Der Islamische Staat macht Jagd auf Afghanistans Schiiten – und der sich anbahnende Verhandlungsfrieden zwischen Regierung und Taliban könnte alles noch schlimmer machen. Droht dem Land nun eine Spaltung entlang religiöser Bruchlinien?
Fünf Männer stehen im Schatten eines Baums und blicken auf die Moschee und ihre himmelblauen Kuppeln. Um ihre Schultern hängen Gewehre, die älter als die jungen Männer sind. Die holzverkleideten Griffe der Waffen haben sich dunkel verfärbt vom Schweiß nervöser Hände, ihre zerkratzten Läufe erzählen vom Krieg. Die Wachen haben an diesem Morgen in Taschen und Rücksäcke geschaut, Kofferräume geöffnet und Fragen gestellt. Jetzt treiben die kräftige Sonne und der Ruf des Mullahs die Gläubigen in die Moschee, und der von einer hohen Steinmauer gerahmte Hof bleibt leer zurück. Nur die Kinder spielen weiter. Sie haben sich längst an ihre Beschützer und deren Waffen gewöhnt.
Die Daimirdadiha-Moschee liegt im Westen der afghanischen Hauptstadt Kabul. Die meisten Mitglieder der schiitischen Gemeinde stammen aus der Nachbarprovinz Wardak. Heute haben sich im ersten Stock des Gotteshauses rund 200 Männer versammelt, die der Geschichte von Zainab und der Schlacht von Kerbala lauschen. Unter den kratzigen Sound des Verstärkers mischt sich ihr vielstimmiges Schluchzen. Die Finger mit schweren Lapislazuli-Ringen besteckt, in den Händen Gebetsketten, schämen sich die Schiiten ihrer Tränen nicht. Sie erinnern an die für sie gebrachten Opfer, wie es die Tradition an Arba‘in verlangt.
Es ist Mitte Oktober, der Trauermonat Muharram ist gerade zu Ende gegangen. Die Schiiten atmen auf – anderes als befürchtet, blieb ein Anschlag auf ihre religiöse Feier aus. Nach dem Ende des Gebets tritt Haji Masjidi Nuri ins Freie. Staub und Smog flimmern über dem beigen Häusermeer Kabuls und tauchen die afghanische Hauptstadt in ein goldenes Licht. Die von Tränen geröteten Augen des 76-jährigen Gemeindevorstehers bedeckt ein feiner Schleier, die Falten in seinem Gesicht bezeugen ein langes Leben und frische Sorgen. »Bis zu fünf Wachleute sichern die Moschee«, sagt er und blickt zu den jungen Männern mit ihren Kalaschnikows.
Und obwohl die Waffen von der Regierung gestellt werden, fühlt sich Haji Masjidi Nuri im Stich gelassen, patrouilliert nachts auf altersmüden Beinen durch sein Viertel. »Die Regierung kann sich doch nicht mal selbst schützen! Sonst müssten nicht alte Leute wie ich uns um die Sicherheit kümmern.« Sorgen, die berechtigt sind. Denn der Ende 2014 entstandene, regionale Ableger des selbst erklärten Islamischen Staats – der »Islamische Staat Khorasan« (ISKP) – orchestriert seit Jahren eine blutige Kampagne gegen Afghanistans Schiiten.
Die Statistik der Vereinten Nationen zählt für 2016 und 2017 mehr als 50 Angriffe auf ihre Einrichtungen und Moscheen. 242 Menschen wurden in diesen zwei Jahren ermordet, nahezu 500 verletzt. Und wie überall in Afghanistan nimmt auch diese Form der Gewalt zu. Allein 2018 verloren 223 Menschen durch antischiitisch motivierte Anschläge ihr Leben, fast 550 wurden verletzt. Messer, Sturmgewehre, Sprengstoffwesten, komplexe Attacken und Doppelanschläge haben die Opferzahlen einzelner Angriffe nahezu verdoppelt.