Aserbaidschan blockiert seit Mitte Dezember die einzige Verbindungsstraße zwischen Bergkarabach und Armenien. Die Nahrungsmittelvorräte gehen zur Neige. Aber die Wut in der Exklave richtet sich auch gegen die vermeintlichen Friedentruppen.
Der Latschin-Korridor ist eine karge Straße, die sich an struppigen Bergen des Kaukasus vorbeischlängelt. Normalerweise stauen sich hier voll beladene Gütertrucks und Familienautos. Die Straße ist die einzige Verbindung zwischen Armenien und der Region Bergkarabach. Russische Friedenstruppen kontrollieren streng, wer in die Konfliktregion einreisen darf. Doch mit dem 12. Dezember kommt der Verkehr zum Stillstand: Aserbaidschanische Aktivisten blockieren die Straße. Seitdem ist Bergkarabach von der Außenwelt abgeschnitten.
»Wir haben weder Gemüse noch Eier«, erzählt Narine Grigorjan aus Bergkarabachs Hauptstadt Stepanakert via Telefon. Die Blockade hat Karabachs Nachschub an Nahrungsmitteln abgeschnitten. »Unsere Schlachthöfe produzieren noch genügend Fleisch, aber es fehlt an Zucker und Öl«, erzählt Narine, die als Linguistin arbeitet. Zuvor hatte die Region zu ungefähr 90 Prozent seiner Lebensmittel, täglich bis zu 400 Tonnen, aus Armenien importiert. »Die Regale in den Supermärkten werden immer leerer. Unsere Vorräte reichen noch für maximal ein bis zwei Wochen.«
Könnte man nicht Nahrungsmittel via Flugzeug oder Helikopter liefern? Eine Luftbrücke verhindere Aserbaidschan, sagt der armenische Botschafter in Österreich, Armen Papikyan, im Gespräch: »Aserbaidschan droht jedes Flugobjekt über Bergkarabach anzugreifen.«
Auf der anderen Seite des Latschin-Korridors sitzen ungefähr 1.000 Karabach-Armenier fest. Größtenteils Menschen, die in Armenien arbeiten oder studieren. Darunter Lilit Shahwerdjan und ihre Schwester. »Man kommt weder hinein noch hinaus«, sagt die Journalistin, die für das Nachrichtenportal Eurasianet schreibt. Nur russische Friedenstruppen und das Rote Kreuz können den Korridor durchqueren. »Das Rote Kreuz konnte ein einziges Mal Menschen aus dem Stepanakerter Krankenhaus nach Armenien bringen sowie humanitäre Hilfe wie Medikamente liefern, davor war der Mangel akut«, erzählt sie. Doch die neuen Medikamente, die nur für zehn Tage reichen sollten, drohen erneut auszugehen.
»Die angeblichen Öko-Aktivisten sind Angehörige des Militärs«
Am 12. Dezember schwenken Aktivisten aserbaidschanische Flaggen im Latschin-Korridor. Zelte werden aufgebaut. »Es geht hier darum, gegen die Ausbeutung von Aserbaidschans Gold- und Kupfervorkommen durch Armenien zu demonstrieren«, sagt einer der Sprecher der Protestierenden, Orkhan Amashov, in einem Videoclip in den Sozialen Medien. Für die Demoteilnehmer, die sich als unabhängige Öko-Aktivisten inszenieren, gehören Karabachs Bodenschätze zu Aserbaidschan.
Immerhin gilt Bergkarabach nach internationalem Recht als aserbaidschanisches Territorium. Doch das mehrheitlich von Armeniern bevölkerte Gebiet hatte sich nach langer Vernachlässigung durch Sowjet-Aserbaidschan in einem Krieg 1988-1994 abgespalten. 2020 konnte Aserbaidschan große Teile der Region zurückerobern. Seitdem ist die Region erneut ein Pulverfass.
Auf armenischer Seite ist man überzeugt, dass es sich bei der Blockade um eine aserbaidschanische Provokation handelt: »Die angeblichen Öko-Aktivisten sind Angehörige des Militärs und regierungsnaher NGOs«, sagt der Wiener Botschafter Papikyan. »Aserbaidschan möchte Bergkarabach mit der Blockade unter seine Kontrolle bringen.« Dass Baku seine Finger im Spiel hat, glaubt auch der aserbaidschanische Karabach-Experte Kamal Makili-Aliev: »Ohne die Zustimmung der Regierung könnte diese Demonstration nicht stattfinden. Das aserbaidschanische Gesetz verlangt für Kundgebungen eine vorherige Genehmigung. Wir wissen aber nicht, ob Baku den Latschin-Protest nur passiv unterstützt oder ob direkt involviert ist.«
Am 27. Dezember marschieren mehrere hundert Karabach-Armenier zu einem Flughafen etwas außerhalb der Stadt. Es ist die Basis der russischen Friedenstruppen, die seit Ende des Krieges 2020 den Frieden sichern sollen. Die Protestierenden halten Schilder mit Sätzen wie »Haltet euer Wort« oder »Wir haben euch vertraut« hoch. Russland weigerte sich bis jetzt, die Latschin-Blockade zu räumen. »Wir waren bis zu 10.000 und wollten mit dem russischen Kommandanten sprechen. Endlich hatten wir das Gefühl, etwas tun zu können«, erzählt Narine Grigorjan.
Will Moskau Armenien in die Russisch-Belarussische Union zwingen?
Bergkarabach gilt als pro-russischer eingestellt als Armenien. Die russischen Friedenstruppen hatte man ursprünglich begrüßt. Doch nach zwei Jahren droht die Stimmung umzuschlagen. »Mit dem russischen Volk verbindet uns eine Freundschaft, aber wir können den Friedenstruppen nicht mehr vertrauen. Sie machen nichts, während unsere Leute sterben«, sagt Narine Grigorjan. »Russland kann uns nicht beschützen.«
Kritik kam mittlerweile auch schon von der gegenüber Russland sonst sehr zurückhaltenden armenischen Regierung. Aber warum räumt Russland den Latschin-Korridor nicht? Experte Makili-Aliev sieht zwei Szenarien: »Es gibt die reale Möglichkeit, dass Russland sich nicht sicher ist, ob es den Korridor räumen darf.« Für Russlands Truppen sei es potenziell unklar, ob es Gewalt gegen aserbaidschanische Zivilisten anwenden dürfe. Auch fürchte Moskau womöglich eine Eskalationsspirale.
»Die zweite Möglichkeit, die ich aber persönlich für unwahrscheinlicher halte, ist, dass Russland Armenien in eine stärkere Abhängigkeit drängen mag«, sagt Makili-Aliev. Erst kürzlich hatte Armen Grigorjan, Sekretär des armenischen Sicherheitsrates, behauptet, Russland würde hinter verschlossenen Türen versuchen, Armenien in die Russisch-Belarussische Union zu zwingen.
Obwohl das Kaukasusland nach wie vor ein Verbündeter Russlands ist, haben die Spannungen zwischen den beiden Ländern zugenommen. Der Liberale Nikol Paschinjan hatte 2018 die russlandfreundliche Republikanische Partei von der Macht verdrängt und sich stärker Europa zugewandt.
Während Armeniens Partnerschaft mit Russland bröckelt, verschärft sich die humanitäre Situation in Bergkarabach immer weiter. Die Karabacher Behörden möchten nun mittlerweile dazu übergehen, Vorräte aus der Staatsreserve auszuliefern.