Lesezeit: 9 Minuten
Flucht aus dem Libanon nach Syrien

Lost Highway

Feature
Flucht aus dem Libanon nach Syrien

Seit Anfang Oktober sind mehrere hunderttausend Menschen aus dem Libanon nach Syrien geflohen. Die meisten sind UN-Angaben zufolge Syrer, die vor Jahren im Nachbarland Schutz vor der eigenen Regierung gesucht hatten. Jetzt ziehen Zehntausende in den Norden Syriens weiter: Sie wollen in die Oppositionsgebiete. Doch die sind längst überfüllt

Der syrische Sommer endet an der Bürotür des Militär-Kommandanten. Drinnen brummt die Klimaanlage. Auf einem Tisch stehen kleine Tassen mit dampfendem Kaffee. Scheich Jamal nimmt einen Schluck und fängt an zu erzählen: »Jeden Dienstag kommen Migranten in Bussen an, neulich waren es 700.« Er ist zuständig für diesen Ort: Dscharabulus, eine Oppositions-Stadt am Euphrat in Nordsyrien. »Die Menschen werden aus den Regime-Gebieten hergebracht«, sagt der Kommandant.

 

Dscharabulus und andere Orte unter Kontrolle der Anti-Assad-Kräfte sind umgeben von Fronten. Wichtigste Ortsmarke ist eine strategische Schnellstraße. Sie trägt den schmucklosen Namen M4 und windet sich über mehr als 800 Kilometer parallel zur türkischen Grenze vom Mittelmeer im Westen bis zum Irak im Osten. Die Straße fungiert als eine Art innersyrische Grenze: Auf der nördlichen Seite liegen vor allem Oppositionsgebiete, im Süden sind Truppen des Regimes von Baschar Al-Assad, vom Iran unterstützte Verbündete sowie kurdische Milizen präsent. Entlang der Südseite patrouillieren an manchen Stellen Russen.

 

Auch die Busse nach Dscharabulus müssen über die M4. Bei der Stadt Manbidsch im Nordwesten passieren sie den einzigen Übergang für die Zivilbevölkerung. Gespräche über die Öffnung einer zweiten Passage scheiterten Angaben von Menschen vor Ort zufolge erst vor Kurzem – wegen des Widerstands der Schlepperbanden. Sie schmuggeln jede Nacht hunderte Migranten an den russischen Streckenposten vorbei.

 

Hunderte, die nach Familienbesuchen zurückreisten, wurden in den Regimegebieten verhaftet

 

Die vom Regime organisierten Bustouren sind quasi die einzige Möglichkeit, legal in die Oppositionsgebiete zu reisen. Das Angebot ist neu und richtet sich an Menschen, die ihre Verwandten im Norden besuchen wollen. »Es sind vor allem Frauen und Kinder«, erklärt der Kommandant in Dscharabulus. Die meisten kehren aber nicht zurück. Sie bleiben oder versuchen, nach Europa weiterzureisen.

 

Die Angst vor dem Assad-Regime und dessen Schergen ist allgegenwärtig. Um nicht von den Truppen aufgegriffen zu werden, fliehen manche Menschen über den benachbarten Libanon in die nordsyrischen Oppositionsgebiete. Dort erzählen sie vom ihren Alltag in den Gebieten unter Regime-Kontrolle, von Attentaten, Entführungen, Festnahmen und Willkür. Auch die staatlichen Bustouren in den Norden sind einigen Medienberichten zufolge eine Falle. Hunderte, die nach Familienbesuchen zurückreisten, wurden in den Regimegebieten verhaftet. »Weder Assad noch die SDF wollen diese Menschen«, sagt der Kommandant in Dscharabulus.

 

Bevor die Busse bei ihm ankommen, müssen sie die Gebiete der »Demokratischen Kräfte Syriens« (SDF) durchqueren: Den Zusammenschluss arabischer Stammesmilizen mit kurdischen Einheiten führen die sogenannten Volksschutzeinheiten (YPG) – ein Ableger der in vielen Ländern als Terrororganisation gelisteten PKK. De facto sind SDF und YPG mittlerweile so etwas wie Verbündete des Regimes. Ihre Truppen würden die Busse eskortieren, sagt der Kommandant. »Sie wollen sichergehen, dass niemand aussteigt und bei ihnen bleibt.« Er zieht die Augenbrauen hoch, seufzt und schweigt.

