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Diplomatie im Bergkarabach-Konflikt

Wie Deutschland für Frieden im Südkaukasus sorgen kann

Essay
Armenien, Aserbaidschan und Bergkarabach
Vom Krieg beschädigte Fassade in Schuscha/Schuschi Adam Jones / Wikimedia Commons

Es besteht eine historische Chance auf Frieden im Südkaukasus. Warum Deutschland dabei eine zentrale Rolle spielen kann – und welche konkreten Schritte für einen nachhaltigen Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan nun gefragt sind.

Armenien und Aserbaidschan stehen nach dreißig Jahren erfolgloser Verhandlungen vor einer historischen Chance, ein Friedensabkommen zu schließen, nachdem Zehntausende von Menschen infolge erbitterter territorialer Streitigkeiten ihr Leben verloren haben. Der Erfolg des Friedensprozesses ist zwar nicht garantiert, doch die unterstützende Haltung Deutschlands und Berlins aktives Engagement in den EU-geführten Verhandlungen erhöhen die Chance auf einen Durchbruch im Südkaukasus erheblich.

 

Auch wenn weder Armenien noch Aserbaidschan die Bundesrepublik als alleinigen Retter oder Allheilmittel sieht, so ist doch eine gewisse Erleichterung über die sichtbare Präsenz und das verstärkte Engagement Berlins in dieser Region zu spüren. In den Augen beider Parteien verfügt Deutschland über das wirtschaftliche Gewicht und die unerschütterliche diplomatische Geduld. Außerdem pflegt Berlin ein pragmatisches Verhältnis zu den Hauptakteuren und besitzt die moralische Glaubwürdigkeit, um den Prozess zu einer dauerhaften Lösung zu führen.

 

Die entscheidenden Fragen lauten nun: Wie können Deutschlands diplomatische Bemühungen im Südkaukasus den Friedensprozess im Einklang mit der Europäischen Union am besten unterstützen? Und wie kann die Bundesregierung aus den Fehlern lernen, die in der Vergangenheit bei ähnlichen Initiativen gemacht wurden, und vorhersehbare Herausforderungen und Chancen antizipieren, damit sie bestmöglich bewältigt werden können?

 

In den letzten zehn Jahren unternahm die Minsk-Gruppe keine klaren Schritte mehr zur tiefgreifenden Lösung der Krise

 

Traditionell wurden die Friedensbemühungen entlang einer Achse internationaler Partner balanciert: Die USA, Russland und Frankreich fungierten als Ko-Vorsitzende der Minsk-Gruppe der OSZE, dem Vermittlungsformat, das während des ersten Bergkarabach-Krieges (1992-1994) ins Leben gerufen wurde und den geopolitischen Zeitgeist widerspiegelte: die Hoffnung, dass Russland und der Westen zusammenarbeiten und Probleme im postsowjetischen Raum gemeinsam lösen könnten.

 

Doch im Laufe der Zeit schwand ihr Potenzial, und das Format verlor an Relevanz. In den letzten zehn Jahren unternahm die Minsk-Gruppe keine klaren Schritte mehr zur tiefgreifenden Lösung der Krise, sondern nur noch zur Bewältigung ihrer Auswüchse. Nach dem Scheitern des Gipfels von Kasan im Jahr 2011 fehlte es an einer Vision davon, was Armenien und Aserbaidschan zu einem Friedensschluss bewegen könnte.

 

Im September 2020 erklärte Aserbaidschan öffentlich in Wort und Tat, die Geduld mit dem Verhandlungsprozess verloren zu haben. In einem 44-tägigen Krieg, der auf beiden Seiten Tausende von Menschenleben kostete, stellte Baku das regionale Machtgleichgewicht wieder her, indem es in Bergkarabach die Oberhand gewann und einen qualitativen militärischen Vorteil durch überlegene Ressourcen und Militärtechnologie demonstrierte. Außerdem blieb die Frage nach dem Schicksal der schätzungsweise 120.000 in Bergkarabach lebenden Armenier offen, deren Grundrechte und Sicherheit für Armenier in aller Welt nach wie vor ein wichtiges Anliegen sind.

 

Moskau spielt weiterhin eine Rolle, aber es hat die angestammte Führungsrolle eingebüßt

 

Die Kernforderung Aserbaidschans, die Anerkennung seiner territorialen Integrität, wurde inzwischen von der armenischen Regierung erfüllt. Mehr als dreißig Jahre, nachdem die Armenier in Bergkarabach ihre Petitionen und Referenden für die Unabhängigkeit von der damaligen Sowjetrepublik Aserbaidschan einreichten, stehen sie nun vor einer wahrscheinlich schwierigen Integration mit der Regierung in Baku. Das bedeutet, dass der größte Dorn in den Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan vorerst aus dem Weg ist. Die Dynamik in Richtung Frieden liegt nun in der von der EU geführten Vermittlungsschiene, die durch die Unterstützung der Vereinigten Staaten gestützt wird.

