muhammad-al-Amin-Moschee im Zentrum oder anderen vermeintlich öffentlichen Plätzen, die jetzt mit Zäunen umrandet sind, vertrieben.
Der Großteil der Bewohner in den nördlichen Regionen des Landes, so ist der Eindruck im Libanon, habe seinen Mitbürgern aus dem Süden solidarisch und bereitwillig die Türen geöffnet. Trotzdem ist dieses Mal etwas anders als beim letzten Krieg mit Israel 2006 oder auch nach der verheerenden Hafenexplosion im August 2020: Die Hilfsbereitschaft hat Risse. Denn die Menschen haben Angst, dass es auch sie selbst jetzt jederzeit und überall treffen kann. Dass sie am Ende dafür bestraft werden, anderen geholfen zu haben, sie selbst und ihre Familien Opfer werden. So werden auch in anderen Landesteilen mit christlichen und sunnitischen Mehrheiten oder etwa im drusischen Schufgebirge Einrichtungen attackiert, in denen Menschen aus dem Süden Schutz gesucht haben, darunter das deutsch-libanesische Begegnungszentrum »Dar Assalam«, wo sechs Menschen sterben.
Auf diese Weise, so fürchten viele, solle das Misstrauen gegen die Menschen aus dem Süden, Schiiten hauptsächlich, geschürt und so mehr Druck von innen auf die Hizbullah ausgeübt werden. Dass sich in dem ohnehin sektaristischen Land die alten Gräben vertiefen, das Misstrauen gegeneinander stetig und beharrlich wie ein Wasserpegel ansteigt, bis es irgendwann als große Welle über das Land rollt.
Fatima Qanso möchte nicht nach Achrafieh, wo sie in einer Wohnung am zentral gelegenen Sassine-Platz unterkommen könnten. Aus Angst vor den Lebanese Forces, wie sie sagt, dem Haupt-Gegenspieler der Hizbullah im Libanon, christlich, rechts. Viele sagen: rassistisch, anti-muslimisch. Fatima trägt schwarz und das Kopftuch so wie die schiitischen Frauen aus dem Süden. Es zeigt, wem sie sich zugehörig fühlt – gewählt hat Fatima die Hizbullah bei den letzten Wahlen 2022 allerdings nicht. Zu enttäuscht sei sie von deren innenpolitischem Wirken gewesen, mittlerweile genauso korrupt wie alle anderen, Teil des Establishments, das den Libanon sehenden Auges in den Abgrund manövriert hat. Doch scheint Israels Führung es darauf anzulegen, die Grenzen zwischen Hizbullah-Militär, Partei, sozialem Geflecht, Unterstützern, Mitläufern und einfach jenen, die sich nicht aktiv gegen die Hizbullah stellen, immer mehr zu verwischen.
Wie kann es sein, dass ihr in Deutschland nicht sehen wollt, was wir euch zeigen: Häuserblocks in Beirut, die dem Erdboden gleichgemacht, ganze Familien ausgelöscht
Häufiger hört man jetzt von Vermietern in christlichen Gegenden, die sich weigern, Vertriebene aus dem Süden aufzunehmen – und sei es aus der nachvollziehbaren Sorge, dass Israel schlicht behaupten könnte, Hizbullah-Kämpfer würden sich jetzt überall im Land verstecken, inmitten der »ganz normalen« libanesischen Bevölkerung, die Benjamin Netanyahu jüngst unumwunden ansprach: »Befreit« ihr euch nicht von der Hizbullah, droht euch die gleiche Zerstörung, das gleiche Leid wie in Gaza. Die Libanesen übersetzen: Tötet ihr euch nicht gegenseitig, dann bringen wir euch um.
Dass sich die internationale Gemeinschaft auch angesichts solcher Äußerungen nicht bewegt, entsetzt sie, und es macht ihnen Angst: das willkürliche Bombardieren von Wohnhäusern, von Rettungspersonal, das zu den Einschlagsstellen rast, von Einrichtungen, in denen Vertriebene untergebracht sind, von ganzen Dörfern mit all ihrer Tradition und Kultur – es erinnert sie an die Bilder und Geschichten aus Gaza.
1,3 Millionen Menschen sind innerhalb des Libanon auf der Flucht, Hunderttausende nach Syrien geflüchtet. Noch operiert der Beiruter Flughafen, doch nur die libanesische Middle East Airlines fliegt noch. Viele Libanesen, die können, haben das Land verlassen, die meisten Ausländer ebenfalls. Auch die meisten Angestellten der deutschen Botschaft und der politischen Stiftungen. So nah man sich ansonsten ist, so tief verlaufen auch innerhalb von Teams jetzt die Risse entlang der Pass-Farben, spürbar besonders dann, wenn die einen im Zoom-Meeting zusammenschrecken, weil israelische Jets die Schallmauer durchbrechen, und die anderen weiter ihren Kaffee schlürfen.
