Israelische Soldaten dringen mit einem als Krankenwagen getarntes Fahrzeug in ein Flüchtlingscamp im besetzten Westjordanland ein. Ein 25-jähriger Mann und eine 80-jährige Frau werden bei der Razzia erschossen. Experten sehen im Vorgehen der Soldaten eine Verletzung des Völkerrechts.
Im Flüchtlingscamp Balata in Nablus, im Norden des besetzten Westjordanlands, stehen graubraune Wohnhäuser dicht aneinander. Sie sind drei bis vier Stockwerke hoch, haben flache Dächer und schiefe Wände. Auf der Hauptstraße reihen sich kleine Läden aneinander. Supermärkte, Bäckereien, und ein paar Metzger, die Teile von geschlachteten Rindern vor die Tür gehängt haben. An den Wänden kleben Bilder von jungen Männern, teilweise halten sie Gewehre in ihren Händen, die fast so groß sind wie sie selbst.
Märtyrer, so nennen sie die Menschen hier. Bewohner des Camps, die durch das israelische Militär getötet wurden. Viele von ihnen hatten sich bewaffneten Milizen angeschlossen, waren in den Augen der Palästinenser Kämpfer im Widerstand gegen die israelische Besatzung. Für Israel galten sie damit als Terroristen. Bei Razzien des Militärs gegen diese Gruppen sterben immer wieder auch Zivilisten. So auch am 19. Dezember.
An Israeli military force used an ambulance as a cover for a raid in the Balata Refugee Camp.
— B'Tselem בצלם بتسيلم (@btselem) January 14, 2025
Israel is no longer trying to hide its war crimes and is acting as though the norms and rules of international law do not apply. The international community must intervene to stop the… pic.twitter.com/upEmwa0tsU
Es ist früh am Morgen, als eine Spezialeinheit des israelischen Militärs an diesem Tag in das Camp eindringt. Ziel der Operation sei die Festnahme von Terroristen gewesen, heißt es seitens der Armee. Erst das Video einer Überwachungskamera, das drei Wochen später auftaucht, bringt weitere Details ans Licht. Es zeigt, dass eines der Fahrzeuge der Soldaten als Krankenwagen gekennzeichnet war.
In dem Video fährt ein schwarzes Auto mit der Aufschrift »Ambulance« in die Hauptstraße des Camps ein. Dahinter folgt ein weißer Van. Menschen bewegen sich auf der Straße, nehmen keine Notiz von den Fahrzeugen. Plötzlich öffnet sich die Tür des Vans, eine Rauchwolke erscheint, Schüsse fallen. Bewaffnete israelische Einsatzkräfte kommen zum Vorschein. Die Menschen auf der Straße rennen in verschiedene Richtungen, eine Frau mit Kopftuch bricht zusammen.
Dann springen Soldaten in Uniform aus dem vermeintlichen Krankenwagen, schießen ebenfalls. Sie gehören zu der Sondereinheit »Duvdevan«, wie das israelische Militär zenith gegenüber bestätigt. Die Frau am Boden wird erneut getroffen und stirbt. Ob der tödliche Schuss aus dem Van oder dem vermeintlichen Krankenwagen kommt, ist nicht klar zu erkennen. Bei der getöteten Frau handelt es sich um die 80-jährige Halimah Saleh Hassan Abu Leil. Sie war schon früh zum Einkaufen gegangen und hatte sich mit einer Bekannten auf der Straße unterhalten, als die Razzia begann.
