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40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 5

»Der Alltag mit den Soldaten hat bleibende Spuren hinterlassen«

Interview
40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 5
Hüseyin Sermet (*1955), Pianist und Komponist, Istanbul Foto: Mat Hennek

Zeitzeugen, Journalisten und Forscher schildern in zenith, wie der Putsch vor 40 Jahren die Türkeibis heute prägt. Heute mit der Künsterlin Gülhan und dem Komponisten Hüseyin Sermet.

Gülhan (Gülhan Bayrak) (*1964), Künstlerin, Istanbul

Die Künstlerin, die seit 2000 nur ihren Vornamen verwendet, studierte in Sakarya und Izmir und privat bei Malern und Bildhauern in der Türkei. 2003 eröffnete sie in Izmir ihr erstes Atelier. Es folgten Ausstellungen und Performances auf internationalen Kunstmessen und in Galerien in Istanbul, Ankara, Izmir, Varna, Skopje und Innsbruck. Gülhan ist unter anderem Mitglied der »Internationalen Gesellschaft der Bildenden Künste« und der »Gesellschaft des Museums Istanbul Modern« und hat die »Unabhängige Kunstplattform der Prinzeninseln« mitbegründet. All ihre Werke kreisen um den Menschen, Universalität und Globalisierung.

40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 5
Foto: Stefan Pohlit

 

zenith: Wo waren Sie am 12. September 1980?

Gülhan: Im Mädcheninternat von Bolu, etwa 145 Kilometer nordwestlich von Ankara.

 

Wie hat diese Sie Zeit geprägt?

Mich hat vor allem die Gewalt geprägt. Ende der 70er Jahre herrschte an vielen Orten Anarchie. Im Radio wurden regelmäßig die Toten aufgezählt, soundso viele Linke, soundso viele Rechte, alle mit Namen. Nach dem Putsch folgten die Hinrichtungen (fünfzig bis 1984). Die meisten waren junge Männer, kaum älter als ich, einer von ihnen (Erdal Eren, 1961-1980) gerade mal neunzehn Jahre alt. Der Gedanke, dass es jederzeit einfache Menschen treffen kann, geht mir bis heute nicht aus dem Kopf. Seit 2010 verarbeite ich diese Erfahrung in einem Projekt zum Thema Mord. Die dazugehörige Ausstellung wird voraussichtlich im Dezember eröffnet.

 

Wie hat sich der Putsch auf das kulturelle Leben ausgewirkt?

Es hat sich auf mehreren Ebenen ausgewirkt. Beispielsweise war es von da an ungefähr zwanzig Jahr lang für Frauen im öffentlichen Dienst nicht mehr erlaubt, Hosen zu tragen. Ihnen wurde eingebläut, dass sie das Lesen von Büchern bis hin zum Universitätsstudium verdächtig mache. Als ich 1992 von Sakarya fortging, gab es in der kleinen Provinzstadt Adapazarı noch drei Kunstgalerien; nach 2000 waren sie verschwunden. In der angrenzenden Schwarzmeerregion galt der Küstenstreifen vor dem Putsch als modern und aufgeklärt, was man sich gerade dort heute kaum mehr vorstellen kann. Unsere ethnischen Wurzeln gingen verloren, beispielsweise mit dem »Elektro-Saz«, das heute überall auf Hochzeiten Einsatz findet. Wir nehmen uns selbst nur noch als »Popart« wahr.

 

Was trat an die Stelle der Künste?

An Stelle der Künste wurden in den 1980er Jahren islamistische Sufi-Orden gefördert. Statt in Ausstellungen, im Konzert oder im Theater traf man sich immer häufiger in der Moschee – oder im Kaufhaus, natürlich. Die Gesellschaft wurde in eine Horde hirnloser Verbraucher verwandelt – alles, um die Wirtschaft zu stärken. Das kann man gut an den Reklameslogans der İş-Bank verfolgen: In den 1970er Jahren wurden wir zum Sparen angehalten, nach dem Putsch war es umgekehrt, wir sollten möglichst viel Geld ausgeben und Kredite aufnehmen.

 

Was hat das mit der türkischen Gesellschaft gemacht?

Diese Abhängigkeit haben wir während der Corona-Krise gesehen: Sobald die Quarantäne unterbrochen war, strömte das Volk, das tage- oder wochenlang in engen Wohnungen eingesperrt war, in die Einkaufszentren anstatt ins Freie. Man hat uns dazu abgerichtet: Die meisten geben sich heute damit zufrieden, morgens stundenlang bis zur Arbeit zu pendeln, um 10 Uhr abends nach Hause zu kommen und den einen freien Tag im Kaufrausch zu verschwenden. Zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Ist in den Betonwüsten, in denen die meisten ihr Leben verbringen, wohl besser.