 

Abschiebefahrten nennen manche Bewohner diese Bustouren. Dabei kommen in Dscharabulus und anderen Oppositionsstädten auch ohne Busse jeden Tag Binnenflüchtlinge an. Hunderte. Seit Jahren. »Klein-Syrien« nennen die Bewohner die Gegend nördlich der M4. Für sie liegt hier das echte und richtige Syrien. Mehr als 80 Prozent der Binnenflüchtlinge im Land leben im Norden. Allein nach Ra's Al-Ain, einer Kleinstadt unter Oppositionskontrolle im Nordosten, seien in den vergangenen vier Jahren etwa 200.000 Menschen durchgekommen, sagt der Vizepräsident des örtlichen Gemeinderats, Hussein Al-Raad. »Viele hier sind auch vor den SDF geflohen«.

 

Mehr als 80 Prozent der Binnenflüchtlinge in Syrien leben im Norden

 

Die Einheiten der SDF sind eine wichtige Macht in Nordostsyrien. In den Jahrzehnten zuvor hatte die kurdische Minderheit in Syrien unter dem arabisch-nationalistischen Baath-Regime zu leiden. Zu Beginn des Krieges im Jahr 2011 erhoben sich auch kurdische Gruppen gegen Assad. Der rettete sich mit einem Deal. Die erdölreichen Gebiete im Nordosten und entlang der Grenze zur Türkei wurden kurdischen Milizen der späteren SDF überlassen. So geschehen in Hasaka, Kobane/Ain Al-Arab oder Afrin: Grenzposten, Polizeistationen und Waffen inklusive. Im Gegenzug fand die Revolution dort nicht mehr statt.

 

Seit langem vollzieht sich ein Exodus aus diesen Gebieten. Hauptziel sind die Hochburgen der Opposition etwas weiter westlich. Wer es schafft, erzählt von den schlechten Lebensbedingungen unter den kurdischen Machthabern: Geringe Beschäftigungsaussichten, wirtschaftliche Not, Benzinmangel trotz eigener Erdölvorkommen und ein Lehrplan in den Schulen, der von PKK-Gedankengut durchsetzt sei. Viele Flüchtlinge berichten auch von Zwangsrekrutierungen. Von Jugendlichen, die aus Gegenden wie Deir Al-Zur in PKK-Camps in den Kandil-Bergen verschleppt werden. Von Nachbarn, die willkürlich verhaftet werden und von Kindern, die plötzlich verschwinden. Selbst Mädchen würden zum Waffendienst gezwungen, erzählen die Flüchtlinge.

 

»Wir wollen leben«, sagt eine junge Frau in Ra's Al-Ain. Sie ist neu hier, hält ein Kind auf dem Arm, ein anderes an der Hand. Die letzten Wochen hätten sie sich aus Angst in ihrer Wohnung in Hasaka verschanzt. Auf der Polizeiwache der Kleinstadt erzählen junge Männer ähnliche Geschichten. Die meisten kommen aus dem nordöstlichen Deir Al-Zur und warten auf ihre Vernehmung: Die Polizei in den Oppositionsgebieten prüft, ob sie wirklich Flüchtlinge sind oder von kurdischen Milizen oder Islamisten eingeschleust wurden. »Wir wollten nicht zwangsrekrutiert werden«, sagt einer. Die Angst davor sei größer als die vor den Gefahren der Reise nach Ra's Al-Ain, meint ein anderer. »Auf der Schmuggelroute kann alles passieren, auch der Tod, das ist normal.«

 

Für die Menschen vor Ort bedeuten die ambivalenten Allianzen ein Leben im permanenten Krisenmodus

 

Die Vorwürfe gegen SDF und YPG wiegen schwer. Nachfragen an die lokalen Behörden bleiben unbeantwortet. Dass so viele Menschen wegwollen, passt nicht in das Bild vom Friedensprojekt, das sie nach eigenen Angaben aufgebaut haben. Paritätisch, gerecht und ökologisch bewusst sei demnach das Leben in den kurdischen Gebieten neu aufgestellt worden. Die zugrundeliegende Ideologie bleibt aber streng marxistisch-leninistisch geprägt. Gerade in Europa verfängt ihr romantisches Narrativ vom unbeugsamen Freiheitskampf der Kurden. »Rojava« bedeutet auf Kurdisch »Sonnenuntergang« und ist ihre Bezeichnung für die autonom verwaltete Region. Die im März 2016 ausgerufene »Demokratische Föderation Nordsyrien« ist bislang aber von keinem Staat der Welt anerkannt worden.

