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Unterwegs in Armenien

»Armenien betet, Aserbaidschan boomt«

Feature

Auch wenn im Zentrum von Eriwan das urbane Leben pulsiert, hat Armenien sich eine archaische Ursprünglichkeit erhalten, die auf den Besucher fast exotisch wirkt, für die Einheimischen sich aber häufig aus bitterster Armut speist.

»Sie haben sicher schon von Komitas gehört«, fragt ein Gast in Edouards Restaurant, ein älterer Herr, der sich als Musik-Professor vorstellt. Edouards Restaurant liegt zwischen dem Republik- und dem Opernplatz im Herzen von Eriwan, Hauptstadt und kulturelles Zentrum der kleinen Kaukasus-Republik. Im Zentrum pulsiert das urbane Lebensgefühl. Neben den architektonischen Prachtbauten aus den frühen 1920er Jahren, Gebäuden aus vulkanischen Tuff-Stein, blass-rosa schimmernd, die beweisen, dass es zu Beginn der UdSSR durchaus noch städtebauliche Visionen gab, dominieren immer mehr die Neubauten, die zum Teil ansprechend erscheinen, dann aber auch wie die austauschbaren Fassaden einer seelenlosen Globalisierung, die sich in Chrom und Glas zu manifestieren scheint. #

 

»Komitas ist für uns Armenier, was Chopin für die Polen ist«, fährt der Mann fort. Komitas also, der eigentlich Soomo Soomonjan hieß, sich im Kloster umtaufen ließ, in Berlin Komposition studierte, dann sein ganzes Leben der armenischen Musik widmete. Er reiste durch die armenischen Siedlungsgebiete, sammelte das musikalische Erbe, die alten Volkslieder, schuf unzählige Choräle, seine Messen werden heute noch in den armenischen Kirchen gesungen. Musik die unter die unter die Haut geht, die einem die Tränen in die Augen treiben kann.

 

»1915 begann in der Türkei das Massaker an den Armeniern«, so der Musikprofessor. »Bis zu Hitler war das der größte Genozid im 20. Jahrhundert. Türkische Soldaten wollten Komitas von einem Felsen herabstürzen. Doch im letzten Moment wurde er von der Tochter des Sultans gerettet, einer ehemaligen Schülerin. Doch seine Sinne waren schon verwirrt, sein Verstand war vernebelt. Er lebte noch 20 Jahre, erholte sich aber nie mehr wieder, denn er hatte bereits in den Abgrund geblickt. Er stürzte also 20 Jahre später in den Abgrund, von dem ihm die Tochter des Sultans einst gerettet hatte.« Der Mann schweigt, dann setzt er wieder an. »Die Geschichte von Komitas steht stellvertretend für das Schicksal Armeniens! Wenn Sie Komitas begreifen, dann verstehen Sie Armenien.«

 

Der Mann begleicht seine Rechnung, schnappt nach seinem Hut. »Können Sie mir vielleicht erklären, wieso der Westen Sanktionen gegen Russland erlässt, aber mit unserem Erzfeind Aserbaidschan paktiert? In Aserbaidschan gibt es zwar Öl, aber keine Demokratie!«, fragt er zum Abschied, bevor er in der vorbei eilenden Menschenmenge verschwindet. Die gut besuchten Bars und Bistros, die gutgekleideten Passanten und vollen Shopping-Malls irritieren, wenn man sich bewusst macht, dass selbst Ärzte in Armenien nur einige hundert Euro im Monat verdienen, dass die durchschnittliche Rente bei ungefähr 50 Euro monatlich liegt, die Preise aber rasant steigen.

 

Trotzdem sind im Stadtbild Anzeichen von Armut und Verelendung kaum anzutreffen. Zwei junge Männer sitzen auf einer Parkbank, unterhalten sich auf Farsi, eine Sprache die man in den Straßen Eriwans sehr häufig hört. Für junge Iraner ist Armenien ein beliebtes Reiseziel und auch umgekehrt. Die Grenze zwischen beiden Staaten ist offen, es besteht keine Visa-Pflicht. Armenien, das älteste christliche Land der Welt, lehnt sich außenpolitisch eng an Teheran und Moskau an. Russland und Persien sind die beiden historischen Schutzmächte dieses Landes, das immer um sein Überleben kämpfen musste.

