Historiker David Motadel nimmt das Verhältnis des NS-Regimes zum Islam neu unter die Lupe. Im Interview erklärt er, welche Rolle die Anwerbung von Hilfstruppen spielte – und wie Muslime in Südosteuropa auf den Antisemitismus der Besatzer reagierten.
zenith: In »Für Prophet und Führer« zeigen Sie, dass Adolf Hitler vom Islam fasziniert war.
David Motadel: Hitler selbst ist nicht federführend in der Gestaltung der deutschen Islampolitik gewesen. Seine Faszination mit der Religion ermöglichte jedoch die vom Auswärtigen Amt und anderen Institutionen des NS-Regimes entwickelte Politik in der islamischen Welt. Tatsächlich hatte Hitler ein erstaunlich weitreichendes Wissen über den Islam.
Welche Aussagen über den Islam können Hitler zugeschrieben werden?
Während des Krieges äußerte sich Hitler wiederholt zur Geschichte des Islams, vor allem in seinen »Tischgesprächen«. Insbesondere das Vordringen islamischer Armeen ins mittelalterliche Spanien beeindruckte ihn – wie überhaupt der gesamte globale Siegeszug des Islam. In »Mein Kampf« erwähnte er, dass im Vergleich zum »Vordringen besonders des mohammedanischen Glaubens« in Afrika und Asien die christlichen Missionare »nur sehr bescheidene Erfolge aufzuweisen« hätten. Unsere Kenntnisse der in der NS-Elite kursierenden Islamvorstellungen stammen überwiegend aus Memoiren und Nachkriegszeugnissen, die natürlich mit Vorsicht gelesen werden müssen. Und dennoch ergeben diese Berichte ein bemerkenswert kohärentes Bild der positiven weltanschaulichen Vorstellungen vom Islam, die innerhalb der NS-Führungselite vorherrschten. Und die Bewunderung für den Islam war durchaus nicht auf interne Gespräche in diesen Kreisen beschränkt. Ähnliche Standpunkte finden wir in einer ganzen Reihe ideologischer Bücher und Artikel, die während der 1930er und 1940er Jahre in Deutschland veröffentlicht wurden.
Das heißt es gab innerhalb der NS-Elite auch eine ideologische Faszination für den Islam?
Innerhalb der deutschen Rechten und der völkischen Bewegung lässt sich tatsächlich eine gewisse Faszination für den Islam nachweisen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Auch führende Nazis bildeten da keine Ausnahme. Vor allem das Islam-Bild Hitlers und Himmlers war positiv geprägt und sie taten das auch immer wieder kund. Hitler kritisierte während des Krieges zunehmend die katholische Kirche und zog dazu häufig den Islam als positives Gegenbeispiel heran. Während er den Katholizismus als schwach, verweichlicht und feminin bezeichnete, lobte er den Islam als starke, kriegerische und männliche Religion.
David Motadel ist Historiker an der London School of Economics and Political Science. Er studierte in Freiburg, Basel und Cambridge. Zudem hatte er Forschungspositionen in Harvard, Yale und Oxford inne. Seine Texte sind unter anderem in der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der New York Times und im Spiegel erschienen.
War diese ideologische Faszination der Grund für die Islampolitik des NS-Regimes?
Nein. Die deutsche Islam-Politik war insgesamt durch strategische Interessen geprägt. Sie begann um 1941/42 aus zwei pragmatischen Gründen. Einerseits sah sich die Wehrmacht an der Nordafrika-, Balkan- und Kaukasus-Front mit größeren muslimischen Bevölkerungsgruppen konfrontiert, und es schien, als würden sich früher oder später auch der Nahen Osten und Zentralasien zu Hauptschauplätzen des Krieges entwickeln. Andererseits verschlechterte sich die militärische Lage – die Strategie des Blitzkriegs ging in der Sowjetunion nicht auf und der Partisanenkrieg eskalierte. Die deutschen Truppen gerieten also zunehmend unter Druck. Aus militärischem Kalkül heraus bemühte sich Berlin daher darum, neue Verbündete zu gewinnen.