 

Wer waren damals Ihre Vorbilder?

Marie Curie und Salvador Dalí. Natürlich haben mich auch türkische Künstler beeinflusst, beispielsweise Abidin Dino oder der osmanische Maler Şeker Ahmet Paşa.

 

Wie sehen Sie Ihre Perspektive als Künstlerin heute?

Die Istanbuler Kunstszene hat internationales Gewicht. Das Umfeld ist überschaubar, dennoch genießen wir hier eine ästhetische Freiheit wie in keiner anderen Stadt der Türkei. In Adapazarı wurde einmal eine Ausstellung von mir auf politischem Wege geschlossen. Leider haben sich solche Vorfälle auch in Istanbul wiederholt: 2010 wurde in Tophane die Galerie »Non Sanat« überfallen, weil man bei der Vernissage Alkohol ausschenkte. 2012 wurde mir für meine umweltaktivistische Performance »Kutsal Su« (»Heiliges Wasser«), mit Gefängnis gedroht. Ein paar Bilder in Galerien wurden mir von Extremisten auch schon abgehängt. Ich fahre nur noch zu beruflichen Zwecken in die Stadt, in mein Atelier. Seit 2009 wohne ich auf den Prinzeninseln.

 


 

Hüseyin Sermet (*1955), Pianist und Komponist, Istanbul

Hüseyin Sermet besuchte ab 1965 das Konservatorium in Ankara. Mit dem staatlichen İdil-Biret-Stipendium für begabte Kinder studierte er ab 1968 unter anderem bei Olivier Messiæen und Nadia Boulanger in Paris. In den 1970er und 1980er Jahren gewann er zahlreiche internationale Wettbewerbe und etablierte sich als vielseitiger Interpret. Auftritte weltweit, auch in Zusammenarbeit mit Mstislav Rostropovich, Yuri Bashmet, Antal Doráti, Semyon Bychkov, Ferdinand Leitner, dem Detroit Symphony Orchestra, dem RSO Moskau und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. 2004 wurde sein Orchesterwerk »Dream and Nightmare« vom Symphonieorchester Tokio uraufgeführt. Seit 1991 Staatskünstler der Türkei, ist er Doctor h. c. der Boğaziçi und der Marmara Üniversitesi Istanbul, außerdem Mitvorsitzender der »Association of Artists for Peace« (ADAP).

 

zenith: Wo waren Sie am 12. September 1980?

Hüseyin Sermet: Von 1968 bis 2018 lebte ich in Paris. 1980 wurde ich als Professeur titulaire ans Prinz-Rainier-Konservatorium in Monaco berufen. Aus Protest gegen den Putsch beschloss ich, die Türkei nicht eher zu betreten, bis freie Wahlen stattfänden. Gemäß dem Sprichwort: Der Hase schmollt dem Berg, der Berg weiß davon nichts, also könnte man sich fragen, ob es ihn stört. Jedoch blieb ich meinem Vorsatz treu und kehrte erst 1983 zurück, um meinen Wehrdienst zu leisten.

 

Welche Eindrücke haben Sie aus dieser Zeit mitgenommen?

Nach Zahlung der Kompensation zur Verkürzung des Wehrdienstes war ich für zwei Monate in Burdur stationiert, einem Provinznest im Süden, dessen einzige Industrie aus Dienstleistungen für die Garnison bestand. Gerne denke ich an die Nachtwachen unter dem anatolischen Himmel zurück: der Mond so hell, dass man einen Schatten warf, in der Ferne Krötengesänge und im Morgengrauen der Gebetsruf. Diese überwältigende Schönheit und der Alltag mit den Soldaten haben in mir bleibende Spuren hinterlassen. Ich begann, die Bekenntnisse meines Umfelds zu hinterfragen, wo man sich pauschal der westlichen Zivilisation anvertraut und insbesondere islamisches Gedankengut gering schätzt. Wenn Sie Beethoven oder Herbie Hancock mögen, gilt das als modern; aber wehe, Sie hören traditionelle Komponisten wie Alaettin Yavaşça, Mustafa Itrî oder İsmail Dede Efendi! Mit dieser bürgerlichen Ideologie war ich aufgewachsen.

 

Wie definieren Sie ihre Identität heute?

Als Türke (wenngleich nicht in einem engen, nationalistischen Sinn) und als Muslim, elhamdulillah. In meinem Beruf wird das zu Unrecht als Widerspruch aufgefasst. Zunächst ist ja die Kultur der Türken mit ihrer unvorstellbaren Ausdehnung bis an die Grenzen Asiens eine der reichsten Traditionen der Welt. Daran, in zweiter Instanz, knüpfe ich meine Verantwortung als musikişinas. Denken Sie an deutschsprachige Komponisten wie Franz Schubert. Deren Inspiration floss doch auch direkt aus ihrer Heimat. Und zu welchen Höhen sind sie aufgestiegen!

