Ankara könnte mit einem Beitritt zum Staatenbund BRICS seine Wirtschafsbeziehungen ausbauen und sich geopolitisch stärker positionieren.
Nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Gratwanderung zwischen NATO, Russland und der Ukraine gemeistert hatte, wagte er es erneut, seine westlichen Bündnispartner zu provozieren. Während des BRICS-Gipfels Ende Oktober 2024 in Russland reichte die Türkei einen formellen Antrag auf Beitritt zu der Gruppe ein, die ein Gegengewicht zu der westlich geprägten Weltordnung bilden will. Doch Indien opponierte gegen einen Beitritt – wegen der Nähe zum Erzfeind Pakistan. Stattdessen wurde Ankara der Status einer »Partnermitgliedschaft« angeboten. Diese neugeschaffene Kategorie hatten die neun BRICS-Mitglieder kurz zuvor eingeführt, wie es in der gemeinsamen am 23. Oktober in Kasan veröffentlichten Erklärung heißt.
Doch trotz Indiens Einspruch ist ein Beitritt der Türkei noch lange nicht vom Tisch – und Ankara will nicht nur Partner sein, sondern ein Vollmitglied. »Dies ist zwar wieder eine Enttäuschung für die Türkei, wie schon zuvor gegenüber der EU, als ein Beitritt Ankaras von Brüssel abgelehnt wurde. Anderseits plädiert Russland für die Aufnahme der Türkei mit dem Ziel, deren jüngste Annäherung an die USA zu stoppen oder gar umzukehren. Alles ist also noch offen«, sagt Rainer Hermann, der von 1991 bis 2008 aus der Türkei für die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete.
Die Symbolkraft von Ankaras Aufnahmeantrag ist nicht zu unterschätzen. Der Vorstoß unterstreicht wieder einmal Erdoğans globale Ambitionen. Unter seiner Führung hat sich in der Türkei ein postwestliches Narrativ verbreitet. Die Meinung, der Westen sei im Niedergang und neide der Türkei ihre Erfolge, hat sich mittlerweile im gesamten politischen Spektrum des Landes oftmals festgesetzt. Die Regierung Erdoğan wirft dem Westen und insbesondere den USA vor, das Wachstum des heimischen Verteidigungssektors und der Industrie im Allgemeinen zu bremsen und den Aufstieg der Türkei zu einer Supermacht zu bremsen. Beispielhaft dafür ist der Konflikt um das russische Raketenabwehrsystem S-400, das die Türkei – ein Nato-Mitglied – im Jahr 2019 anschaffte. Washington untersagte Ankara daraufhin den Erwerb von F-35-Kampfflugzeugen.
Zudem gaben die USA Anfang 2024 der Türkei nur widerwillig grünes Licht für den Kauf von F-16-Kampfflugzeugen. Im US-Senat stieß die Zusage auf erheblichen Widerstand. Abgesehen von den Differenzen mit den westlichen Partnern zeigt sich Ankara auch unzufrieden mit der jetzigen politischen Weltordnung. So stellt etwa die Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrats und seiner fünf ständigen Mitglieder mit Vetorecht – die USA, Großbritannien, Frankreich, China und Russland –, für Erdoğan ein besonderes Ärgernis dar, da dies seiner Meinung nach die geopolitischen Realitäten des 21. Jahrhunderts nicht widerspiegelt.
Erdoğan braucht im ideologischen und geostrategischen Bereich Partner, denen eine Menschenrechtspolitik so gleichgültig ist wie ihm selbst
Der türkische Präsident sieht sich in einer Reihe mit den erfolgshungrigen Machthabern Wladimir Putin, Xi Jinping und Narendra Modi. Er ist der Ansicht, dass sein Land eine Weltmacht ist. Sein Streben nach Größe ist für die Türkei nicht ungewöhnlich. In vielerlei Hinsicht steht das im Einklang mit der langjährigen Politik, die die früheren Führer seines Landes verfolgten, von den osmanischen Sultanen bis hin zu Atatürk. Doch Erdoğan schlug einen anderen Weg ein. Während seine jüngeren Vorgänger die Türkei dem seit dem 18. Jahrhundert erfolgreicheren Westen unterwarfen und Europa nachahmten, um ihren globalen Einfluss wiederherzustellen, wählte Erdoğan ein unorthodoxes Modell: Er will die Türkei zunächst als eigenständige Macht im Nahen Osten und dann weltweit groß machen – seine jüngsten Erfolge in Syrien dürften ihn dabei bestärken.