 

Ohne den Iran hätte Armenien seit seiner Unabhängigkeit 1991 kaum überlebt. Die geschlossenen Grenzen zu Aserbaidschan und der Türkei strangulieren jegliche wirtschaftliche Entwicklung und engen die geostrategischen Perspektiven Armeniens dramatisch ein. Die beiden jungen Iraner, Adnan und Reza, sind für ein paar Tage in Eriwan, um einmal richtig durchzuatmen, wie sie lachend betonen. Reza, der in Teheran Chemie studiert, sieht in der Mentalität beider Völker große Ähnlichkeiten.« In Armenien ist das Leben aber freier, es gibt weniger Repressionen«, stellt er fest.

 

Serine Vempy teilt die Einschätzung des iranischen Touristen. Sie erblickte 1994 in Teheran das Licht der Welt. Ihre Familie, Angehörige der armenischen Minderheit des Iran, siedelte nach Eriwan über, als sie 10 Jahre alt war. »Immer wenn ich im Iran bin, dann vermisse ich Armenien, und umgekehrt.« Ihre schulterlangen Haare, die sie zu Zöpfen gebunden hat, sind pinkfarben gefärbt, zum Minirock trägt sie ein schulterfreies Shirt, im Cosplayer-Look, wie man diesen japanischen Verkleidungstrend weltweit nennt.

 

Außerhalb der Hauptstadt Eriwan ist Armenien dünn besiedelt

 

Serine ist Grafikerin, ihre erste Ausstellung steht unmittelbar bevor. Während viele junge Armenier auswandern, oder ihre Zukunft in Russland, den USA oder Europa planen, träumt Serine von Japan. »Nächstes Jahr habe ich hoffentlich genug Geld gespart, um für einige Zeit nach Tokio zu gehen, um dort zu arbeiten«, erzählt sie. Tagsüber arbeitet sie im Achtziger-Pub, dem Treffpunkt einer jungen Szene von unkonventionellen Künstlern und Studenten. »Wir Armenier haben eine andere Zeitrechnung als ihr im Westen«, wirft Aram ein.

 

Der junge Geschichtsstudent sitzt unter einer türkischen Flagge, wahrscheinlich die einzige, die man in Eriwan findet, wie er lachend betont. »Die erste Teilung haben wir vor 2.500 Jahren erlebt. Das Christentum haben wir siebenhundert Jahre früher angenommen, als ihr in Europa. Wir haben zehn Jahrhunderte vor Euch in unserer eigenen Sprache zu schreiben begonnen. Doch Armenien erlebte dieselbe, für diesen Teil der Welt typische Tragödie: Ein Mangel an historischer Kontinuität, das plötzliche Auftauchen leerer Seiten in den Geschichtsbüchern. Ohne eine Einigung mit der Türkei wird es schwierig bleiben, ich halte es für einen Fehler, den Genozid zum Politikum zu machen, wir können uns nicht nur dadurch definieren. Auch mit Aserbaidschan muss verhandelt werden. Armenien betet, während Aserbaidschan boomt.«

 

Arams Thesen finden bei den anwesenden Gästen, die keineswegs den Querschnitt der Bevölkerung Eriwans darstellen, leise Zustimmung. Außerhalb der Hauptstadt Eriwan, in der ein Drittel der knapp drei Millionen Einwohner lebt, ist Armenien dünn besiedelt. Im Bus unterwegs in Richtung Norden erhebt sich gleich hinter der Stadtgrenze eine von Stille und Steinen beherrschte Landschaft. Dafür erhebt sich der Berg Ararat, der heilige Berg der Armenier, zur Linken, so nah, dennoch unerreichbar fern, schon hinter der Grenze zur Türkei, einer der letzten geschlossenen Grenzen Europas.

 

Plötzlich tauchen riesige Herden auf, geführt von Hirten auf Pferderücken, die im Sommer ihr Vieh in die Berge treiben, dabei selbst wie Nomaden in Zelten leben. Armenien ist ein Land, das sich eine archaische Ursprünglichkeit erhalten hat, die auf den Besucher fast exotisch wirkt, für die Einheimischen sich aber häufig aus bitterster Armut speist.

 

Die wasserwirtschaftliche Nutzung des Sevan-Sees zog schwere Umweltschäden nach sich

 

Winkende Kinder am Straßenrand, Obstbäume, durch die das Sonnenlicht bricht, kleine Dörfer und Siedlungen, schwarzes Gestein, neben schroff aufragenden Felsen, aus denen uralte Kreuzkuppelkirchen ragen, als wären sie nicht von Menschenhand erschaffen, sondern der Natur entsprungen, ja als gehören sie zu dieser Landschaft, die schon vor Jahrtausenden eine Drehscheibe zwischen Anatolien und Transkaukasien, zwischen Schwarzem Meer und Kaspischen Meer gewesen ist. Nur eine knappe Autostunde von Eriwan entfernt, zwischen den Hügeln, inmitten der wild zerklüfteten Berglandschaft, taucht der Sevan-See auf, von den Armeniern die »Blaue Perle« genannt.