Und die Muslime in den Kriegsgebieten wurden als religiöse Gruppe wahrgenommen?
Interessant ist, dass das Regime muslimische Bevölkerungsgruppen unter der bürokratischen Kategorie »Islam« zusammenfasste – eine Tatsache, die ja eigentlich im Gegensatz zum Primat von »Rasse« in der Politik des Dritten Reichs steht. Tatsächlich wurden »Islam« und »Muslime« zu festen bürokratischen Kategorien in den offiziellen deutschen Dokumenten der Kriegsjahre. Dies hatte auch praktische Gründe. Durch eine Islampolitik und -propaganda konnten, unter anderem, sensible Fragen nach der nationalen Unabhängigkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen umgangen werden. Zudem ermöglichten sie, ethnisch, linguistisch, und sozial heterogene Bevölkerungsgruppen anzusprechen.
Ihr Buch beschäftigt sich nicht als erstes mit den Verbindungen zwischen dem Dritten Reich und der islamischen Welt. Was haben Sie Neues zutage gefördert?
Tatsächlich zeigen Historiker zunehmendes Interesse an den Beziehungen NS-Deutschlands zur islamischen Welt. Die Auseinandersetzung mit dem Thema beschränkt sich jedoch meistens auf die arabischen Regionen, und insbesondere auf der Rolle von Amin Al-Husseini, dem Mufti von Jerusalem, der mit dem NS-Regime kollaborierte. Weitgehend unbeachtet jedoch blieb die Geschichte der konkreten Begegnungen deutscher Truppen und einfacher Muslime in den Kriegsgebieten.
Wie gehen Sie mir der Literatur zum Mufti von Jerusalem um?
In meinem Buch spielt er nur peripher eine Rolle, da seine Aktivitäten während des Krieges bereits hinreichend erforscht sind und ich die Islam-Politik des NS-Regimes als Ganzes untersuche. Nur durch diese ganzheitliche Betrachtung ist es möglich, Akteure wie Al-Husseini historisch einzuordnen – und nicht etwa dem Irrglauben anheimzufallen, er hätte solchen Einfluss auf Hitler gehabt, dass er ihn zum Holocaust inspirieren konnte, wie manche Stimmen behaupten.
Al-Husseinis Vorschläge waren immer nur dann erfolgreich, wenn sie mit den Zielen und Interessen der Deutschen übereinstimmten.
Welche Rolle spielte der Mufti von Jerusalem denn in der deutschen Islam-Politik?
Im Prinzip war er eines von vielen Zahnrädern in der Islam-Politik des Dritten Reichs. Teile der Forschung und vor allem die öffentliche Debatte überbewerten seinen Einfluss auf das NS-Regime. Keine Frage, die Al-Husseini-Familie war in Palästina sehr mächtig. 1921 wurde Amin von der britischen Mandatsverwaltung sogar zum Großmufti ernannt – ein Titel, den die Briten extra für ihn erschaffen haben. Er wandte sich aber bald gegen die Mandatsmacht, flüchtete nach Deutschland und beteiligte sich an der hiesigen Islam-Politik. Dabei verhielt er sich äußerst clever.
Wie agierte er denn in Deutschland?
Er erkannte schnell, wo Rivalitäten innerhalb des Regimes lagen und spielte verschiedene Institutionen gegeneinander aus, um seine eigene Agenda voranzubringen. Sein wichtigstes Ziel, den Deutschen Garantien für eine palästinensische Unabhängigkeit nach dem Krieg abzuringen, erreichte er jedoch nicht. Seine Vorschläge waren immer nur dann erfolgreich, wenn sie mit den Zielen und Interessen der Deutschen übereinstimmten.
Wie sah die Islam-Politik des Dritten Reiches aus?
