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40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 2

»Die Stadt lag wie unter einer bleiernen Decke«

Interview
40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 2
Istanbul nach Ausrufung des Kriegsrechts im September 1980

Zeitzeugen, Journalisten und Forscher schildern in zenith, wie der Putsch vor 40 Jahren die Türkei bis heute prägt. Heute mit Schriftsteller Gün Zileli und der Journalistin Christiane Schlötzer-Scotland.

Christiane Schlötzer-Scotland (*1954), Journalistin und Buchautorin, München/Athen

Die Mitbegründerin und stellvertretende Vorsitzende des Vereins »Journalisten helfen Journalisten« besuchte die Deutsche Journalistenschule und studierte Kommunikationswissenschaft und Politik. In den 1980er Jahren arbeitete sie für den NDR, den BR und die Deutsche Presseagentur. 1992 wechselte sie als Landtags- und später Bundestagskorrespondentin zur Süddeutschen Zeitung. 2001 ging sie nach Istanbul und berichtete für die SZ und den Tagesanzeiger Zürich über die Türkei, Griechenland und Zypern. 2005 kehrte sie als stellvertretende Ressortleiterin für Außenpolitik der SZ nach München zurück. Von 2012 bis 2015 und von 2018 bis 2020 war sie erneut als Korrespondentin in Istanbul für die Türkei und Griechenland tätig.

 


Christiane Schlötzer-Scotland (*1954), Journalistin und Buchautorin
Jörg Buschmann/SZ

 

zenith: Wie haben Sie die Ereignisse vom 12. September 1980 miterlebt?

Christiane Schlötzer-Scotland: Ich selbst befand mich in München. Jedoch hielten sich die Eltern meines zukünftigen Mannes, Egon Scotland, als Touristen in Istanbul auf. Tagelang erhielten wir keine Nachricht, bis sie uns am Telefon von Panzern auf der Straße berichteten. Mein Schwiegervater hatte als Ingenieur während der 1960er- und 1970er-Jahre in der Türkei gearbeitet. Mit Egon, der dort studiert hatte und Türkisch sprach, reiste ich 1981 zum ersten Mal nach Istanbul. Die Folgen des Putsches waren noch deutlich zu spüren. Es hatte so viele Verhaftungen gegeben, und die Angst der Leute, dass es jeden treffen könnte, habe ich damals wie einen Schleier der Düsternis empfunden. Die Stadt lag wie unter einer bleiernen Decke. Trotzdem war ich fasziniert von ihrer Vielfalt und der Offenheit vieler Menschen. Was ist ein Putsch? Das konnte ich mir damals noch nicht wirklich vorstellen. Eine in München aufgewachsene türkische Freundin erzählte mir, dass es in ihrer Familie auch zu Verhaftungen gekommen sei. Ich las dann viel über die Unruhen in der Zeit davor, über die politischen Morde, die Streiks, die hohe Inflation und die prekäre wirtschaftliche Lage. Von 1981 an kamen wir dann alle vier bis fünf Monate zurück nach Istanbul, um Freunde zu sehen und weil Egon auch immer wieder über die Türkei schrieb. Damals gab es dort noch sehr wenige Korrespondenten.

 

Wie schätzen Sie den 12. September 1980 heute ein?

Als eines der Ur-Ereignisse der modernen Türkei. Ich bin damals in München vielen Flüchtlingen begegnet, die nicht mehr zurück konnten. In Deutschland bildeten diese Intellektuellen neben den Gastarbeitern eine ganz neue Schicht. Für die Türkei bedeutete ihre Abwanderung eine Art Brain Drain, während die Universitäten mit der Gründung des Hochschulrats (YÖK) unter Kontrolle von Staat und Armee gerieten. Andererseits hatte das Jahr 1980 eine solche Welle der Gewalt von Rechts und Links gesehen, dass viele dem Putsch zustimmten, in der Hoffnung, dass so Ordnung einkehrt. Aber das Militär trieb den Autoritarismus auf die Spitze. Unzählige Verhaftungen, systematische Folter und Todesurteile haben die, die sich erinnern, teils bis heute traumatisiert. Die Generäle bestellten das Terrain für jene Mischung aus Nationalismus und islamisch-konservativer Politik, die die Türkei seither bestimmt hat – eine Konzession an die Kommunistenangst des Kalten Kriegs, die als Gegenmittel einen radikalen Islamismus beförderte. Die Verfassung von 1982 gilt bis heute. Die damit eingeführte Zehn-Prozent-Hürde hat insbesondere die Kurden lange aus dem Parlament ausgeschlossen.

 

Inwiefern hat sich die türkische Demokratie von dem Putsch erholt?

