Dschihadismus und Staatsstreiche dominieren die Nachrichten zum Sahel. Antonia Witt spricht im Interview über den Einfluss der MENA-Staaten und Russland in Afrika und warum Wahlen kein Allheilmittel sind.
zenith: Der Bundestag hat im Mai eine Verlängerung des Mali-Einsatzes beschlossen. Was halten Sie davon?
Antonia Witt: Seit Beginn der Mission war das sicherlich der Moment, an dem die Entscheidung den Abgeordneten am schwersten gefallen ist, weil die Situation so unsicher wie lange ist. Etwa darüber, wie der konkrete Beitrag dieser UN-Mission für die Stabilisierung und den Friedensprozess insgesamt in Mali aussehen soll. Nichtsdestotrotz ist die Entscheidung ein wichtiges Signal dafür, eine der zentralen Aufgaben dieser Mission zu stärken, nämlich den Schutz von Zivilisten. Aber es bleiben einige Fragen offen, die bestimmen werden, wie sinnvoll eben dieser UN-Einsatz insgesamt und damit auch die deutsche Beteiligung daran ist.
Welche wären das?
Wie die Mission Sicherheit gewährleisten soll, insbesondere nach dem Abzug der Franzosen. Die französische Anti-Terror-Mission hat vor allem den Luftraum abgesichert, aber zum Beispiel auch Unterstützung in der medizinischen Versorgung geleistet. Es ist immer noch unklar, wie, ob und wer das nun übernehmen soll. Das war in der deutschen Debatte ein großes Thema. Ein viel größerer Unsicherheitsfaktor hinsichtlich des Beitrags der Mission für den Frieden ist aber natürlich, wie die militärische Mission mit dem politischen Prozess zusammenhängt und in welche politische Strategie eine Beteiligung der Bundeswehr eingebunden ist. Der offizielle Friedensprozess in Mali, also die Implementierung des Friedensabkommens von 2015, ist ins Stocken geraten. Auch die Gewalt zwischen den Unterzeichnern dieses Friedensvertrages hat zugenommen.
Und inzwischen ist das Militär wieder an der Macht. Hat das die Mission verkompliziert?
Seit dem Putsch und der Verschlechterung der Beziehungen zwischen Mali und vielen internationalen Partnern ist der Handlungsspielraum für die UN-Mission enorm eingeschränkt. Unter anderem betrifft das die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen. Insgesamt wirft dieser Umstand die Frage auf, wie die UN-Mission in Zukunft unter diesen realen politischen Bedingungen in Mali noch operieren kann. Klar ist: Diese Frage kann nicht in der Bundestagsdebatte beantwortet werden. Aber an ihr wird sich entscheiden, wie sinnvoll die deutsche Beteiligung an dieser Mission in Zukunft sein wird.
Geht es nur um den Schutz von Zivilisten oder welche anderen Interessen verfolgen Deutschland und die EU in Mali?
Ich würde grundsätzlich immer zwischen europäischen und deutschen Interessen unterscheiden. Die französischen Interessen etwa prägen den Blick der EU auf den Sahel sehr stark. Aus dieser Perspektive ist die Nachbarschaftsregion als Hort von Dschihadisten und als möglicher Transitort für Migration ein Unsicherheitsfaktor geworden. Diese »Versicherheitlichung« des Sahels ist ein enormer Treiber für die EU-Politik. Deutschland hat sich bisher sehr an dieser europäischen Ausrichtung orientiert und auch in der offiziellen Begründung des Engagements diese Rhetorik übernommen. Gerade um 2015 und 2016 herum war die Stabilisierung der Region und die Eindämmung von irregulärer Migration im offiziellen Diskurs noch viel wichtiger. In der Region herrscht eine große Unsicherheit über die Interessen sowohl der EU als auch Deutschlands. Um Verantwortung für ein Friedensengagement in der Region zu übernehmen, bräuchte es eine klare politische Positionierung: Worin bestehen eigentlich deutsche Interessen und Ziele und mit welcher Strategie können diese erreicht werden?
Nach dem Rauswurf Frankreichs nehmen die Wagner-Truppen in Mali eine stärkere Rolle ein. Auch Russia Today investiert inzwischen viele seiner französischsprachigen Ressourcen in den Sahel. Wie groß ist Moskaus Einfluss?