Zum einen inszenierte sich das Deutsche Reich durch eine gezielte Politik und Propaganda als Schutzmacht der Muslime. An der Ostfront beispielsweise, wo Stalin den Islam in der Zwischenkriegszeit brutal unterdrückt und Moscheen und Medressen zerstört hatte, baute die Wehrmacht diese wieder auf. In den muslimischen Kriegsgebieten, von Nordafrika bis in den Kaukasus, wurde der Islam in der deutschen Propaganda instrumentalisiert. Religiöse Texte und Imperative wie Koran und Dschihad wurden politisiert, um den eigenen Zielen dienlich zu sein. Zum anderen rekrutierten Wehrmacht und Waffen-SS massiv muslimische Freiwillige.
Wichtiger waren die Rekrutierungsversuche an der Ostfront – von Muslimen aus Zentralasien, dem Kaukasus und der Krim.
Wie beispielsweise die bosnische Handschar-Division der SS?
Die erlangte zwar große Bekanntheit, mit einer Truppenstärke von etwa 20.000 Mann machte sie jedoch nur einen kleinen Teil der muslimischen Truppen des Dritten Reichs aus . Wichtiger waren die Rekrutierungsversuche an der Ostfront – von Muslimen aus Zentralasien, dem Kaukasus und der Krim. Insgesamt wurden aus diesen Regionen über 200.000 Mann angeworben. An der Ostfront wurden diese Kontingente oft aus Kriegsgefangenenlagern rekrutiert und dann an allen Fronten eingesetzt. Sie kämpften in Stalingrad, Warschau und sogar bei der Verteidigung Berlins. Die Soldaten kämpften bis zuletzt auf deutscher Seite. Sie waren gewissermaßen gefangen in der deutschen Armee, da sie bei einer Niederlage die Rache Stalins fürchten mussten.
Spielte der Islam in diesen muslimischen Einheiten eine Rolle?
Interessanterweise wurden diesen Freiwilligen umfassende religiöse Zugeständnisse gemacht. Islamische Rituale und Praktiken wurden gestattet, etwa das Schächten, das 1933 aus antisemitischen Gründen durch das Reichstierschutzgesetz verboten worden war. Eine besondere Rolle spielten auch Militär-Imame, die nicht nur für die Seelsorge, sondern eben auch für die politische Indoktrinierung der Soldaten zuständig waren. Während des Krieges warb Berlin dafür zahlreiche islamische Geistliche an.
Das NS-Regime bildete sogar Militär-Imame an speziellen Schulen aus.
Ja. In Göttingen, Dresden, Bad Godesberg und Guben wurden während des Krieges Imam-Schulen eröffnet, in denen unter anderem deutsche Orientalisten wie etwa Berthold Spuler die Ausbildung der Geistlichen übernahmen.
Zahlreiche Juden, vor allem auf dem Balkan, konvertierten während des Krieges zum Islam, da sie hofften, so der Verfolgung zu entkommen.
Wie gingen einfache deutsche Soldaten mit Muslimen um?
Die Wehrmacht versuchte schon früh – etwa durch die Tornisterschrift »Der Islam« – die Soldaten für den Umgang mit Muslimen zu instruieren. Jedoch folgten einfache Soldaten – jahrelang beeinflusst durch die »Untermenschen«-Propaganda – oft nicht den Befehlen, die muslimische Bevölkerung zu respektieren. Daher kam es immer wieder zu rassistischen Übergriffen und Gewalt gegen Muslime. Insgesamt wurde die Islam-Politik, wie sie von Bürokraten in Berlin entworfen wurde, nicht immer an der Front umgesetzt.
Wie machte sich das bemerkbar?