 

Erklärter Hauptfeind der kurdischen Einheiten ist die Türkei. Sie fährt seit Jahren Militäroperationen gegen die Stellungen der SDF und YPG und hat sich eine Präsenz im strategisch wichtigen Nordsyrien gesichert. Aus Sicht Ankaras sind die kurdischen Einheiten Terroristen, die bekämpft werden müssen. Manche arabische Stammesführer, die von kurdischen Einheiten aus ihrer Heimat vertrieben wurden, hatten sich für eine Intervention des Nachbarstaats ausgesprochen. Erst als die Türkei ein paar Ortschaften im SDF-Gebiet eroberte, konnten einige von ihnen zurückkehren. Die Rede ist von 20.000 allein in der Stadt Tal Abyad, ein weiterer Ort in den Oppositionsgebieten. Die Zahl lässt sich allerdings kaum überprüfen.

 

Für die kurdischen Machthaber kommen die türkischen Operationen Menschenrechtsverstößen gleich. Ihre Hilferufe an den Westen verhallen allerdings regelmäßig. In Nordsyrien haben SDF und YPG jedoch mächtige Verbündete: Sie kooperieren mit den Russen, den Iranern und dem Assad-Regime. Bei Qamischli teilen sich Moskau und Einheiten der schiitischen Miliz Hizbullah einen Flughafen, in den Gebieten etwa bei Tal Rifat wehen iranische Flaggen. Anderswo hat die Hizbullah mehrere kleine Basen aufgebaut. Wegen der schlechten Lebensbedingungen dort haben die Islamisten leichtes Spiel, verarmte Anwohner zu rekrutieren. 

 

Parallel dazu sind SDF und YPG aber auch mit den Amerikanern verbündet. Ursprünglich waren sie für Washington wichtige Proxys im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS). In den vergangenen Monaten ließen die Kurden aber Dutzende IS-Kämpfer aus den Gefängnissen frei – sie fühlten sich von den westlichen Verbündeten mit der Mammutaufgabe im Stich gelassen. Seit etwa zwei Jahren häufen sich die Attentate wieder: auf SDF-, Regime- oder iranische Stellungen.

 

Für einen Großteil der Migranten sind die Oppositionsgebiete deswegen nur eine Zwischenstation. Sie sparen Geld für Schlepper

 

Für die Menschen vor Ort bedeuten die ambivalenten Allianzen ein Leben im permanenten Krisenmodus. Nordsyrien ist quasi komplett durchmilitarisiert. Die Oppositionsgebiete sind überfüllt. Den Menschen droht dort zwar keine Zwangsrekrutierung, einfach ist ihr Leben aber nicht. Die militärische Macht hat die Syrische Nationalarmee (SNA) inne. Sie wird von der Türkei finanziert und gliedert sich in zum Teil rivalisierende Brigaden. Manche sind in Schmugglergeschäfte involviert. Ihnen werden Menschenrechtsverletzungen und organisierte Kriminalität vorgeworfen.

 

Es fehlt zudem an Wohnraum. Fast zwei Millionen Menschen leben in Zelten. Der Krieg und das Erdbeben im Februar 2023 haben viele Wohnungen zerstört. Andere Häuser, vor allem die von kurdischen Syrern und Ländereien von Christen sind von Anhängern der SNA besetzt. Sie argumentieren mit ausgleichender Gerechtigkeit, nach dem Motto: »Ich brauche die Unterkunft, denn die SDF hat mein Haus besetzt.«

 

Für einen Großteil der Migranten sind die Oppositionsgebiete deswegen nur eine Zwischenstation. Sie sparen Geld für Schlepper. Für rund 11.000 US-Dollar bringen die sie erst in die Türkei und dann nach Deutschland oder in die Niederlande. Einer der meistgefragten Orte für den illegalen Übertritt in den Nachbarstaat ist Ra's Al-Ain. Fast in jeder Nacht sind Schüsse aus dem Grenzstreifen zu hören. Türkische Wachposten und Schlepper feuern in die Dunkelheit. Und manchmal treffen sie einen Menschen.

Von: 
Rena Netjes und Marion Sendker

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.