Ich vergesse niemals, dass ich Istanbul »von unten« kennen gelernt habe. Wir hatten ja 1981 wenig Geld und wohnten in einem alles andere als einladenden Hotel in Sirkeci. Als ich 2001 von meinem Büro über die Stadt und den Bosporus blickte, wurde mir bewusst, wie sehr sich alles entwickelt hatte. Es war die Zeit des berühmten Streits zwischen Präsident Ahmet Necdet Sezer und Premierminister Bülent Ecevit, der im Februar eine schwere Wirtschaftskrise, die schon länger schwelte, offenbar machte. Ende 2002 zog dann die AKP mit einer Zweidrittelmehrheit ins Parlament ein, wobei ihr auch die Zehn-Prozent-Hürde half, weil sie viele andere Parteien aus dem Parlament hielt. 2010 ließ Erdoğan in einem Referendum über die größte Verfassungsänderung seit 1982 abstimmen. Damit verloren zwar die Putschisten ihre Immunität, die Zehn-Prozent-Hürde wurde jedoch trotz Versprechen an die EU bis heute nicht aufgehoben. Dieses Gesetz erweist sich ja für die großen Parteien als viel bequemer, wenn sie auch durch die Bildung von Wahlbündnissen neuerdings darum herum manövrieren.

 

Wie könnte es weitergehen?

Wer hätte vor dem 15. Juli 2016 im Ernst daran geglaubt, dass das Militär noch einmal interveniert? Als man in jener Nacht das Parlament bombardierte, müssen sich viele Menschen an 1980 erinnert haben. Eine Herrschaft der Generäle hatte keine Chance; noch mal eine solch massive Einmischung, das wollte niemand. Aber es gibt auch große Unterschiede zu den 1980er Jahren. Das haben Gefängnisinsassen bestätigt: Schlechte Behandlung, ja, aber nicht wie zu jener Zeit systematische extreme Folter, an deren Folgen damals (wie etwa in Diyarbakır) viele starben. Die Zerstörung des Rechtsstaats aber ist auch heute wieder weit fortgeschritten. Die zahlreichen Inhaftierungen (etwa des Unternehmers und Kulturmäzens Osman Kavala oder des Journalisten und Schriftstellers Ahmet Altan) lassen sich aber auch als ein Zeichen von Angst deuten: Die Macht ist sich ihrer selbst nicht mehr so sicher wie noch vor Jahren und befürchtet, dass sich das Blatt wenden könnte. Abspaltungen von der AKP (wie Ahmet Davutoğlus »Gelecek Partisi«) mögen mit eher geringem Zulauf rechnen. Trotzdem verzeichnete die Opposition in mehreren großen Städten, darunter Istanbul und Ankara, Siege bei den Kommunalwahlen. Fazit: Die repressiven Maßnahmen der Regierung dienen dem Machterhalt. Die Demokratie in der Türkei ist aber nicht tot, das zeigen die hohe Beteiligung an Wahlen und auch die Machtwechsel in großen Kommunen. Man sieht es auch daran, wie die Öffentlichkeit die Ernennung von Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak zum Minister aufnahm. Dass die AKP nach Erdoğan an der Macht bleibt, scheint mir ungewiss. Selbst das türkische Präsidialsystem kann Kontinuität nicht durch dynastische Lösungen erzwingen.

 


 

Gün Zileli (* 1946), Schriftsteller und Übersetzer, Istanbul

Gün Zileli studierte Philosophie in Ankara, gehörte unter anderem zum Komitee der »Föderation der Revolutionären Jugend der Türkei« (Dev-Genç) und wurde nach dem Memorandum vom 12. März 1971 verhaftet. 1978 gründete er gemeinsam mit Doğu Perinçek und Hasan Yalçın die TİKP (»Türkische Arbeiter- und Bauernpartei«). Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 lebte er zehn Jahre lang in Istanbul im Untergrund. Vom Exil in London und Zürich aus tat er sich danach als Schriftsteller, Übersetzer (von Jewgenija Ginsburg, Hermann Gorter) und Literaturkritiker hervor. 2009 kehrte er in die Türkei zurück. Insbesondere durch seine Memoiren in drei Bänden hat er als Chronist Bekanntheit erlangt.

 


Gün Zileli (* 1946), Schriftsteller und Übersetzer

 

zenith: Was führte zum Putsch am 12. September 1980?

Gün Zileli: Wir sollten diese Ereignisse nicht vom 12. März 1971 getrennt betrachten. Der Druck, den die damals regierende liberal-konservative »Gerechtigkeitspartei« (AP) unter Süleyman Demirel auf die linken Gewerkschaften ausübte, wurde im Volk mit wachsendem Protest aufgenommen. In der Opposition übernahm 1972 Bülent Ecevit die Führung der kemalistischen CHP. Er machte sich mit freiheitlichen Slogans beliebt, die dazu führten, dass seine Partei, wenn auch in Koalition mit Necmettin Erbakans »Nationaler Heilspartei« (MSP), nach 1973 an die Macht kam. Dank der Amnestie, auf die man sich einigte, wurden im Mai 1974 alle bis dahin politisch Verurteilten aus dem Gefängnis entlassen. In der Folgezeit schürte die rechte MHP Straßenkämpfe mit den linken Organisationen, die bis 1980 bürgerkriegsartige Zustände annahmen. Selbst Stadtteile, die sich aus den Unruhen heraushielten, waren betroffen, täglich starben an die 15 Menschen, am »Blutigen 1. Mai« 1977 gar 34. An der Provokation war der Geheimdienst beteiligt, beispielsweise schickte der MIT Strohmänner mit Sprengstoff los, um einmal die MHP, dann die CHP zu treffen und so beide Seiten gegeneinander aufzuhetzen. Die MHP ermordete auch Intellektuelle wie die Journalisten Abdi İpekçi und Ümit Kaftancıoğlu. Das Militär hätte in einer frühen Phase eingreifen können; stattdessen wartete man gezielt ab, bis in der Öffentlichkeit der Eindruck entstand, als sei eine Intervention der einzige Ausweg.