Die libanesischen Kollegen fragen ihre deutschen: Wie kann es sein, dass »eure« Außenministerin ausgerechnet an dem Tag im deutschen Parlament ihre unverbrüchliche Unterstützung mit Israel versichert, da Bilder von Menschen um die Welt gehen, die in Gaza bei lebendigem Leib verbrennen? Die nicht fliehen konnten, weil sie an überlebenswichtige Geräte angeschlossen waren. Wie sie stolz daran erinnert, auch vor den Vereinten Nationen noch einmal darauf hingewiesen zu haben, dass zivile Orte »natürlich« auch ihren Schutzstatus verlieren, wenn »Terroristen sie missbrauchen«, und dann hinterher schiebt: Dafür steht Deutschland.
Wie kann es sein, dass ihr in Deutschland nicht sehen wollt, was wir euch zeigen, die Bilder von zerstörten Häusern in Gegenden des Libanon, in denen die Hizbullah überhaupt nicht präsent ist, wie jüngst in der nördlichen Stadt Aitou, wo 27 Menschen getötet werden? Von Häuserblocks in Beirut, die dem Erdboden gleichgemacht, dabei ganze Familien ausgelöscht, aber keine Hizbullah-Vertreter getötet werden?
Wie können selbst eure erfahrensten Journalisten blindlings glauben und folgen, wenn sie von der IDF in den Südlibanon »eingeladen« werden, um Hizbullah-Waffenlager in zivilen Wohnhäusern zu präsentieren, mit denen sie seit Anbeginn des Krieges auch die permanenten Angriffe auf zivile Infrastruktur begründet?
Niemand aus der Familie ist mehr dort, und doch schmerzen auch die Bilder aus Nabatiyeh, des zerstörten Marktplatzes und der osmanischen Gebäude
Nachrichten bleiben ja nicht an Ländergrenzen haften, sie brennen sich durch die Social-Media-Kanäle der ganzen Welt, werden in Sekundenschnelle ins Englische oder Arabische übersetzt, also fragen die Kollegen auch, wie es eigentlich sein kann, dass der deutsche Bundeskanzler an dem Tag weitere Waffenlieferungen nach Israel ankündigt, da Stellungen der UN-Friedensmission (UNIFIL) bombardiert werden, wo ja auch deutsche Soldaten stationiert sind.
Sie wundern sich, wenn sie lesen, die Grünen hätten sich als Teil der Bundesregierung von Israel schriftlich versichern lassen, dass gelieferte deutsche Waffen nicht für einen Völkermord eingesetzt würden, eine sogenannte Genozid-Klausel. Wie sie dann gleichzeitig behaupten könnten, es sei antisemitisch, Israel einen solchen Vorwurf zu machen. Glauben die Deutschen nun an einen Völkermord, und, falls ja, sind sie dagegen – oder sind nur besorgt, dass ihre Waffen dabei zum Einsatz kämen?
Wenn schon die Bilder für euch nicht reichen, dann vielleicht die Zahlen, fragen die Kollegen und Freunde, und täglich kommen Dutzende Tote und Verletzte hinzu. Etwa in Nabatiyeh, einer großen und traditionsreichen Stadt im Süden, in der die israelische Armee das Gemeindezentrum angreift, wo sich Freiwillige versammelt und Hilfsgüter für Vertriebene gehortet hatten, und wo das Zentrum jetzt in Trümmern liegt. 16 Menschen sterben, darunter Nabatiyehs Bürgermeister. Familie Qanso stammt ursprünglich aus Kfar Remen, ganz in der Nähe. Niemand aus der Familie ist mehr dort, und doch schmerzen auch die Bilder aus Nabatiyeh, des zerstörten traditionellen Marktplatzes und der spektakulären Gebäude aus osmanischer Zeit, fast so, als würde man um einen Menschen trauern, den man sehr lange kannte.
Weniger als 24 Stunden nach den Worten von Premierminister Najib Mikati, der vermeintlichen Garantie der USA, greifen israelische Kampfflugzeuge dann auch wieder die Dahiye an. Um 6 Uhr in der Früh ist es für Familie Qanso mit dem Schlaf vorbei. Für wie lange dieses Mal, das wissen sie nicht.