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Interview über islamische Philosophie und Al-Ghazali

»Eine Pädagogik der guten Lebensführung«

Interview
Interview über islamische Philosophie und Al-Ghazali

Der jordanische Rechtsgelehrte Mohammed Hawa über Abu Hamid Al-Ghazali und dessen Geheimnisse des Wissens, sufische Ethik und für und wider der Philosophie.

zenith: Professor Hawa, Sie haben sich ein Leben lang mit Al-Ghazali beschäftigt. Welchen Stellenwert nimmt das Werk des Gelehrten aus dem späten 11. Jahrhundert im heutigen islamischen Denken ein?

Mohammed Hawa: Al-Ghazali (1058-1111) sah sich mit der Schwäche der religiösen Pädagogik konfrontiert – und der des Seelenheils überhaupt. Die Krise der Seele ist genauso ein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Ein anderes Thema, das ihn beschäftigte: die fehlgeleitete Philosophie sowie die etlichen Rechtsschulen, die sich völlig abgeschnitten von dem spirituellen Fundament der Religion in Wortklauberei und Klügelei verzettelten. Viel zu eifrig und fanatisch grenzten sich die verschiedenen Schulen voneinander ab und spielten sich gegeneinander aus. Überhaupt war die Einheit von Umma und Kalifat schon vor Al-Ghazali durch den Aufstieg der Fatimiden zerbrochen. Die islamische Gemeinschaft war so schwach, dass sie im Zuge der Kreuzzüge selbst Angriffen von außen ausgesetzt war – genauso erachte ich den heutigen Zionismus als eine Bedrohung von außen. Und auch heute erleben wir in diesem Jahrhundert eine Schwäche des Glaubens innerhalb der Umma. Al-Ghazali ist da ein Schatz, den es neu zu verwerten gilt.

 

Und Sie persönlich? Wann trafen Sie das erste Mal auf Al-Ghazali?

Meine Verbindung zu Al-Ghazali geht auf meinen Vater zurück – sein Leben lang beschäftigte er sich damit, Al-Ghazalis Denkschule mit Blick auf unsere eigene Gegenwart zu prüfen. Er lehrte mich, wie Al-Ghazali mit verschiedenen Lastern der Gesellschaft konfrontiert war, und wie er die Läuterung der Seele der intellektuellen Krise entgegenstellte.

 

Wenn Sie Ihren Studenten Theologie und Rechtswissenschaften lehren, inwiefern beziehen sie sich auch auf Al-Ghazali?

Al-Ghazali zu studieren, ist eine Sache für Fortgeschrittene und es ist schwierig, das gesamte Werk Al-Ghazalis den Studenten zu vermitteln. Was ich Ihnen mit auf den Weg geben möchte: Dass Al-Ghazali sich letzten Endes immer mit der Frage der Moral und der seelischen Läuterung auseinandersetzte und dies ins Zentrum seiner Lehre stellte.

 


Abu Hamid Muhammad ibn Muhammad Al-Ghazali wurde 1058/59 n. Chr. in Tus in Iran in eine Zeit der intellektuellen Unsicherheit geboren. Studiert hat er in Nischapur unter dem ascharitischen Gelehrten Dschuwaini. Im Alter von 33 Jahren wurde er vom seldschukischen Großwesir Nizam al-Mulk zum Rektor der Universität von Bagdad (Nizamiyya) ernannt. Dort verfasste er mehrere Schriften gegen die seiner Ansicht nach ketzerischen Absichten der Philosophen, die den Lehren von Aristoteles anhingen. Auch gegen die schiitischen Assassinen, die die in ihrer Auslegung des Korans vor allem die »innere« Ebene betonten, wetterte Ghazali polemisch. Die Feindschaft war nicht nur theologischer Natur – immerhin wurde ein Jahr nach Ghazalis Ankunft in Bagdad der Großwesir von den Assassinen ermordet. Ghazali blieb an der Nizamiyya, stürzte aber gerade wegen seines erfolgreichen Karrierewegs in eine Sinnkrise. Er kehrte der Hochschule den Rücken, ging ein Jahrzehnt auf Reisen, widmete sich eindringlich dem Sufismus, während er sein Geld als Privatlehrer verdiente. Schließlich führte ihn sein Weg zurück nach Nischapur, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1111n. Chr. Rektor war und auch seine wichtigsten Schriften verfasste. Ghazalis Werke gehören bis heute zu den wichtigsten Referenzpunkten in der islamischen Theologie.



