Hassan Amini erzählt im Interview, warum sunnitische Religionsgelehrte wie er eine so wichtige Rolle für die iranische Protestbewegung spielen – und welche konkrete politische Maßnahme einen Ausweg aus der Krise ermöglicht.
zenith: Seit 2022 sind wir Zeuge einer Bewegung in Iran, die in Saqqez in Ihrer Heimatprovinz Kurdistan ihren Anfang nahm. Ist das schon eine Revolution?
Hassan Amini: 1979 waren alle Sprachen, Religionen und Konfessionen vertreten. Der Grund für diese breite Beteiligung war die Hoffnung auf eine freie Gesellschaft, wirtschaftliche Wohlstand, nachhaltige Entwicklung – alles Merkmale einer normalen Gesellschaft. Die Menschen in Iran erwarteten nach der Revolution, dass diese Ziele erreicht würden.
Und welche Bilanz ziehen Sie?
Leider ist nicht nur das nicht geschehen, sondern Diskriminierung und Ungleichheit haben auf allen Ebenen zugenommen. Zum Beispiel wurden die etwa 25 bis 30 Millionen Sunniten unter konfessionellen Gesichtspunkten immer mehr an den Rand gedrängt und als Bürger zweiter Klasse behandelt. Nicht einen sunnitischen Gouverneur oder Minister hat die Islamische Republik jemals ernannt – so hatten die iranischen Sunniten hatten keinerlei Anteil an der Verwaltung des Landes. Der Staat und der schiitische Klerus mischen sich in alle sunnitischen Angelegenheiten ein.
Wo stehen Irans Sunniten heute?
Weil sie sich auf die Seite der Bevölkerung gestellt haben, sind sunnitische Geistliche ins Visier der Behörden geraten, einige sind zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Andererseits haben sie sich durch ihr klares Bekenntnis Respekt verschafft. In vielen Städten und Dörfern bauen die sunnitischen Gemeinden neue Moscheen, die Freitagsgebete sind gut besucht. Es ist zu hoffen, dass die Sunniten auf dieser Grundlage sich für ihre Rechte einsetzen und eine wirksamere Rolle in der iranischen Gesellschaft spielen werden.
Wie steht es um den Status von ethnischen Minderheiten?
Trotz der Verfassungsgrundsätze werden ethnische Gruppen wie Kurden, Belutschen, Turkmenen und Araber im Vergleich zu den persischsprachigen Iranern sehr stark diskriminiert. So haben sie nicht das Recht, ihre Muttersprache in Schulen und Universitäten zu verwenden.
»Die meisten Menschen in Iran sind gläubig und werden es auch bleiben«
Welche Missstände betreffen alle Iranerinnen und Iraner gleichermaßen?
In wirtschaftlicher Hinsicht stehen viele klein- und mittelständische Unternehmen vor dem Aus, die Auswirkungen der Inflation sind in allen Lebensbereichen spürbar. Auf politischer Ebene ist der Handlungsspielraum geschlossen, jeglicher Protest wird erstickt. Weil diese Einschränkungen so allumfassend wirken, ist der Protest geografisch nicht auf Kurdistan beschränkt. Jede Iranerin, jeder Iraner – egal welcher Klasse oder Konfession – ist in irgendeiner Weise an davon betroffen und deswegen beteiligt.
Religiöse Symbolik fand im Zuge der Proteste kaum Verwendung. Wie stehen Sie als sunnitischer Geistlicher dazu?
Die Antwort fällt je nach Region unterschiedlich aus. Tatsache ist, dass sunnitische Gelehrte mit den Protesten sympathisieren: Insbesondere die als Mamusta bekannten Geistlichen in den kurdischen Provinzen Kermanschah, Kurdistan und West-Aserbaidschan sowie die Molavi in Sistan und Belutschistan und in der Provinz Golestan. Tatsächlich waren und sind die Moscheen in diesen Gebieten die wichtigste Basis für die Aufrechterhaltung dieser Revolution.
Inwiefern?
