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Tuareg in Mali

Frieden durch Teilhabe

Analyse

Das Kriegsende in Mali ist noch nicht in Sicht, die Lage der Tuareg bleibt aber eine entscheidende Zukunftsfrage. Doch würde ein eigener Staat die Probleme des Wüstenvolkes lösen? Und wer repräsentiert die Tuareg eigentlich?

In der Tuareg-Kultur ist die »versunkene Oase Gewas« ein wichtiges Symbol. Sie steht für die Sehnsucht nach einer vollkommenen, paradiesischen Welt voller Reichtümer und Überfluss. Eine solche haben die Tuareg nie gehabt. Die lang anhaltende Perspektivlosigkeit im abgelegenen Norden hat ihnen den Eindruck verschafft, dass eine nationale Regierung ihnen keine Vorteile bringt. Es fehlten Aussichten auf wirtschaftliche Entwicklung und Beschäftigung. Um selbst für eine bessere Zukunft zu sorgen, griffen viele Tuareg zu den Waffen.

 

Im 11. Jahrhundert von arabischen Beduinen aus dem libyschen Fezzan vertrieben, von den französischen Kolonialisten und danach von den afrikanischen Verwaltungen der unabhängigen Staaten marginalisiert, von sesshaften (schwarzen) Feldbauern erneut verdrängt, schließlich von Dürrekatastrophen in den 1970er und 1980er Jahren beinahe ausgelöscht, wanderten viele Tuareg nach Libyen aus. Die ehemaligen Gaddafi-Söldner wurden nach dessen Sturz 2011 in Folge des Bürgerkriegs wieder aus Libyen vertrieben und kehrten schwer bewaffnet zurück in Richtung Niger und Mali. In Nordmali brachte die MNLA weite Gebiete unter ihre Kontrolle, bevor sie dort im April 2012 von den Islamisten wieder verdrängt wurde.

 

Die Tuareg blicken auf Jahrhunderte der Vertreibung und Marginalisierung zurück. Und die versunkene Oase Gewas bleibt Imagination. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die Tuareg immer wieder ausgeschlossen und vertrieben wurden und wiederholt um das Recht kämpften, als freies Volk anerkannt zu werden. Ein Rückblick macht aber auch deutlich, dass es eigentlich nicht um einen eigenen Staat der Tuareg geht, den sie inzwischen auch gar nicht mehr einfordern. Es geht um Autonomie und Selbständigkeit. Vor allem aber dreht es sich um Fragen der Identität, Anerkennung und Entwicklungsperspektiven.

 

Politische und wirtschaftliche Marginalisierung trieb die Tuareg in die Rebellion

 

1960 wurde das Siedlungsgebiet der Tuareg zwischen den jetzt unabhängigen Staaten Mali, Niger und Algerien aufgeteilt, kleinere Gruppen leben auch in Libyen und Burkina Faso. Staatsgrenzen wurden dabei ohne Rücksicht auf natürliche Grenzen, Kulturen und Ethnien gezogen. Plötzlich sollten die Tuareg ihre Herden nicht mehr frei durch die Wüste ziehen lassen, was sie allerdings weiterhin taten. Die Grenzen in der Sahara und im Sahel waren und sind schwer kontrollierbar. Im selben Jahr übertrugen die Franzosen sämtliche Verwaltungsaufgaben an afrikanische Beamte.

 

Die Tuareg wurden dabei jedoch nicht einbezogen. Dies führte die enttäuschten Tuareg in eine tiefe politische Krise, denn plötzlich wurden sie von denjenigen beherrscht, die sie zuvor beherrscht hatten, ihren ehemaligen Sklaven. Auch bei der Vergabe von Bodenrechten wurden die Viehwirte nicht mitbedacht: Nach der Unabhängigkeit des Niger wurden große Landflächen amtlich an sesshafte Ackerbauern verteilt, darunter die ehemaligen Tuaregsklaven. Diese hatten ihren Regenfeldbau längst ausgeweitet und die Tuareg aus ihren Weidegründen verdrängt. Unterstützt wurden die Feldbauern ab 1961 zudem durch staatliche Förderprogramme, Brunnenbauprojekte und veterinärmedizinische Kampagnen.

 

Die Folge waren zunehmend gewaltsame Konflikte, so die erste Tuareg-Krise von 1950 bis 1960. Die nächste Krise zwischen 1960 und 1964 war politischer Natur. Die Staatsgewalt der unabhängigen Länder lag nun in den Händen der schwarzafrikanischen Bevölkerungsmehrheit, und die Tuareg fanden immer weniger Gehör in den Machtzentren der Elite. Die Steuern auf Vieh wurden erhöht und der Handelspreis künstlich gesenkt. Damit kam der Viehhandel der Tuareg zum Erliegen, es folgte die erste Tuareg-Rebellion von 1961 bis 1964.