Das russische Engagement hat nicht nur im Sahel, sondern auch in anderen afrikanischen Ländern zugenommen. Die Zentralafrikanische Republik ist das Paradebeispiel. Im Sahel verfolgt Russlands das Ziel, Frankreich herauszufordern und Zugang zu Ressourcen wie Gold und Lithium zu erhalten. Dazu legt Moskau den Fokus auf eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit genau den Staaten, deren Regierungen aktuell mit den westlichen Staaten im Konflikt stehen. Damit bedient Russland einen Sicherheitsbedarf in jenen Ländern. Die russischen Militäroperationen füllen eine Lücke, die die bisherigen internationalen Antworten auf die Herausforderungen von Frieden und Sicherheit in der Region nicht schließen konnten. Das heißt nicht, dass sie erfolgreich oder gar im Sinne des Friedens handeln. Aber es ist wichtig anzuerkennen, dass es eine ganz klare Nachfrage nach Sicherheit gibt, die bisher nicht effektiv beantwortet wurde.
»Die russische Strategie führt langfristig nicht zu mehr Frieden, sondern zu mehr Gewalt, Vertreibung und Elend«
Kann Russland denn tatsächlich besser Sicherheit fördern als Streitkräfte aus EU-Staaten?
Bisher wird deutlich, dass das Vorgehen der malischen Armee in Kooperation mit russischen Soldaten einer ganz klaren Eliminierungsstrategie folgt. Das wird in der Bevölkerung zwar teilweise auch positiv gesehen, weil es Erfolge zu verzeichnen gibt, aber das geschieht auf Kosten der Menschenrechte und fordert eine sehr hohe Zahl ziviler Opfer, was auch in den Ländern selbst immer stärker kritisiert wird. Insofern stellt sich die Frage, wessen Sicherheit gewährleistet und unter welchen Bedingungen Sicherheit geschaffen wird. Diese Strategie führt langfristig nicht zu mehr Frieden, sondern zu mehr Gewalt, Vertreibung und Elend.
Auch die Staaten der MENA-Region streben einen größeren Einfluss im Sahel an. In welchem Maße werden sie in der Region aktiv?
Die vormals sehr kolonial geprägten, durch Frankreich dominierten internationalen Beziehungen sind viel mehr diversifiziert. Gleichzeitig entsteht dadurch eine Situation, in der unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Logiken operieren. Beispielsweise werden sowohl Algerien als auch Marokko stärker in der Region aktiv und versuchen, auf die politischen Prozesse in Mali, aber auch im Rahmen der Regionalorganisation ECOWAS einzuwirken. Sie wollen sie ihre Position in der Region und insgesamt auf dem Kontinent stärken.
Profitieren die Sahel-Länder, indem sie auf internationaler Ebene mehr Optionen haben, oder werden sie zum Spielball?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Es ist auch wichtig im Blick zu behalten, wer in diesen Ländern von den internationalen Partnerschaften profitiert. Die politische Elite hat deutlich mehr Möglichkeiten, aus einem diverseren Angebot an internationalen Partnern den für sich wichtigen oder besten rauszusuchen. Das heißt aber eben nicht, dass das auch für die Bevölkerung und für die Zukunft dieses Landes die beste Wahl ist.
An der Spitze der politischen Führung steht wie in Mali in einigen Ländern das Militär. In den letzten zwei Jahren putschten die Streitkräfte in Burkina Faso, Sudan und im Tschad. Warum erlebt die Region so viele Staatsstreiche?
Es ist sicherlich wichtig, die Umstände in jedem dieser Länder für sich zu analysieren und zu verstehen. Trotzdem lassen sich auch generelle Trends beobachten, zumindest in einem Teil dieser Fälle – gerade in Mali und Burkina Faso. In beiden Ländern ist in den letzten Jahren die Gewalt massiv gestiegen und die Armeen waren unfähig oder nicht befähigt genug, dieser Sicherheitsherausforderung entgegenzutreten. Der Staat als Schutzgarant, Wohlfahrts- und Dienstleistungsanbieter ist in Teilen nicht oder nur kaum vorhanden. Es herrscht große Frustration, denn die Gewalt im Sahel richtet sich sehr stark gegen die Zivilbevölkerung. Deshalb fanden diese Putsche in der Bevölkerung großen Zuspruch.