Dort werden regimekritische Erklärungen unterzeichnet und ebenso kritische Freitagspredigten gehalten. Die sunnitischen Geistlichen in den kurdischen und belutschischen Provinzen bekannten sich zum Volksaufstand und nahmen an zahlreichen Veranstaltungen teil, besuchten Verwundete und organisierten Beisetzungen. Sie führten den größten Teil der Bewegung dort an. Das beste Beispiel für diese kontinuierliche Präsenz sind die wöchentlichen Predigten von Molana Abdulhamid in Zahedan, einem der herausragenden Führer des sunnitischen Iran in Belutschistan.
Also handelt es sich nicht um eine säkulare Bewegung?
In den sunnitischen Regionen Irans: Nein, denn eine große Mehrheit der Bevölkerung ist religiös und unterstützt ihre Gelehrten und Prediger. Dennoch ist es wichtig zu erwähnen, dass nach Ansicht der Sunniten die Wahl des Regierungssystems Resultat von Beratung sein muss und auf der Sure 42, Vers 38 beruht, der dem Volk das Recht gibt, auch politische Entscheidungen zu treffen.
»Dem Volkswillen nachkommen – und zwar in Form eines Referendums«
Wie unterscheidet sich die Lage in den mehrheitlich schiitischen Gegenden Irans?
Da fällt die Antwort genau entgegengesetzt aus. In den vergangenen 44 Jahren war die Regierung vollständig in den Händen der schiitischen Geistlichen, und aus der Sicht der Bevölkerung ist diese Schicht mit ihrem Totalitarismus und ihrer dogmatischen religiösen Sichtweise, etwa der Einteilung der Menschen in »Eingeweihte« und »Nicht-Eingeweihte«, der Grund aller sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme.
Wie schlug sich das aus Ihrer Sicht in Bezug auf die derzeitige Protestbewegung nieder?
Schiitische Geistlichen ordneten mitunter Tötung und Inhaftierung der Demonstranten an. Abgesehen davon haben die religiösen Zentren, etwa in Qom und Maschhad, und die schiitischen Gelehrten diese Volksbewegung nicht begleitet: Sie haben entweder geschwiegen oder die Regierung offen unterstützt. Daher ist es logisch, dass viele Menschen aus schiitischen Gemeinschaften weniger religiös sind und kein Interesse mehr an einer konfessionellen Regierung haben.
Welche Zukunft haben Religion und Konfession in Iran?
Die Religion ist vollkommen, und aus ihr können und sollten für alle Zeiten und Orte angemessene Regeln und Vorschriften abgeleitet werden. Worüber sich die Menschen aufregen, ist eigentlich das Bekenntnis. Eine Interpretation der Religion, die unter der Kontrolle von Klerikern und Regierenden steht, aber universellen Geltungsanspruch hat. Tatsächlich ist solch eine Lesart Ursache von Diskriminierung und gesellschaftlicher Spaltung. Meiner Meinung nach sind die meisten Menschen in Iran gläubig und werden es auch bleiben. Das Problem sind die konfessionellen Einschränkungen, die in Wirklichkeit nur einer bestimmten Klasse zum Machterhalt dienen.
Welche Zukunft sehen Sie für die Protestbewegung?
Diese Bewegung ist noch lange nicht am Ende. Wegen der heftigen Repressionen sind die Menschen von offenem Protest zu zivilem Ungehorsam übergegangen. Nehmen Sie etwa den Widerstand gegen den obligatorischen Hidschab. Derzeit lodert das Feuer unter der Asche –und dieser Funke kann jederzeit wieder entzündet werden.
Welche politischen Wege sollten nun beschritten werden?
In einem ersten Schritt müssen alle politischen und religiösen Gefangenen freigelassen werden. Sunnitische Gelehrte haben darüber hinaus in zahlreichen Erklärungen und Reden deutlich gemacht, dass der einzige Ausweg aus der Krise darin besteht, dem Volkswillen nachzukommen. Und zwar in Form eines Referendums. Dem Ausgang solch einer Abstimmung muss dann Folge geleistet werden. Ich hoffe immer noch, dass die Regierung das letztlich als vernünftige Maßnahme erkennt. Denn der Weg zur Überwindung der Krise liegt darin, den Menschen die Freiheit ihrer religiösen und konfessionellen Überzeugungen zu lassen.
Hassan Amini