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Interview zu Frauen und dem Krieg im Sudan

»Wir brauchen eine Reform des Strafrechts«

Interview
Interview zu Frauen und dem Krieg im Sudan
Zwei Frauen in einem Lager für sudanesische Binnenvertriebene Foto: Ammar Yassir

Noch vor fünf Jahren standen sie an der Spitze der Proteste, die das Regime von Omar Al-Baschir zu Fall brachten. Warum Sudans Frauen nun auch für die Beilegung des Kriegs eine entscheidende Rolle zufällt, erklärt die Journalistin und Aktivistin Reem Abbas.

zenith: Das Bild »Kandake of the Sudanese Revolution«, aufgenommen von der Aktivistin Lana Haroun, zeigt Alaa Salah, eine 22-jährige Studentin, die auf einem Auto steht, in Weiß und Gold gekleidet, und während der Proteste am 8. April 2019 eine Menge von Demonstrierenden im Sprechgesang anführt. Warum hat dieses Bild eine so große Wirkung entfaltet?

Reem Abbas: Das Bild selbst war sehr ikonisch. Ihr Mut, auf dem Auto zu stehen, von anderen Frauen umgeben zu sein, was sie trug – das Bild symbolisierte Stärke und die Selbstermächtigung der Frauen. Es zeigte eine sehr organische Bewegung, nicht inszeniert, sondern sehr natürlich. Es hat auch mit Vorstellung aufgeräumt, dass Frauen nicht über dieses Bewusstsein verfügen, um die Protestbewegung anzuführen.

 

Obwohl Frauen an der Spitze der revolutionären Proteste 2018/19 standen, haben sie während der Herrschaft der Übergangsregierung keine stärkere Repräsentation in den staatlichen Institutionen erreicht.

Im Sudan sind die herrschenden Strukturen ein militarisierter politischer Marktplatz, der von Männern mit Waffen kontrolliert wird: von Milizen, dem Militär und den Sicherheitsdiensten. Frauen haben kaum Möglichkeiten, um sich in diesen Bereichen zu engagieren. Auch in den politischen Parteien sind Frauen unterrepräsentiert, insbesondere in den Führungspositionen. Ebenso in traditionellen Strukturen, denn die Stammesführung wird von vom Vater zu Sohn weitergegeben.

 

Wo sind Frauen im Sudan vertreten?

Frauen sind in Bereichen überrepräsentiert, die keinen großen Einfluss haben. In zivilgesellschaftlichen Räumen, Organisationen, Nachbarschaftsvereinigungen, Widerstandskomitees, aber nicht in den Sphären, die direkt mit politischer Repräsentation zu tun haben.

 

»Das Internet spielte eine wichtige Rolle für Frauen aus der Mittelschicht, um Geld zu verdienen und eine Art Online-Geschäft aufzubauen«

 

Und in Bildungseinrichtungen?

Ganz unterschiedlich. An einigen Universitäten stellen Frauen etwa an den medizinischen Fakultäten die Mehrheit. Das Bildungsniveau liegt in einigen Gegenden hoch, aber auf das gesamte Land gesehen, sind 40 Prozent der Frauen im Sudan Analphabetinnen. Viele Frauen haben keinen Zugang zu Bildung oder haben ihre Ausbildung aufgrund von Frühehen, Armut und Konflikten abgebrochen. Viele Frauen bemühen sich aber auch um eine Ausbildung, um sich und ihre Familien zu ernähren. Zudem wächst das Bewusstsein, durch wirtschaftliche Selbstständigkeit aus den patriarchalischen, konservativen Gesellschaftsnormen herauskommen zu können.

 

Wie hat sich die wirtschaftliche Situation für Frauen in den letzten Jahren entwickelt?

In den letzten zehn bis 15 Jahren hat sich die wirtschaftliche Lage der Frauen verbessert. Ein Grund dafür ist das Internet. Es spielte eine wichtige Rolle für Frauen aus der Mittelschicht, um Geld zu verdienen und eine Art Online-Geschäft aufzubauen. So konnten sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, ohne die sehr konservativen sozialen Normen herauszufordern. Die machen es Frauen nämlich sonst schwer, außerhalb der eigenen vier Wände und in gemischten Umgebungen zu arbeiten, und da zum Beispiel mit Männern zu interagieren. Die enorme Abwanderung von Fachkräften hatte einen Nebeneffekt, der sich auf die Frauen auswirkte. Viele Männer verließen das Land, um bessere Jobs zu finden und ihre Familien zu unterstützen. Frauen konnten höhere Positionen übernehmen, sei es in der Regierung oder in privaten Unternehmen. Solche Krisen können so gesehen auch eine Chance bieten, die Geschlechtermachtdynamik etwa auf dem Arbeitsmarkt in Frage zu stellen.

 

Wie meinen Sie das?

Ich habe in mehreren Ländern gelebt und ganz unterschiedliche Orte besucht, in denen viele sudanesische Flüchtlinge leben, wie zum Beispiel in Uganda und Ägypten. Was die sudanesischen Frauen dort gemein haben: Sie legen große Resilienz an den Tag und sind in der Lage, mit widrigen Umständen und sich selbst einen Ausweg zu schaffen. Etwa indem sie ein Unternehmen gründen, wie eine Bäckerei, und die Produkte dann auf WhatsApp und Facebook vermarkten. Solche Vertriebsmodelle haben sie zwar nicht zu den Alleinverdienenden, jedoch zu den Haupternährerinnen gemacht.