Das BRICS-Bündnis ist dabei nur ein weiteres Instrument, um sich diesem Ziel zu nähern. Dabei sieht Erdoğan die Allianz nicht als Alternative zur NATO oder EU, sondern als Ergänzung für seine ehrgeizigen Pläne. Im September betonte er noch, dass es keinen Grund gebe, sich um eine Abwendung der Türkei vom Westen zu sorgen. Debatten über eine »Achsenverschiebung« seien unbegründet. Die Türkei müsse sich jedoch an neue »Machtzentren« anpassen, die sich in den Bereichen Wirtschaft, Produktion und Technologie bildeten, und sich gleichzeitig Chancen in alle Richtungen verschaffen. Zuvor hatte er versichert: »Wir sind ein unerschütterlicher NATO-Verbündeter. Wir glauben jedoch nicht, dass dies unsere Fähigkeit einschränkt, positive Beziehungen zu Nationen wie China und Russland aufzubauen.« Entsprechend sieht der Präsident keinen Widerspruch darin, die härtere Haltung der NATO gegenüber China und Russland zu tolerieren und gleichzeitig die Zusammenarbeit mit den beiden Mächten zu intensivieren.
Um eine Supermacht zu werden, will sich Erdoğan außenpolitisch nicht nur auf seine westlichen Partner verlassen, sondern Teil weiterer multilateraler Plattformen sein. Zu diesem Zweck braucht er im ideologischen und geostrategischen Bereich Partner, denen eine Menschenrechtspolitik so gleichgültig ist wie ihm selbst. Ankaras BRICS-Beitrittsantrag ist in diesem Sinn die Fortsetzung einer internationalen Schaukelpolitik, die darauf abzielt, Allianzen zu diversifizieren und gleichzeitig die Beziehungen zum Westen aufrechtzuerhalten. Auch aufgrund seiner Frustrationen über die EU und die USA strebt Erdoğan eine größere globale Autonomie an. Das kennzeichnet die zwei Jahrzehnte, in denen er als Minister- und Staatspräsident das Land führt.
Fast zwei Jahre hielt Erdoğan seine Partner hin, bis er einem Beitritt Schwedens zur NATO zustimmte
Neben der BRICS-Mitgliedschaft bemüht sich Ankara gleichzeitig um einen Beitritt zur Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Deren Mitglieder sind China, Russland, Indien, Pakistan, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan und Iran. Die Türkei wäre bei einer Aufnahme in das Autokratenbündnis das einzige NATO-Mitglied und der einzige EU-Beitrittskandidat. Auch die seit Jahren anhaltende Wirtschaftskrise treibt den türkischen Staatschef an. Sein Land sucht verzweifelt nach ausländischen Investitionen, und da westliche Investoren wenig Interesse zeigen, bleibt Ankara keine andere Wahl, als sich nach Osten zu wenden. Ankara erkennt in der SOZ und den BRICS Plattformen, um mit Russland und China besser in Kontakt zu kommen und die Wirtschaftsbeziehungen zu den Schwellenländern auszubauen.
China und Russland dominieren BRICS, deren Ziel es ist, ein wirtschaftliches und politisches Gegengewicht zum globalen Norden zu formieren. Der Verbund gilt inzwischen als ein Synonym für nichtwestliche Mächte, die eine Alternative zur jetzigen geopolitischen Ordnung suchen, insbesondere im Hinblick auf den Welthandel. Zu den Gründungsmitgliedern zählten 2006 Brasilien, Russland, Indien und China; etwas später stieß Südafrika dazu. Ägypten, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich inzwischen auch angeschlossen. Auch Saudi-Arabien mischt im ziemlich heterogenen Block mit.
Außenpolitische Zweideutigkeit zeichnet Erdoğans Handeln auch in Bezug auf die Ukraine aus. Die Beziehungen zwischen Moskau und Ankara sind aufgrund einer Vielzahl von Krisen, vom Südkaukasus bis hin zu Syrien, Libyen und dem Sudan, angespannt und komplex. Aber die Türkei ist das einzige NATO-Land, das nach der Invasion Russlands in der Ukraine Handelsbeziehungen zu Moskau aufrechterhalten und sogar ausgeweitet hat. Gleichzeitig verkauft es Waffen an die Ukraine. Die Türkei war auch das einzige Land, das sich – sehr zum Verdruss der anderen Mitglieder – gegen die jüngste Erweiterung des NATO-Militärbündnisses auf Schweden und Finnland gestemmt hatte.