 

Was macht denn Al-Ghazalis Denken aus Ihrer Sicht so einzigartig?

Nach Al-Ghazali ist die Natur des Menschen gut, und doch betont er, wie leicht beeinflussbar der Mensch von seiner Umwelt sei. Deshalb stellt Al-Ghazali quasi eine Pädagogik der guten Lebensführung auf, der die Tugenden des Menschen fördern und stärken soll. Dabei schätzt er den Menschen als ambivalent ein, seine Begierden sind Ansporn für das Leben und können doch der Kontrolle entgleiten. Der Zorn ist Quelle der Kraft im Kampf gegen Ungerechtigkeit und doch müssen diese Triebe und Begierden kontrolliert werden von dem Glauben, der Gerechtigkeit und dem Wissen. So sind also Zorn, Frömmigkeit und Enthaltsamkeit sowie die Vernunft Teil der menschlichen Seele. Doch sie müssen gepflegt werden, und ergeben nur durch ihre gemeinsame Ausbildung den Status der Weisheit. Diese Anthropologie der Seele ist zentral für Al-Ghazali.

 

Al-Ghazali hat sich als Philosoph unter anderem dem Begriff des Wissens sowie der Kategorisierung der Wissenschaften gewidmet. Wie versteht der Koran eigentlich Wissen?

Der Koran kennt verschiedene Wissensbegriffe. Da wäre das selbstevidente Wissen, das also notwendigerweise wahr ist, und das auch vom Herzen nicht abgelehnt werden kann. Dann Wissen durch Beweise, durch historische Überlieferung und oder auch durch Anleitung der Gelehrten, deren Herzen mit dem Licht Gottes erfüllt sind. Letztlich geht Wissen in jeglicher Form auf Gott zurück. Anders etwa als bei den Naturwissenschaften, die auch unabhängig von Gott bestehen, und wo das alleinige Verfolgen, Dokumentieren und Verstehen der Naturgesetze die einzig richtige Methodik ist.

 

»Für den Menschen gibt es in seiner Erkenntnis Grenzen«

 

Der Koran versichert oft, dass der Mensch fähig zur Erkenntnis ist. Trotzdem wird deutlich, dass Gott dem Menschen das Unsichtbare nie bekannt machen wird. Worin besteht das Geheimnis des Wissens, das dem Menschen verborgen bleibt?

Der Koran verlangt das sichere Wissen, er beinhaltet klare, richtende Verse, die den Kern seiner Botschaft ausmachen. Genauso umfasst er verschiedene, sich ähnelnde Verse, die eine vergleichende Lektüre voraussetzen, um sie richtig zu interpretieren. Trotzdem betont der Koran die Unwissenheit des Menschen neben Gott. Für den Menschen gibt es in seiner Erkenntnis Grenzen, wie zum Beispiel die Frage nach der Seele oder dem göttlichen Wesen. Das ist das Verborgene, das dem Menschen unzugänglich bleibt. Hier geht es nicht um einen Widerspruch im Koran, sondern um den Unterschied zwischen Mensch und Gott selbst.

 

Al-Ghazali bemängelte, dass die Philosophie immer wieder in Häresie und Ketzerei ende, und trotzdem forderte er die Gelehrten auf, sich ihrem Studium zu widmen.

Für Al-Ghazali war Philosophie eine unabdingbare Voraussetzung für gute Wissenschaft. Die Philosophie stellt für ihn die Gesetze des Denkens und der Logik bereit: wie sich Gegenteile wie Kraft und die Schwäche zueinander verhalten, warum das Ganze größer als die Summe aller Teile ist, oder dass rationale Urteile entweder notwendig, möglich oder unmöglich sind. Somit befasst sich die Philosophie mit rationalen Grundsätzen, die nichts als die Vernunft zur Quelle haben. Das Recht hingegen geht auf die Gesetzgebung und die verschiedenen Rechtsquellen zurück, die experimentellen Wissenschaften auf die Beobachtung der Naturgesetze. Al-Ghazali betont jedoch stets, dass das Erreichen der höheren Wahrheit nur durch die Erleuchtung des Herzens möglich sei.