 

Seit dem Ausbruch des Krieges zwischen der Sudanesischen Armee (SAF) unter Abdul-Fattah Al-Burhan und Muhammad »Hemedti« Dagalo und dessen »Rapid Support Forces« (RSF) im April 2023 leiden die Menschen im Sudan unter Hunger, Vertreibung und extremer Gewalt – sind Frauen davon in besonderer Weise betroffen?

Dieser Krieg hat dazu geführt, dass Frauen in die Sklaverei verkauft, zur Prostitution gezwungen, im Grunde genommen entführt, getötet und sexueller Gewalt ausgesetzt werden. Schon diese sehr traumatisierende Situation wird dazu führen, dass immer mehr Frauen nicht mehr am öffentlichen Leben teilnehmen können. Und es wird sehr lange dauern, bis hier Abhilfe geschaffen ist. Den Opfern und den Überlebenden dieser Gewalt fehlt ein soziales System, das sie unterstützt. Sie sind so gut wie auf sich allein gestellt.

 

»Aktivisten aus Khartum haben versucht, sich nach der Flucht aus der Hauptstadt in anderen Provinzen neu aufzustellen – bis sie der Krieg auch dort erreichte«

 

Was bedeutet das für die Zivilgesellschaft im Sudan?

Ich selbst bin im Moment Flüchtling. Wir haben alles verloren. Unsere Lebensgrundlage, unser Heim, unsere Ersparnisse, unser Vermögen. Wir versuchen also vor allem, unser Leben wiederaufzubauen, und das macht es für viele von uns sehr schwierig, sich weiterhin zu engagieren. Zudem hängt ein Großteil der Zivilgesellschaft von Frauen aus der Mittelschicht ab, und die hat der Krieg hart getroffen. Unter diesen Umständen ist es praktisch unmöglich, Aktivitäten zu organisieren. Aktivisten aus Khartum haben versucht, sich nach der Flucht aus der Hauptstadt in anderen Provinzen neu aufzustellen – bis sie der Krieg auch dort erreichte und sie wieder die Zelte abbrechen mussten. Wer trotzdem weitermacht, lebt mitunter in aufgegebenen Schulgebäuden und hält dort Treffen ab.

 

Wo steht die sudanesische Frauenbewegung zum jetzigen Zeitpunkt?

Die politische und die Frauenbewegung sind mitunter der Polarisierung im Land zum Opfer gefallen. Es ist eine Situation, in der man das Gefühl hat, dass die Entscheidungen der Menschen nicht auf ihren Werten basieren, sondern auf dem praktischen Nutzen beruhen. Einige unterstützen eine Miliz, weil sie glauben, dass sie sich so eine Position oder ein Einkommen verschaffen können. In gewisser Weise ist also die Bewegung selbst zur Ware geworden.

 

Im August 2024 fanden in Genf die Sudan-Friedensgespräche statt, an denen die UN, die Afrikanische Union, Ägypten, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, die USA und die Schweiz sowie die RSF vor Ort teilnahmen. Was halten Sie von diesen Gesprächen?

Ich denke, die internationale Gemeinschaft hört nicht auf die Menschen im Sudan. Ich verstehe auch die Umstände, aber man darf nicht nur auf eine politische Koalition hören, die das sudanesische Volk nicht repräsentiert. Und einen Friedensprozess zu erzwingen, an dem alle Seiten beteiligt sind, ist keine Lösung. Das sudanesische Volk will nicht, dass die Armee weiterhin das Land führt. Aber vor allem ist im Moment jede politische Lösung, welche die RSF wieder miteinbezieht, für die Menschen im Sudan inakzeptabel, vor allem für die Frauen, die von dieser Miliz entführt, vergewaltigt, für Lösegeld festgehalten und einfach völlig gebrochen wurden.

 

Wie lauten Ihre Forderungen?

Dass die Frauen bei den Friedensgesprächen mit am Tisch sitzen. Aber damit sie wirklich etwas bewirken können, müssen wir den politischen Marktplatz in Frage stellen. Auf lange Sicht muss zudem eine staatlichen Infrastruktur zum Schutz von Frauen aufgebaut werden, das Strafrecht reformiert und um die Tatbestände ergänzt werden, von denen Frauen im Sudan besonders betroffen sind. Künftig brauchen wir zudem ein Sozialsystem, das in der Lage ist, Frauen, insbesondere den Opfern dieses Krieges, die Gewalt ausgesetzt waren, zu helfen, sich wieder in die Gemeinschaft einzugliedern, ihnen soziale Dienstleistungen und Beratung bietet.



Interview zu Frauen und dem Krieg im Sudan

Reem Abbas ist Journalistin, Schriftstellerin und feministische Aktivistin. Als ehemalige Nonresident Fellow beim Tahrir Institute for Middle East Policy (TIMEP) hat sich Abbas auf die Themen Landnutzung und Ressourcenkonflikte im Sudan spezialisiert. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet sie im Bereich Kommunikation und Interessenvertretung für sudanesische zivilgesellschaftliche Gruppen und internationale Organisationen wie die Women's International League for Peace & Freedom (WILPF). Abbas ist in der Frauenbewegung im Sudan aktiv und war früher Mitglied des Koordinierungsausschusses von Sudanese Women in Civic and Political Groups (MANSAM).

Von: 
Simone Keller

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