 

Die Integration in den 1990er Jahren blieb an der Oberfläche

 

Die dritte Krise wurde durch Dürrekatastrophen und dadurch verursachtes Viehsterben ausgelöst. Die Tuareg flohen nach Algerien und Libyen sowie in die Stadtzentren Malis und Nigers. Hungersnöte brachen aus, Massensterben und Verelendung folgten. Die Abhängigkeit von internationalen Spendenaktionen war die Folge. Als Söldner an der Grenze zu Algerien verdienten die Tuareg nun ihr Geld, indem sie von der sozialistischen Regierung subventionierte Produkte nach Mali schmuggelten und dort verkauften. Umgekehrt belieferten sie Südalgerien mit Fleisch.

 

Viele Tuareg trieb dann die Massenarbeitslosigkeit in Flüchtlingslager nach Libyen, wo sie militärisch instrumentalisiert wurden: Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi rekrutierte unter den Tuareg Söldner, die in Kriegsgebieten wie dem Tschad, Libanon und Sri Lanka eingesetzt wurden. Ebenso profitierte die sahrawische Rebellenorganisation POLISARIO von ihnen. Die dabei erworbene Kampferfahrung kam den Tuareg zugute, als sie 1990 ihre zweite Revolte starteten. Während dieser vierten Krise warfen die Tuareg ihren jeweiligen Regierungen Unterdrückung und Ausgrenzung vor, forderten politisch-institutionelle Mitspracherechte und Wohlstandsbeteiligung ein.

 

Unterrepräsentiert und marginalisiert durch die seit Ende der 1980er Jahre vorherrschende Einparteienlandschaft der dominanten Völker der Bambara in Mali und der Djerma im Niger, erhoben sich die Tuareg zur so genannten Gastarbeiterrevolte: 1991 und 1997/98 entflammten heftige Widerstände gegen die Obrigkeiten. Gefordert wurden Föderalismus, mehr Autonomie und letztlich Sezession. Diese zweite Tuareg-Rebellion von 1990 bis 1995 wurde durch die Unterzeichnung von Friedensverträgen beendet. In Mali wurde unter der Regierung Alpha Oumar Konarés die Aufnahme von Tuareg in die Armee, Verwaltung und Regierung beschlossen und umgesetzt.

 

Sie wurden zu Abgeordneten gewählt, stellten Kommunalpolitiker, Bürgermeister und Regionalratsvorsitzende. Die Anzahl der Tuareg-Minister blieb jedoch immer sehr gering. Die als großer Erfolg gefeierte Verbrennung ihrer Waffen empfanden die Tuareg als Demütigung, die trotz ihrer Regierungsverantwortung für sie ein weiteres kollektives Trauma für sie bedeutete.

 

Seit der Unabhängigkeit lebten Tuareg vielerorts friedlich mit anderen Bevölkerungsgruppen zusammen

 

2007 begann in Niger die Tuareg-Gruppe »Mouvement des Nigériens pour la Justice« (MNJ) erneut zu rebellieren und warf der Regierung Tandja Mamadous vor, den Friedensvertrag nicht einzuhalten. Ein weiteres Friedensabkommen unter Vermittlung von Muammar al-Gaddafi im südlybischen Sabha beendete 2009 diese dritte Tuareg-Rebellion. Infolge des Bürgerkriegs in Libyen im Jahr 2011 wurden Tuareg, die auf Seiten Gaddafis gekämpft hatten, aus dem nordafrikanischen Land vertrieben und kehrten zurück in ihre Heimat.

 

Die als »Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad« (MNLA) auftretenden bewaffneten Gruppen drangen ab Ende 2011 über Niger nach Mali ein und brachten Gebiete im Norden des Landes unter ihre Kontrolle. Nachdem Hauptmann Amadou Sanogo Präsident Amadou Toumani Touré im März 2012 durch einen Militärputsch abgesetzt hatte, eroberte die MNLA innerhalb weniger Tage alle Städte im von den Tuareg als »Azawad« bezeichneten Gebiet. Am 6. April 2012 rief die Rebellenbewegung den unabhängigen Staat Azawad aus. Wenige Wochen später wurden ihnen jedoch die meisten ihrer eroberten Gebiete durch verschiedene islamistische Terrorgruppen wieder abgenommen. Allgemein mangelnde Integration der Tuareg ist aber nicht die Ursache des aktuellen Separatismuskonflikts.