 

Al-Ghazali tat sich auch als Fürsprecher des Sufismus vor, den er als den »besten Lebensweg« bezeichnet. Gibt es einen Unterschied zwischen einem Sufi-Meister, dessen Ziel es ist, sich von der Welt zu lösen, und der Religion als Gesetz, das auf der Welt zwischen den Menschen waltet und richtet?

Ich trenne nicht zwischen der Wahrheit und dem islamischen Recht, so wie das einige tun – und auch Ghazali tat das nicht. Das islamische Recht liegt im Herzen und ist das wissenschaftliche und weisende Fundament zur höheren Erkenntnis. Es gibt aber Menschen, die beispielsweise ohne Demut beten. Sie haben den rechtlichen Forderungen entsprochen, ohne der Wahrheit nahezukommen. Ähnlich verhält es sich etwa mit Abgabe wie der Almosensteuer. Das kritisiert Al-Ghazali – gerade den Zusammenhang innerer Befindlichkeit einer Handlung einerseits und der äußerlich sichtbaren Ausführung andererseits war für Al-Ghazali so zentral. Deshalb sieht er Sufismus und islamisches Recht nicht als Gegensätze, sondern als gegenseitige Bedingungen.

 

Nach einer längeren Krise zog sich Al-Ghazali zurück und widmete sich seinen sufischen Übungen. Dann kehrte plötzlich zurück und lehrte an der Staatsuniversität der Seldschuken in Nischapur – auch weil er die Religion erneuern und neu begründen wollte. Ist es ihm geglückt?

Ich glaube nicht, dass sich Al-Ghazali als Erneuerer der Religion betrachtete, oder dass er als Erneuerer in die Geschichte des Islams eingeht. Sein Hauptwerk heißt ja auch nicht »Erneuerung der Religion«, sondern »Erneuerung der religiösen Wissenschaften«. Grund für seine plötzliche Rückkehr ins öffentliche Leben war vielmehr die Krise der Wissenschaften. Er fragte sich selbstkritisch: »Was nützen Einsamkeit und Zurückgezogenheit, während sich die Krankheit verbreitet, ja sogar die Ärzte krank werden und die Menschen an den Rand des Verderbens getrieben sind?« Ghazali kehrte zurück zur Lehre, weil er falsche Glaubensvorstellungen von Ibn Sina und anderen Philosophen, entlarven wollte – die Philosophen, die selbst ihren Weinkonsum noch sophistisch begründen wollen. Kurz: In einer »Ära der Dunkelheit«, wie er es nennt, will Ghazali für die wahre Lehre einstehen.

 

Seine Rückkehr begründete Al-Ghazali aber auch mit Bezug auf den Hadith mit dem Titel »Gott sendet der islamischen Umma alle hundert Jahre jemanden nieder, der für sie ihre Religion erneuert«. Welche religiöse Bedeutung kommt diesem Hadith aus Ihrer Sicht heute noch zu?

Ich halte ihn für weiterhin gültig. Seine Bedeutung sollte aber nicht überschätzt werden. Im Islam ist Muhammed das Siegel der Propheten, die islamische Gemeinde aber ebenso Siegel der Prophetie. Sie ist von Gott mit dem Erhalt der Religion beauftragt und muss diesem Auftrag bis zum Tage der Auferstehung nachkommen. Die Umma, durch ihre verschiedenen Institutionen und Träger, an deren Spitze die Gelehrten stehen, erneuert sich also selbst. Al-Ghazalis Wirken entfaltete sich also im Rahmen dieses Kontinuums.



Interview über islamische Philosophie und Al-Ghazali

Mohammed Said Hawa ist gebürtiger Syrer und seit 1998 Professor für Hadith-Forschung am Lehrstuhl für Rechtswissenschaften und arbeitet zu Hadith-Wissenschaften an der jordanischen Universität Mutah.

Von: 
Pascal Bernhard

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