Fast zwei Jahre hielt Erdoğan seine Partner hin, bis er einem Beitritt Schwedens zustimmte. »Das ist ein Balanceakt und folgt Erdoğans Forderung nach einer multipolaren Welt. Die Türkei will einen Fuß in beiden Lagern haben. Allerdings würde Erdoğan mutmaßlich nicht so weit gehen, damit die Beziehungen mit dem Westen aufs Spiel zu setzen«, meint Hermann. Türkische Beamte haben denn auch wiederholt erklärt, dass eine mögliche Mitgliedschaft in der BRICS-Gruppe die Verpflichtungen der Türkei gegenüber dem westlichen Militärbündnis nicht beeinträchtigen würde. Für Hermann klingt das plausibel. »Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis, BRICS jedoch ein loser politischer und wirtschaftlicher Zusammenschluss, in dem 40 Prozent der Weltbevölkerung leben und der 30 Prozent zur globalen Wirtschaftsleistung beiträgt.«
Chinas führender Elektroautohersteller BYD will eine Milliarde US-Dollar in ein neues Werk in der Türkei investieren
Mit einem Beitritt Ankaras hätte der BRICS-Staatenbund einen großen Vorteil: Er könnte dann glaubhafter versichern, keine antiwestliche, sondern eine blockfreie Allianz zu sein. Zwar hat die Organisation derzeit wenig Macht – BRICS hat weder eine Friedenstruppe noch ein Finanzsystem, nicht einmal eine gemeinsame Außenpolitik. Sie kann dem Land keine ähnlichen Sicherheitsgarantien wie die NATO geben. Die Türkei könnte dafür wirtschaftlich und geopolitisch Nutzen ziehen. »Ein Vorteil für Ankara wäre, den Druck auf den Westen zu erhöhen, um in relevanten Fragen wie der Lieferung der F16, der Rückkehr in das F35-Programm und der Politik gegenüber den Kurden Zugeständnisse zu bekommen; zudem erschiene die Türkei als blockfreies Land und würde sich so als Führungsmacht des Globalen Südens empfehlen«, sagt Hermann.
Mit Indien und China seien zwei schnell wachsende Volkswirtschaften Mitglied des Staatenbundes. Ankara böte sich die Möglichkeit, sein Handelsvolumen zu erweitern und die Exportmärkte zu diversifizieren, um so die kränkelnde türkische Wirtschaft anzukurbeln. Die Türkei möchte engere Handelsbeziehungen zu China aufbauen. Auf den jüngsten Besuch von Außenminister Hakan Fidan in Beijing, der erste eines hochrangigen türkischen Diplomaten seit zwölf Jahren, folgte die Ankündigung, dass Chinas führender Elektroautohersteller BYD bereit sei, eine Milliarde US-Dollar in ein neues Werk in der Türkei zu investieren.
Zudem bekäme Ankara Zugang zu der von den BRICS-Staaten gegründeten Neuen Entwicklungsbank (NDB) und könnte so neue Infrastrukturprojekte finanzieren. Die Energiesicherheit würde verbessert, weil die BRICS-Mitglieder über reichliche Ressourcen verfügen. Spannungen mit der NATO und der EU gibt es ohnehin immer wieder; weitere Auseinandersetzungen könnte Ankara verkraften, weil es seine geografische Lage und die neuen Kapazitäten in der Verteidigungsindustrie zu nutzen weiß.
Der Westen ist immer noch der wichtigste Wirtschaftspartner und kann bei einer Wirtschaftskrise ein Rettungsnetz bereitstellen. Ankara muss allerdings wenig Gegenwind befürchten. An einen EU-Beitritt Ankaras glaubt ohnehin niemand mehr, und die NATO ist auf Ankara wegen der geopolitischen Schlüsselposition der Türkei angewiesen. Während sich die 32 NATO-Mitgliedsstaaten seit Russlands Krieg gegen die Ukraine immer wieder die Frage stellen müssen, wie stark sie im Ernstfall wirklich sind, sind die BRICS-Staaten sowohl in Bezug auf die Mitgliedschaft als auch auf ihr wachsendes globales Gewicht auf Erfolgskurs. Die Allianz hat gar nicht den Anspruch, sich immer in allem einig zu sein.
Çiğdem Akyol arbeitet derzeit als Journalistin bei der schweizerischen Wochenzeitung (WOZ). Dieser Artikel erschien dank Unterstützung durch den »Liesl Graz Fond« der Schweizerischen Gesellschaft Mittlerer Osten und Islamische Kulturen« (SGMOIK).