Wurde Russland vom Vorstoß der Aufständischen tatsächlich überrascht? Eine Theorie zur aktuellen Lage in Syrien.
Seit Tagen rätselt die Welt über den Angriff der Gruppe »Komitee zur Befreiung Groß-Syriens« (Hay’at Tahrir al-Sham, HTS) auf Regimegebiete in Syrien und die Schnelligkeit, mit der diese Mujaheddin die Verteidigungslinien der syrischen Armee durchbrachen. Zudem wundern sich Beobachter über die militärische Reaktion der Russen. Einerseits fiel diese schwächer aus als erwartet; andererseits waren die russischen Luftschläge deutlich weniger effektiv als in der Vergangenheit. Moskaus politische Reaktion war zwar im Tonfall scharf, doch ein Aufschrei in Form heftiger Drohungen oder martialischer Worte blieb aus.
Die Tatsache, dass die russische Luftwaffe erst zwei oder drei Tage nach Beginn des Angriffs intervenierte, wurde zunächst im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine und den dort gebundenen russischen Militärkapazitäten interpretiert. Manche Beobachter vermuteten, Russland wolle Assad unter Druck setzen, damit er sich letztendlich mit Erdoğan an einen Tisch setzt und eine Einigung zur Wiederherstellung der Beziehungen zwischen beiden Staaten erzielt. Moskau hat in den letzten Monaten sukzessive auf eine solche Annäherung hingearbeitet, doch Assad blieb bis zuletzt stur.
Allerdings reichen derartige Erklärungen nicht mehr aus, um das zögerliche militärische Vorgehen Russlands nach der Eroberung Aleppos und dem Vormarsch von HTS in Richtung Süden zu erklären. Dies wirft die Frage auf, ob die Situation möglicherweise aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden sollte. Mit anderen Worten: Könnte es sein, dass Russland gar nicht verhindern wollte, dass HTS sich in Syrien ausbreitet, die Kontrolle über die Großstadt Aleppo übernimmt und weiter in Richtung Damaskus marschiert?
Das Verhalten von HTS in Aleppo deutet stark darauf hin, dass die Gruppe nicht ernsthaft befürchten musste, aus der Stadt vertrieben zu werden. Sie konnte dort sofort die Stromversorgung wiederherstellen, Benzin, Diesel sowie Nahrungsmittel stehen in großen Mengen zur Verfügung. Zudem wurden die Masten des syrischen Telefonnetzes abmontiert und durch jene eines anderen Netzes ersetzt. Mit anderen Worten: Eine großflächige russische Bombardierung, wie sie im Zuge der Schlacht um Aleppo 2017–2018 stattfand, wird offenbar nicht befürchtet.
Auch während ihres Vormarsches in Richtung Süden stößt HTS auf nur schwachen Widerstand seitens der syrischen Armee und einiger syrischer paramilitärischer Einheiten. Weder Milizen der libanesischen Hizbullah noch Kräfte aus Iran oder dem Irak sind beteiligt.
Dies dürfte den Russen bekannt sein, die über die Lage der Hizbullah nach den israelischen Angriffen informiert sind. Auch der Schwierigkeiten Irans, sich auf syrischem Territorium wirkungsvoll militärisch zu entfalten, ist sich Moskau bewusst. Einerseits befürchten die Iraner Angriffe durch Israel, andererseits hatten sie bereits vor der Offensive ihre Sichtbarkeit und militärische Präsenz in Syrien reduziert, um positive Signale an die arabischen Nachbarn und vor allem die künftige US-amerikanische Administration zu senden, die den iranischen militärischen Einfluss in der Region als Hauptfaktor der Instabilität betrachtet und wohl auch bereit ist, dagegen vorzugehen. So versuchte Iran, seine Strategie der nicht zu verkennenden Schwäche anzupassen.
Ähnliches gilt für die irakischen Milizen, die sich nach den gegenseitigen Angriffen von Iran und Israel sowie den israelischen Angriffen auf die Hizbullah in einer schwierigen innenpolitischen Lage befinden. Wenngleich sie ihre Solidarität mit dem syrischen Staat erklärte, wird die irakische Regierung alles daran setzen, den Irak aus solchen existenziellen Konflikten herauszuhalten – eine Tatsache, die den Russen ebenfalls bekannt ist.
Dass Moskau all dies wusste und dennoch militärisch nicht stärker reagiert hat, ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite könnte darin bestehen, dass Russland die Situation bewusst genutzt hat, um seine Strategie in Syrien ebenfalls sanft zu verändern. Könnte es sein, dass die Russen zusammen mit der Türkei die Vereinbarungen mit den Iranern im Rahmen des Astana-Prozesses aufgekündigt haben, nachdem sie erkannten, wie geschwächt Iran in Syrien ist? Wäre es möglich, dass die Russen HTS und anderen Gruppierungen Spielraum gelassen haben, um ein alternatives System anstelle des Assad-Regimes zu etablieren?
Assad oder HTS – beide lehnen die »westliche Demokratie« ab
Ein solches System könnte aus Islamisten oder gemäßigten Islamisten bestehen – oder, wie es neuerdings heißt, aus einem »islamischen, aber nicht religiösen Staat«. Dies würde die Russen von der Last des Assad-Regimes befreien und ihnen gleichzeitig ermöglichen, ein System zu unterstützen, das ihren Interessen näher steht. Moskau hat bereits Erfahrungen mit der Etablierung solcher Systeme gesammelt, wie das Beispiel Tschetschenien nach dem Krieg zeigt. Damals formte der Kreml aus dem Widerstand gegen die russische Herrschaft ein System, das in seinem Sinne bis heute funktioniert. Vor dem Hintergrund seiner großen sunnitisch-muslimischen Minderheit im Land nimmt Russland für sich stets in Anspruch, mit islamisch-autoritären Systemen umgehen zu können.
Dass die sunnitische HTS-Führung in der Nordwestprovinz Idlib bereits viele »Qualitäten« eines militärisch-autoritären Geheimdienststaates aufwies, dürfte nach russischem Geschmack sein.
Ein ähnliches Vorgehen wäre auch in Syrien denkbar, insbesondere, da die Türkei als Partner mit ihrer Nähe zu solchen Gruppierungen eine Schlüsselrolle spielen kann. Auch die herrschenden Eliten in Tschetschenien unterhalten Kontakte zu ähnlichen Gruppierungen. Für die Russen wäre dies letztlich zwar keine Win-Win-Situation, aber eine Möglichkeit, eine strategische Schwäche in ihrem Sinn zu drehen. Weder Assad noch HTS glauben an den liberalen Staat – beide teilen die Vorbehalte der Russen gegenüber dem Modell der westlichen Demokratie. Dies ist für Russland von zentraler Bedeutung in seinem geopolitischen Kampf gegen den Westen und dessen liberale Ideologie.