 

Warum sind Sie 2018 nach Istanbul zurückgekehrt?

Im Laufe von fünfzig Jahren, als quasi eingefleischter Franzose, musste ich einen kulturellen Verfall mitansehen, der mir in den letzten Jahren wehtat. Im Vergleich dazu gibt es in der Türkei für mich viel mehr zu tun.

 

In der klassischen Musikszene der Türkei kennt man Sie als einen der wenigen Künstler, die der Regierung Erdoğans positive Seiten abgewinnen.

Meine Position ist ungewöhnlich, weil ich mich, politisch betrachtet, von meinem bürgerlichen Spektrum distanziere und mich als Künstler ebensowenig davon lösen kann. Bei uns glaubt man bis heute, dass Erneuerung gleichbedeutend sei mit Europäisierung. Nehmen wir dagegen Russland: In welch kurzer Zeit hat man dort im 19. Jahrhundert eine eigene Schule gefestigt, die ihrerseits auf den Westen zurückwirkte! In drei Jahren wird unsere Republik hundert Jahre alt. Warum muss ein türkischer Komponist im 21. Jahrhundert immer noch den Westen imitieren? In meinen eigenen Werken gehe ich mit unseren melodischen Quellen anders um.

 

Wie sehen Ihre Kollegen im Musikbetrieb das?

An diesem Punkt liege ich mit der Szene im Streit: Jedesmal, wenn ich, beispielsweise im Fernsehen, die latenten Vorurteile benenne, wird die Tür fester zugeschlagen. Ebenso wie radikale Islamisten gibt es radikale Anhänger des Kemalismus, die über unser Kulturverständnis nicht debattieren wollen und mir begegnen nach dem Motto: Es ging uns doch gut, bevor dieser Kerl hereinschneite. Spitzenpolitiker wiederum werden nur selten über das Dilemma der Kulturszene aufgeklärt. Ihre Berater erkundigen sich beim Präsidentiellen Symphonieorchester oder in der Operndirektion, wo man ihnen wieder und wieder Stereotype auftischt. Stattdessen sollten wir uns verbünden. Gerne würde ich mit Präsident Erdoğan persönlich Kontakt aufnehmen. Mit Sicherheit fände ich Gehör!

 

Wie schätzen Sie die außenpolitische Rolle der Türkei ein?

Im Aufstieg. Und das, bei allem Respekt, im Unterschied zum Abendland. In meinem intellektuellen Umfeld hat man sich darauf eingeschossen, jeden Erfolg der AKP zu veralbern. Wie in dem Sprichwort, würden sie Erdoğan »in einem Löffel Wasser ertränken«, so sehr hassen sie ihn. Und doch, wenn Sie über diese fünf Prozent der Bevölkerung hinwegsehen, bleiben 95 Prozent, denen nicht entgeht, dass die Türkei stärker wird. Im Westen wiederum herrscht eine historische Furcht vor den Türken. Als ob jemand auf die Idee käme, noch einmal Wien zu belagern. Im Gegenteil, wir sollten einander vertrauen. So betrachte ich auch die Abschaffung des Kalifats als einen historischen Fehler, der die populistische Vermischung von Politik und Glauben begünstigt hat. Eine Weltreligion braucht ein echtes geistliches Zentrum, um hier saubere Grenzen zu ziehen. In Europa denkt auch niemand daran, den Vatikan zu schließen.

 

Sehen Sie Parallelen zwischen den Militärinventionen von 1980 und 2016?

Sie meinen den Gülen-Putsch vom 15. Juli 2016? In dieser Nacht befand ich mich ohne Internet und Telefon bei einem Freund in der Bretagne. Ab und zu übertrug mein Mobiltelefon mit einem Balken Empfang Nachrichten von den Ereignissen. Ich stieg aufs Dach und verkündete über soziale Medien, dass ich mich augenblicklich um politisches Asyl bewerbe, sollte die Regierung gestürzt werden. In den Jahren davor war die Gülen-Bewegung oft an mich herangetreten, um mich als Prominenten in ihre »Vitrine« zu stellen. Ich bin Demokrat und unterstütze weder eine einzelne Partei, noch eine Sekte. Stattdessen würde ich der Opposition empfehlen, wieder auf die Menschen zuzugehen und ihr Programm mit einer Stimmenmehrheit durchzusetzen.

Von: 
Stefan Pohlit

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