 

Moskau spielt weiterhin eine Rolle, untermauert durch die Präsenz vor Ort im Südkaukasus, aber es hat die angestammte Führungsrolle eingebüßt. Nach dem Krieg in der Ukraine war Russland nicht in der Lage oder willens, den Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan zu wahren. Trotz gewisser Interdependenzen mit Moskau haben sowohl Armenien als auch Aserbaidschan Gründe, sich bei der Gestaltung des nächsten Kapitels ihrer geopolitischen Beziehungen dem Westen zuzuwenden.

 

Als Vermittler verfügt der europäische Block – sowohl in Form von EU-Gremien als auch einzelner Mitgliedstaaten – über wichtige Hebel, die zur Stabilisierung der Lage im Südkaukasus genutzt werden können. Die EU als Ganzes würde enorm davon profitieren: Der Frieden im Südkaukasus wird eine Welle des Wohlstands mit sich bringen, neue dynamische Partner für das Wirtschaftswachstum vor den Toren Europas schaffen und die Nettomigration aufgrund von Konflikten verringern.

 

Er wird auch die reibungslose Entwicklung von zwei wichtigen Transit- und Verkehrswegen ermöglichen: den Mittleren Korridor und den Internationalen Nord-Süd-Transitkorridor (INSTC), die Europa mit China und Indien verbinden und dabei russisches Territorium und den überlasteten Suezkanal umgehen sollen. Diese Knotenpunkte bilden ein umfangreiches Netzwerk der Wertschöpfung bei der Neuausrichtung von Lieferketten und Handelsbeziehungen.

 

Die EU und ihre Partner müssen Armenien und Aserbaidschan zu ihrem besten Verhalten zwingen

 

Auch die kommenden Schritte sind ziemlich klar: Die EU und ihre Partner müssen Armenien und Aserbaidschan zu ihrem besten Verhalten zwingen. Was heißt das konkret? Erstens sollten beide Parteien von aufrührerischer Rhetorik ablassen, die den Friedensprozess untergräbt. In Aserbaidschan sind staatlich geförderte Hasstiraden gegen Armenier an der Tagesordnung, so dass die Bewohner von Bergkarabach um ihr Leben fürchten. In den letzten sechs bis acht Monaten hat sich Präsident Ilham Aliyev offen für die Schaffung von »West-Aserbaidschan« ausgesprochen, einem Gebilde, das große Teile des heutigen Armeniens für sich beansprucht.

 

Kürzlich wurde in einer Nachrichtensendung in Aserbaidschan die Wettervorhersage für Armenien gezeigt, wobei der Begriff West-Aserbaidschan und aserbaidschanische Städtenamen für Orte auf Gebiet der Republik Armenien verwendet wurden. Doch vor dem Krieg 2020 gehörte auch in Armenien nationalistische Rhetorik zum Repertoire. Auf seiner verhängnisvollen Reise nach Bergkarabach im Jahr 2019 hatte Ministerpräsident Nikol Paschinjan verkündet: »Artsakh ist Armenien, Punkt«, wobei er den ethnisch-armenischen Begriff für Bergkarabach verwendete. Dies löste in Aserbaidschan eine sofortige Gegenreaktion aus.

 

Solche Rhetorik bereitet die Öffentlichkeiten in beiden Ländern nicht auf den Frieden vor, im Gegenteil. Und das trotz der gewichtigen Rolle der EU bei den Friedensverhandlungen. Die Haltung Bakus ebnet den Weg für neue territoriale Ansprüche auf Süd- und Ostarmenien, die nicht auf die leichte Schulter genommen werden dürfen. Seit März 2021 nutzt Aserbaidschan seinen militärischen Vorteil für territoriale Übergriffe, die in einer ständigen Besetzung von rund 200 Quadratkilometern armenischen Territoriums mündeten. Die öffentliche Unterstützung Bakus für die Rückeroberung »West-Aserbaidschans« hat sogar noch zugenommen, seit Armenien seine Position zur Unabhängigkeit Bergkarabachs aufgegeben hat. Das scheint die armenischen Befürchtungen zu rechtfertigen, dass Zugeständnisse am Verhandlungstisch nur zu noch größeren Verlusten führen werden.

 

Angesichts der Tatsache, dass Aserbaidschan im Index von »Freedom House« in Bezug auf Frauen- und Minderheitenrechte die niedrigste Punktzahl erzielt, richtet sich der Fokus auf einen internationalen Mechanismus, der die armenische Gemeinschaften schützt. Angesichts der Auslöschung armenischen Lebens in anderen Gebieten Aserbaidschans, einschließlich der massiven Zerstörung armenischer Kirchen und religiöser Denkmäler in der aserbaidschanischen Region Nachitschewan, ist die künftige Präsenz und die physische Sicherheit der Armenier in Bergkarabach durchaus gefährdet.