Wie sollte die internationale Gemeinschaft auf diese Entwicklung reagieren?
Guinea, Burkina Faso und Mali haben innerhalb der letzten zehn Jahre Putsche erlebt. Daraufhin erreichte der internationale Druck, dass Wahlen abgehalten wurden, aus denen legitimierte Regierungen hervorgingen. Dass diese Art der Reaktion auf komplexe und tiefgreifende politische und ökonomische Krisen in den Ländern unzureichend ist, zeigt sich daran, dass das Ganze sich innerhalb eines Jahrzehnts wiederholt. Das bloße Wählen von Regierungen reicht offensichtlich nicht aus, um legitime Regierungen an die Macht zu bringen, die in der Lage und willens sind, die Bedürfnisse der Bevölkerung wirklich zu befriedigen. Man muss sich von dieser bloßen Fixierung auf Wahlen als Lösung für sehr komplexe und vielschichtige politische Krisen lösen.
»Die dschihadistische Mobilisierung geschieht in den meisten Fällen nicht primär über religiöse Radikalisierung«
Welche alternativen Lösungsansätze würden sich denn anbieten?
In einigen Ländern haben Konsultationsprozesse eine Debatte über die wirklichen Probleme in den jeweiligen Ländern angestoßen – und darüber, wie diese Themen in Zukunft angegangen werden können. Tatsächlich ist es sehr erstaunlich, wie in den meisten Ländern diese Konsultationsprozesse unabhängig voneinander abgelaufen sind und was sie hervorgebracht haben. Es zeigt sich ein großer Bedarf an Reform, Ausbau von Staatlichkeit in peripheren Gegenden, größerer sozialer Gerechtigkeit, Investitionen, Zugang zu Gerichten und so weiter. Diese Faktoren benötigen eine komplexere und langfristigere Antwort auf die politischen Krisen.
Mitte Juni forderte ein Massaker in Mali über 100 Todesopfer, kurz davor starben 50 Menschen bei einem ähnlichen Vorfall in Burkina Faso. Was macht die dschihadistischen Gruppen in der Region so gefährlich?
Einige dschihadistische Gruppen sind sowohl mit dem IS als auch mit Al-Qaida verbunden. Sie sind äußerst erfolgreich darin, die lokalen Konfliktdynamiken zu verstehen und für sich auszunutzen – erfolgreicher als die jeweiligen Regierungen. Die Mobilisierung geschieht in den meisten Fällen nicht primär über religiöse Radikalisierung. Diese Gruppen spielen die soziale Not sehr erfolgreich aus und nehmen dadurch eine sehr lokalisierte Form an, sodass es tatsächlich in vielen Fällen schwierig ist zu verstehen, wer zu wem gehört. Das erschwert auch die staatlichen Antworten, was in der Folge wiederum dazu führt, dass die Bevölkerung einer Gegend ganz grundsätzlich unter Generalverdacht gestellt wird. In Mali beispielsweise lässt sich eine zunehmend ethnische Lesart des Konfliktes erkennen. Vor allen Fulani-Gruppen gelten pauschal als potenzielle oder tatsächliche Anhänger der Dschihadisten.
Wie lässt sich dieser Prozess aufhalten? Gerade durch den Klimawandel werden Ressourcen noch knapper und umkämpfter.
Die bisherigen Strategien, die vor allem auf physische Eliminierung abzielen, sind offensichtlich gescheitert. Vielmehr muss der Fokus auf Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit liegen, um dieser lokalen Mobilisierung entgegenzuwirken. Dazu gehört auch, Menschen durch ökonomische Teilhabe zurückzugewinnen, lokale Konfliktregelungsmechanismen und die Justiz zu stärken, wie zum Beispiel bei Konflikten um Weidegebiete. Der Klimawandel und die knapper werdenden Ressourcen führen aber dazu, dass jede Strategie noch mal eine Schippe drauflegen muss, um mit dem Tempo der Verschärfung dieser Probleme mitzuhalten.
Dr. Antonia Witt