 

Denn seit der Unabhängigkeit lebten Tuareg vielerorts friedlich mit anderen Bevölkerungsgruppen zusammen, vor allem in den Städten. Geschätzte 20 Prozent der Tuareg sind hier mit anderen Bevölkerungsgruppen verheiratet. Viele Kinder sprechen heute nicht einmal mehr die Sprache der Tuareg. Die Ursache für das Bestreben nach Selbstbestimmung scheint eine andere zu sein. Die Geschichte der Tuareg erklärt ihr Bedürfnis nach Autonomie. Ein unabhängiger Staat würde die Probleme der Tuareg aber nicht lösen, dessen ist sich inzwischen wohl auch die MNLA bewusst. Wenn der Norden stattdessen an der Entwicklungsdividende des Nationalstaates beteiligt wird, rückt vielleicht auch die Forderung nach Autonomie weiter in den Hintergrund. Dann stellt sich eventuell auch weniger die Frage nach ihrer Identität, nach Über- oder Unterlegenheit.

 

Jugendgruppen, Frauenverbände, Imame und Journalisten als neue Repräsentanten und Partner

 

Aber um welche Tuareg geht es hier eigentlich? Sollten diejenigen Tuareg der MNLA, die den Krieg in Mali begonnen haben, belohnt werden, in dem ihnen Entwicklungsperspektiven angeboten werden? Übergangspräsident Dioncounda Traoré äußerte sich am 31. Januar 2013 offen für Gespräche mit der MNLA. Die radikalen Tuareg-Rebellen Ansar Dine haben sich durch ihre terroristischen Aktionen längst für Gespräche disqualifiziert, und die Dschihadisten von Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQMI) und ihrer Abspaltung MUJAO sind keine Tuareg.

 

Die MNLA könnte sich stattdessen als wichtiger Partner im Kampf gegen den Terrorismus entwickeln. Kaum jemand kennt das Wüstengebiet im Norden so gut wie sie. Sie politisch einzubinden sollte auch deshalb in Betracht gezogen werden, um weitere Aufstände zu vermeiden. Ein guter Verhandlungspartner sollte die malischen Tuareg repräsentativ vertreten. Diese Bedingung erfüllen allerdings weder die Rebellen noch die Terroristen. Infolge gewaltsamer Unterdrückungsversuche hatten sich die Menschen im Juni 2012 von der MNLA ab- und den Islamisten zugewandt, von denen sie sich wenig später unter dem Schrecken der eingeführten Scharia wieder distanzierten.

 

Die Frage ist, wer die vielen verschiedenen Tuareg-Gruppen am besten repräsentieren kann. Möglicherweise ihre traditionellen Autoritäten? Vielleicht auch neue zivilgesellschaftliche Meinungsführer, die sich in der Zeit des Widerstandes gegen den Terror als solche hervorgetan haben. Im vergangenen Jahr haben sich viele friedliche Widerstandskämpfer im Norden Malis in Verbänden organisiert. Ihre Repräsentanten sind Leiter von Jugendgruppen, Frauenverbänden, Imame und Journalisten von Lokalradios. Diese neuen Vertreter der Tuareg sowie traditionelle Autoritäten könnten stärker in Gespräche über Malis Zukunft einbezogen werden.

 

In Mali sind nicht nur die Tuareg von ihrer Führungselite enttäuscht

 

Wahrscheinlich wird es bei den anstehenden Friedensverhandlungen auf eine Kombination verschiedener Repräsentanten der Tuareg hinauslaufen. Ihre Herausforderung wird sein, berechtigte Forderungen politisch zu artikulieren. In Bamako wird langsam über eine Rückkehr zur politischen Normalität diskutiert. Präsident Traoré hat angekündigt, dass Wahlen noch vor dem 31. Juli 2013 stattfinden sollen – ein ambitioniertes Ziel. Danach gilt es, die tiefliegenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Schieflagen des Landes aufzuarbeiten.

 

Eine positive Entwicklung wird davon abhängen, ob eine neue Regierung gute Regierungsführung beweist, den Norden repräsentativ in politische Entscheidungsprozesse einbindet und ihm vor allem wirtschaftliche Entwicklungsperspektiven anbietet. Unter Präsident Amadou Toumani Touré, der das Land von 2002 bis 2012 regierte, waren nicht nur die Tuareg frustriert von ihrer Führungselite. Die geringe Beteiligung von 25 Prozent bei den letzten Wahlen spricht für die allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung über die Politik im eigenen Land.

 

Viele Menschen haben sich in der Folge den Extremisten zugewandt. So wird der Radikalismus inzwischen auch von vielen schwarzen Maliern geteilt. Das zeigt beispielsweise die von Tuareg gegründete und geleitete Islamistengruppe Ansar Dine, die heute mindestens zur Hälfte aus schwarzen Maliern besteht. Den Radikalismus an seiner Wurzel zu bekämpfen, wird ebenfalls eine Frage der Alternativen und politischen Einbindung sein, die die neue Regierung den Menschen anbietet.


 
Andrea Kolb ist Leiterin des Auslandsbüro Senegal/Mali der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) mit Sitz in Dakar. Eine Langversion dieses Artikels steht auf der Homepage der KAS.
Von: 
Andrea Kolb

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