 

Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan schätzen ihre Beziehungen zur EU und insbesondere zu Deutschland

 

Solange solch ein Mechanismus zum Schutz der Armenier in Bergkarabach nicht in Sicht ist, sollten die EU und ihre Partner deutlich machen, dass eine humanitäre Katastrophe oder eine schleichende ethnische Säuberung der Armenier im Südkaukasus inakzeptabel ist. Die Folge wäre nämlich langfristige Instabilität zwischen Armenien und Aserbaidschan, wobei Zehntausende von Flüchtlingen die Grenze nach Südarmenien überqueren dürften. Die Entwurzelung der einheimischen armenischen Bevölkerung und die Gefährdung der armenischen Kirchen und Kulturgüter, die teils in die Antike zurückreichen, würden den Brunnen der möglichen Versöhnung zwischen Armeniern und Aserbaidschanern vergiften.

 

Wenn Baku von den Vorteilen eines Friedensabkommens profitieren möchte, muss es sich zu einem grundlegenden Wandel verpflichten, sowohl im Ton als auch in der Praxis. Anstatt die Armenier zu entmenschlichen und sie aus ihrer Mitte zu entfernen, kann Baku eine von oben nach unten gerichtete, staatlich unterstützte Initiative ins Leben rufen, um die Versöhnung auf menschlicher und kultureller Ebene zu fördern. Es wäre ein entscheidender Teil des Umschwungs, den diese Region braucht.

 

Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan schätzen ihre Beziehungen zur EU und insbesondere zu Deutschland. Obwohl beide Länder stark voneinander abweichende Wirtschaftsstrukturen und einen sehr unterschiedlichen Zugang zu Ressourcen aufweisen, können neue Anreize vom Handel bis hin zu Investitionen in die regionale Infrastruktur und nachhaltige Entwicklung auf die individuellen und gemeinsamen Ziele abgestimmt werden. Dieses Instrument wurde in der Vergangenheit völlig unzureichend genutzt.

 

Wenn der Südkaukasus zu einem wirtschaftlich dynamischen Knotenpunkt und Handelsweg wird, wie er es in der Vergangenheit war, wird der steigende Wohlstand beiden Ländern und ihren politischen Einrichtungen zugutekommen. Sowohl die Eliten als auch die Bevölkerungen Armeniens und Aserbaidschans haben viel zu gewinnen. Wenn es gelingt, dieses Kooperationspotential zu verstehen und zu fördern und gleichzeitig die Bevölkerungen beider Länder zum Frieden zu bewegen, wird der langfristige Erfolg eines Friedensabkommens gewährleistet.

 

Eine solche Wende in einer konfliktreichen Region ist nicht einfach, aber sie ist schon einmal gelungen

 

Wie gescheiterte Verhandlungen in anderen Teilen der Welt gezeigt haben, ist die Unterzeichnung eines Abkommens nicht das Ende des Prozesses. Zwar hat Armenien nach der Niederlage im Krieg 2020 begonnen, weitreichende Zugeständnisse zu machen, doch sollten die Vermittler darauf achten, dass in einem endgültigen Abkommen ein gewisses Gleichgewicht gewahrt bleibt. Wird eine Partei zu weit gedrängt, untergräbt dies das langfristige Potenzial eines Abkommens.

 

Die Sicherheit der Armenier in Bergkarabach und Armeniens eigene territoriale Integrität sind von entscheidender Bedeutung. Wenn diese nicht gewährleistet sind, wäre die armenische Führung gegenüber Hardlinern in der Defensive, und das Gefühl der Unsicherheit in den südlichen und östlichen Regionen Armeniens würde deren Entwicklung lähmen und die Bevölkerung zum Verlassen ihrer Heimat bewegen. Das Friedensabkommen sollte diesen Grundbedürfnissen Rechnung tragen.

 

Die EU ist auf dem richtigen Weg, wenn es darum geht, den Weg für ein Friedensabkommen zu bereiten, das sich zu einem vorzeigbaren außenpolitischen Erfolg für den Block entwickeln könnte. Der Weg zu einem dauerhaften Frieden erfordert jedoch nachhaltige Folge- und vertrauensbildende Maßnahmen, für die Deutschland in einer guten Ausgangsposition wäre.

 

Armenien und Aserbaidschan haben es letztlich in der Hand, eine friedlichere und wohlhabendere Zukunft aufzubauen. Eine solche Wende in einer konfliktreichen Region ist nicht einfach, aber sie ist schon einmal gelungen – in Mittel- und Westeuropa selbst. Aus diesem Grund gäbe es für den Südkaukasus keinen besseren Partner, um seinen eigenen Weg in die Zukunft zu finden.


Lara Setrakian ist die Präsidentin des Applied Policy Research Institutes of Armenia.

 

Benyamin Poghosyan ist Gründer und Vorsitzender des Zentrums für politische und wirtschaftliche strategische Studien in Jerewan.

Von: 
Benyamin Poghosyan und Lara Setrakian

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