Zeitzeugen, Journalisten und Forscher schildern in zenith, wie der Putsch vor 40 Jahren die Türkei bis heute prägt. Den Auftakt macht ein Essay des Schriftstellers Ömer Asan.
Am 12. September 1980 rollten ab 3:59 Uhr die Panzer. Damit fand der gewaltsame Konflikt zwischen linken und rechten Gruppen, dem seit Anfang der 1970er Jahre an die 5.000 Menschen zum Opfer gefallen waren, ein Ende. Unter Generalstabschef Kenan Evren verhängte ein »Nationaler Sicherheitsrat« das Kriegsrecht, verbot alle Parteien und leitete eine gesellschaftliche Neuordnung ein, deren Echo in der Türkei bis heute nicht ganz verhallt ist.
Während bis 1981 eine Verhaftungswelle, begleitet von systematischer Folter und fünfzig Hinrichtungen, primär Kurden und die politische Linke traf, legte 1982 eine neue Verfassung den Grundstein für ein autoritäres Staatsmodell nationalistischer Prägung. Als dessen Architekt und Vollstrecker gilt der Minister- und spätere Staatspräsident Turgut Özal, der das Land islamisierte und auf Kosten des Sozialsystems für liberale Exportmärkte öffnete.
Einschneidende Folgen zeitigte auch das Wahlgesetz, das größere Parteien bevorteilt und seitdem insbesondere den Kurden den Einzug in die Nationalversammlung erschwert hat. So gewann die AKP 2002 mit nur 34,4 Prozent der Gesamtstimmen zwei Drittel der Parlamentssitze, da infolge der Zehn-Prozent-Hürde 46,3 Prozent des Stimmenanteils verfielen.
Die Gewerkschaften wurden durch Einschränkungen im Arbeitsrecht nachhaltig geschwächt, das Bildungswesen durch Gründung des Hochschulrats YÖK einem zentralen Kontrollorgan unterstellt. Die Immunität, mit der sich das Militär nach den Wahlen von 1983 zurückzog, endete erst 2010 mit einem Verfassungsreferendum. 2014 verurteilte der Gerichtshof in Ankara Kenan Evren (von 1983 bis 1989 Staatspräsident) zu lebenslanger Haft, die er jedoch auf Grund seines Alters von 96 Jahren nicht mehr antrat.
zenith hat prominente Zeitzeugen des kulturellen Lebens befragt. Einige von ihnen waren, teils durch Verhaftung oder Emigration, direkt von den Ereignissen betroffen, andere stehen als Unbeteiligte auf individuellen Wegen sinnbildlich für gewisse Tendenzen des kulturellen Lebens. Ergänzend stellen Gespräche mit führenden Personen der Auslandskorrespondenz in der Türkei sowie dem Soziologen Ali Ergur die Ereignisse in den Zusammenhang globaler Entwicklungen.
Vom 12. September habe ich einiges in Erinnerungen behalten; denn damals waren mein Vater, meine Schwester, zwei Onkel und ich von Verhören, Verhaftung und Überwachung betroffen. Wie jeder oppositionelle Sozialist wurden wir von der Diktatur für die »Ausschreitungen« genannten Unruhen mitverantwortlich gemacht. Nachdem ich mit dem Verlag angefangen hatte, gab ich 2010 die Anthologie »12 Eylül Sabahı« (»Der Morgen des 12. September«) heraus, als Ergebnis einer öffentlichen Befragung zum 30. Jahrestag des 12. Septembers. Ich sah, dass nicht allein die Linken, sondern alle Oppositionellen ähnliche Situationen durchgemacht hatten.
2020 begehen wir den 40. Jahrestag des Putsches vom 12. September. Sein politisches Erbe besteht fort. Seine Gesetze, die Gestaltung der Macht und deren Ausübung schützen sein Fortbestehen. Dieser Zustand behindert die Türkei dabei, in der internationalen Arena ihren Platz einzunehmen. Aus diesem Grund wird die Entwicklung der Intellektuellen erschwert. Alle haben genug damit zu tun, sich selbst zu schützen, leider.
1996 erschien mein Buch »Pontos Kültürü« (»Die pontische Kultur«). Es wurde zunächst mit Erstaunen aufgenommen. Denn zum ersten Mal wurde in Buchform ein Forschungsbericht über Identität und Geschichte zum Thema Pontos der Öffentlichkeit präsentiert. Sechs Jahre nach der Veröffentlichung wurde das Buch auf der Basis eines Gesetzes vom 12. September durch den Anwalt des Gericht für Staatssicherheit verboten. Nach dem Urteil wurde ich freigesprochen.
Das Verlagswesen in der Türkei ist ein mühsames Handwerk. Mit kulturellen und historischen Publikationen verdient man sowieso kein Geld, hinzu kommen politische Probleme. Wenn sie die offizielle Geschichtsschreibung verlassen, geraten sie in Schwierigkeiten. Andererseits denke ich, dass parallel zur Entwicklung der Gesellschaft auch diese Schwierigkeiten und Einmischungen mit der Zeit abnehmen werden.
Die Welt der Literatur ist in unserem Land leider von einem fortlaufenden Auf und Ab geprägt. Gute Literatur findet meistens keinen Verlag, um sie herauszugeben. Wenn sie ihn findet, besteht das Problem der Werbung, denn die ist überaus teuer. Die Möglichkeiten in den sozialen Medien sind auch begrenzt, weil die dort geteilten Informationen nur einem eingeschränkten Umfeld angezeigt werden. Will heißen, wenn Sie eine Finanzierung mitbringen, erhöht sich Ihre Chance. Ich nehme an, das ist überall so.
All dem zum Trotz gebe ich über meinen eigenen Verlag eine gute Literaturzeitschrift heraus. In dieser Zeitschrift haben wir unter dem Namen Roman Kahramanları bis heute an die tausend Romane und deren Helden untersucht und veröffentlicht. Die meisten unserer Autoren sind Akademiker. Wir haben einer Art Literaturanthropologie die Tür geöffnet. Von dort aus sind wir dabei, eine Medienplattform aufzubauen, die zunächst auf Türkisch und danach in anderen Sprachen öffnet; ihr Name: novelheroes.com. Wir haben auch damit begonnen, das Archiv der Roman Kahramanları dort hochzuladen.
Ömer Asan wurde zunächst als Journalist bekannt und erhielt 1994 den Abdi-İpkçi-Friedens-und-Freundschaftspreis. 2002 wurde Asans erstes Buch, »Pontus Kültürü« (1996) über den pontischen Dialekt seiner Heimatregion wegen angeblicher separatistischer Propaganda verboten, die Entscheidung jedoch ein Jahr später durch Aufhebung des Artikels 8 des Antiterrorgesetzes zurückgezogen. Nach der Veröffentlichung seiner Sammlung von Kurzgeschichten (»Niko’nun kemençesi«, 2005) gründete er den Verlag Heyamola, der bis heute 450 Bücher herausgab. 2010 rief er die Zeitschrift Roman Kahramanları ins Leben. Mit Unterstützung des türkischen Kultusministeriums erklärte er 2012 den 21. Dezember zum »Welttag der Romanhelden«.