 

Mit einer Länge von 75 Kilometern und einer Breite von bis zu 19 Kilometern ist er einer der größten Bergseen der Welt. Der Sevan-See liegt wildschön umrahmt von den schneebedeckten Gipfeln der bis zu dreitausend Meter hohen Berge des kleinen Kaukasus. Der See liegt zwar auf über 1.900 Meter Höhe, erwärmt sich im Sommer aber auf über 30 Grad. Viele Bewohner der Hauptstadt nutzen die unberührte Landschaft und die Bademöglichkeiten als Naherholungsgebiet.

 

Die wasserwirtschaftliche Nutzung zur Energiegewinnung und Bewässerung führte in der Vergangenheit zu einer Absenkung des Wasserspiegels um 18 Meter, was gravierende ökologische Verwerfungen zur Folge hatte. Trotz der Energieprobleme Armeniens wird seit einigen Jahren versucht, den Wasserspiegel wieder zu erhöhen. Die Anwohner des Sees leben von der Landwirtschaft und bebauen jeden Hektar, der als Ackerland nutzbar ist, was in Armenien nur für 15 Prozent der Landesfläche gilt.

 

Die touristische Infrastruktur hat sich nur schwer von dem Untergang der Sowjetunion erholt. Immerhin bietet das »Bohemien Ressort«, eine direkt am nordwestlichen Seeufer gelegene zitronengelb gestrichene Anlage, die zur Hotelkette Best Western gehört, den ausländischen Besuchern westlichen Komfort. Die Landschaft strahlt Ruhe und Erhabenheit aus. Der See schimmert türkisfarben, in der Ferne dreht ein Ausflugsdampfer seine Runden, am Ufer leuchten die Blumen in intensiven Farben.

 

Religiosität und nationale Identität sind in Armenien miteinander verwoben

 

Von hier sind es nur wenige Gehminuten zum Wahrzeichen des Sees, dem Kloster Sevanavank, pittoresk auf einer Landzunge gelegen, die einmal eine Insel war, aber durch das Absinken des Wasserspiegels jetzt auf dem Felsplateau einer Halbinsel liegt. Das Kloster wurde im Jahr 837 gegründet. Die Armenisch-Apostolische Kirche betreibt dort heute wieder ein Priesterseminar, wobei viele Seminaristen über einen Höhenkoller klagen. Religiosität und nationale Identität sind in Armenien miteinander verwoben.

 

Wie auch im benachbarten Georgien bekennen sich die jungen Menschen stärker zu ihren religiösen Wurzeln als die Älteren, die noch vom Atheismus und den Kampagnen der Sowjetzeit geprägt wurden. 125 Kilometer nördlich von Sevan, schon fast an der Grenze zu Georgien, liegt das Kloster Sanahin, das zusammen mit den Klöstern im vier Kilometer entfernten Haghpat als UNESCO-Weltkulturerbe geführt wird. Das Kloster mit seinen Kreuzkuppelkirchen und Kapellen passt sich eindrucksvoll in die grandiose Felslandschaft ein, als wäre es der schwarzen Steinlandschaft entwachsen.

 

Die Stadt Alawerdi, von der Sanahin ein Ortsteil ist, liegt inmitten des stark zerklüfteten Gebirges in einer 300 bis 500 Meter tiefen Schlucht. Alawerdi war zu Sowjetzeiten eines der größten Kupferabbaugebiete des roten Imperiums. 1989 begannen dort Demonstrationen der Bewohner gegen die selbst für sowjetische Verhältnisse außerordentliche Umweltverschmutzung. Aus diesen Öko-Protesten erwuchs dann in den folgenden Wochen und Monaten, flankiert vom Niedergang der UdSSR, die Unabhängigkeitsbewegung, die schließlich auf Eriwan übergriff.

 

In den Schluchten rosten die riesigen, überdimensionalen Stahl- und Chemiekombinate, das industrielle Erbe der Sowjetunion, vor sich hin. Angeblich aufgrund der erhöhten Nachfrage nach Kupfer auf dem Weltmarkt soll dort demnächst der Abbau wieder beginnen. So lange müssen die Überweisungen aus der Diaspora helfen, der weltweit verstreuten Community der Auslands-Armenier, die mehr als doppelt so groß ist, wie das Land Einwohner zählt.


Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Studiosus Reisen München.

Von: 
Ramon Schack

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