 

Wie ging man nach dem Putsch 1980 mit den radikalen Gruppen um?

Zunächst einmal wurden alle Parteien verboten und 1981 aufgelöst. Unter dem neu gegründeten »Nationalen Rat« mussten die politischen Lager jahrzehntelange Blutfehden überwinden. Vieles an der neuen Ordnung wurde beschönigt – nicht zuletzt das Alter des jüngsten Veurteilten, Erdal Eren, der bei seiner Hinrichtung noch nicht volljährig war. Aus Angst stimmten beim Referendum 1982 über 90 Prozent der Bevölkerung der neuen Verfassung zu. Man muss den Generälen anrechnen, dass sie sich nicht etwa wie Franco in Spanien auf eine lange Diktatur einstellten, sondern einen relativ raschen Ausstieg planten. Dass bei den ersten Wahlen 1983 die von ihnen gegründete »Partei der Nationalistischen Demokratie« (MDP) nur auf 23 Prozent kam, sahen wir als Zeichen der Hoffnung. Kenan Evren wurde 1982 vom Parlament zum Staatspräsidenten gewählt und ging der Verfassung gemäß 1989 in den Ruhestand.

 

Wie beurteilen Sie die Auswirkungen der Verfassung von 1982 heute?

Der Einzug der ohnehin gespaltenen Linken ins Parlament wird durch die damals eingeführte Zehn-Prozent-Hürde unterbunden. Ohne sie würden Wahlen anders ausgehen, da man gezwungenermaßen für größere Parteien stimmt, um überhaupt auf ein Ergebnis zu hoffen. Die »Demokratische Partei der Völker« (HDP) beispielsweise hätte es allein als Linkspartei 2015 nicht ins Parlament geschafft. Ausschlaggebend war ihre Identifikation mit der kurdischen Minderheit. Im Namen des freien Marktes hinterließ uns die Junta ein autoritäres Regime ohne Sozialstaat und Meinungsfreiheit. An Stelle des Militärs darf heute die Regierung Kritiker aus dem Verkehr ziehen, ohne sich einem neutralen Kontrollorgan gegenüber rechtfertigen zu müssen. Denken wir an Unternehmer Osman Kavala oder den Politiker Selahattin Demirtaş, die ohne Prozess im Gefängnis sitzen. Wenn sich an der Verfassung nichts ändert, werden all jene Regierungen, die nach der AKP kommen, genauso verfahren.

 

Wie sind Sie nach 1980 einer Verhaftung entgangen?

Ich lebte verdeckt mit meiner Frau in Istanbul. Es war nicht so dramatisch, wie man sich das vorstellt: Wir gingen durchaus auf die Straße, jedoch waren wir auf die Unterstützung meines Schwiegervaters angewiesen. Für diverse Zeitungen publizierte ich unter dem Decknamen Mehmet Gündüz. Meine Übersetzungen konnte ich erst in London veröffentlichen. 1988 brach ich mit Doğu Perinçek über dessen Verteidigung Joseph Stalins, dessen Terror ich in vielen meiner Schriften untersuche und dessen Totalitarismus rein gar nichts mit Sozialismus zu tun hat. Ohne die Partei wurde es dann immer schwieriger, so stellte ich 1990 einen Asylantrag und ging kurz darauf nach Großbritannien.

 

Seit Ihrer Übersiedlung nach London bekennen Sie sich zum Anarchismus. Was wäre zu tun, um das politische System demokratischer zu gestalten?

Unter dem Vorwand des »Anti-Imperialismus« begeht die Opposition immer wieder den Fehler, beim Populismus der Regierung mitzuspielen. So schiebt sie die Schuld an staatlichen Missständen immer gern dem Westen zu. Schon allein ideologisch bräuchte sie die mentale Unterstützung des Auslands, denn als Alternative dazu bleibt ja nur die Rückkehr zu angeblich osmanischen Werten, die die AKP zur Bestätigung ihrer Macht propagiert. Stattdessen sollten sich alle Unzufriedenen im Namen der Freiheit zu handlungsfähigen Gremien verbünden. Meinen Schriften können Sie entnehmen, dass ich selbst mit den Ideologien meiner eigenen politischen Vergangenheit kritisch umgehe – ja, selbst an Bakunin würde ich beanstanden, was ich nicht für richtig halte. Ich habe keinen »Gott«, wenn Sie so wollen. Eine solidarische Gesellschaft kann sich auf Augenhöhe ganz ohne Regierung und Machtgefüge organisieren. Aber natürlich sind das Utopien.

Von: 
Stefan Pohlit

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