In den ersten Monaten nach dem Überfall auf die Sowjetunion erschossen SS-Einsatzgruppen zum Beispiel Tausende Muslime, nur weil sie aufgrund ihrer Beschneidung darauf schlossen, es handle sich um Juden. Ein bedeutender Teil der Roma-Bevölkerung in den Ostgebieten und auf dem Balkan wiederum war muslimisch. Einige wurden ermordet – aber viele wurden auch verschont. Dies führte auch dazu, dass nichtmuslimische Roma zum Islam konvertierten, um der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen. Und die Roma waren da nicht die einzigen. Auch zahlreiche Juden, vor allem auf dem Balkan, konvertierten während des Krieges zum Islam, da sie hofften, so der Verfolgung zu entkommen. Allein in Sarajevo sind etwa 20 Prozent der jüdischen Bevölkerung während des Krieges zum Islam und teilweise auch zum Christentum konvertiert.
Für Prophet und Führer: Die islamische Welt und das Dritte Reich
David Motadel
Klett-Verlag, 2017
568 Seiten, 30 Euro
Wie haben die Muslime insgesamt auf die Verfolgung ihrer jüdischen Nachbarn reagiert?
Im Prinzip unterschieden sich die Reaktionen der Muslime auf die NS-Vernichtungspolitik kaum von dem Verhalten anderer Bevölkerungsgruppen unter deutscher Besatzung. Das Spektrum reicht da von Kollaboration mit den Besatzern und Angriffen auf jüdische Nachbarn aus Gründen des Profits oder aus reinem Antisemitismus, über Gleichgültigkeit, bis hin zu Empathie und zum Schutz verfolgter Juden. Häufig kam es vor allem auf die Gegebenheiten und die interkonfessionellen Beziehungen vor Ort an. Als bedeutendes Beispiel für eine Unterstützung von Muslimen gegenüber Juden während es Holocaust ließe sich Albanien nennen. Dort haben Muslime einen großen Teil ihrer jüdischen Nachbarn retten können.
Sie haben sowohl Wurzeln in Deutschland als auch in Iran. Wie war das Verhältnis zwischen Nazi-Deutschland und dem Iran, dem selbst ausgerufenen »Land der Arier«?
Das deutsch-iranische Verhältnis in den 1930er Jahren war gut. Dennoch werden die Beziehungen Reza Schahs mit dem NS-Regime gemeinhin überbewertet. Die angeblichen Sympathien Reza Schahs für das NS-Regime waren der Vorwand für die anglo-sowjetische Invasion in Iran im Spätsommer 1941. Tatsächlich jedoch hatten viele in der Führungsriege unter Reza Schah Sympathien für Frankreich und Großbritannien. Dennoch wurde das Land 1935 unter anderem deshalb in Iran umbenannt, da man – wie das Außenministerium des Landes argumentierte – in einer Zeit, in der sich Mächte in Europa auf »arische« Wurzeln beriefen, diese außenpolitisch hervorheben wollte.
Zog der schiitische Klerus da mit?
Die Reaktionen der Geistlichen in Iran auf das NS-Regimes stehen auf einem anderen Blatt. Schiitischer Tradition folgend, waren vor allem die älteren Mullahs eher unpolitisch. Großayatollah Husain Borudscherdi, der nach dem Krieg »Mardscha-e Taghlid« wurde, kommentierte die Geschehnisse des Krieges mit keinem Wort. Die meisten Geistlichen taten es ihm gleich und zogen sich in ihre Seminare zurück. Einige der jüngeren Mullahs hingegen folgten seinem Beispiel nicht. Khomeini, der angeblich Radio Berlin hörte, stellte sich in seinen ersten Traktaten ganz entschieden gegen die »Maram-e Hitleri« – die Hitler-Ideologie, die er als »giftigstes, ruchlosestes Produkt des menschlichen Geistes« geißelte. Andere jedoch zeigten Sympathien für das NS-Regime, wie etwa der Geistliche Abol-Ghasem Kaschani, der später auch eine bedeutende Rolle während des Coups gegen Mohamed Mossadegh hatte, und den die Briten während des Krieges während seiner deutschfreundlichen Haltung internierten.