Direkt gegenüber betreibt Muhammad Himmo eine kleine Bäckerei für Pitabrot. Er habe gesehen, was an diesem Morgen vor seinem Laden passiert ist. Die Spezialkräfte, teilweise in ziviler Kleidung, seien aus dem weißen Minibus gestiegen, hätten um sich geschossen und die alte Frau getroffen. Auch den schwarzen vermeintlichen Krankenwagen habe er gesehen. Nach den ersten Schüssen konnte er sich neben einem Stapel von Backblechen im Ladeninneren verstecken, erzählt er. Später sei er durch ein Fenster aus dem Gebäude geflohen. Muhammad glaubt, die Schüsse hätten ihn genauso treffen können. Er lebt mit seiner Frau und zwei kleinen Söhnen im Camp. »Jeden Tag verabschiede ich mich von ihnen, als würde ich nicht zurückkommen.« Dass israelische Soldaten in einem vermeintlichen Krankenwagen in das Camp eingedrungen sind, macht ihm Angst. Seinen Kindern erlaube er kaum mehr, das Haus zu verlassen.
Laut der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem stellt der Einsatz des als Krankenwagen getarnten Fahrzeugs eine Verletzung des Völkerrechts dar. Michael Sfard, Anwalt und Berater für B’tselem, sagt, das sogenannte Prinzip der Unterscheidung sei nicht eingehalten worden. Konfliktparteien müssen demnach zwischen Zivilbevölkerung und Kombattanten abgrenzen. Ihnen sei es verboten, sich als medizinisches Personal auszugeben. »Es verletzt das Vertrauen der Menschen in Ärzte, Journalisten oder Hilfsmitarbeiter«, erklärt er. Laut Sfard dürfen Soldaten Waffengewalt bei der Strafverfolgung ausschließlich zur Selbstverteidigung nutzen. Nicht etwa, um Verhaftungen durchzuführen, wenn keine unmittelbare Bedrohung oder Kampfsituation besteht. Dem Video nach zu urteilen, hätten die israelischen Einsatzkräfte wahllos um sich geschossen.
Die israelische Armee teilt auf Anfrage mit, es betrachte die Nutzung des als Krankenwagen gekennzeichneten Fahrzeugs als »schweres Vergehen«. Das Militär schreibt in einer Stellungnahme: »Der Einsatz ziviler und medizinischer Mittel für militärische Zwecke ist verboten und jede Abweichung hiervon spiegelt nicht das Verhalten der IDF wider.« Der Kommandeur der Einheit sei gerügt worden, gegen den Zugführer sei eine Disziplinarverfügung erlassen worden. Der Menschenrechtsorganisation B’tselem reicht das nicht aus. Die internen Untersuchungen der Armee dienten dazu, sich externer Kritik zu entziehen. »Israel versucht nicht einmal mehr, seine Kriegsverbrechen zu verbergen und tut so, als ob die Normen und Regeln des Völkerrechts nicht gelten würden«, heißt es seitens der Organisation.
Bei der Razzia im Balata-Camp wurde neben der 80-jährigen Halimah auch der 25-jährige Qusai Ahmad ‘Issa Sarouji. erschossen. Seine Familie erzählt, er habe auf dem Balkon der Wohnung gestanden, als ein israelischer Scharfschütze im Nachbarhaus ihn ins Visier nahm. »Wenn es heißt, die Armee ist im Camp, wollen alle sehen, was los ist«, sagt sein älterer Bruder Muhammad Sarouji. Qusai habe beim Frühstück gesessen und sei auf den Balkon getreten, um die Straße unten zu überblicken. Muhammad zeigt das Bild seines toten Bruders auf seinem Handy, der Kopf liegt in einer Blutlache.
Qusai sei ein gewöhnlicher junger Mann gewesen, habe keine Verbindungen zu militanten Gruppen gehabt. Er arbeitete als Friseur, wollte heiraten und träumte davon, in die USA zu reisen. Muhammad hält eine Gebetskette in der Hand, schiebt die Perlen schnell hintereinander weg. Auf dem Sofa im Wohnzimmer der Familie liegt nun ein Poster von Qusai. Es ist eine Fotomontage, die ihn auf einem Pferd sitzend vor der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem zeigt. Seine Mutter Jamila sitzt in der Ecke und kann dem Anblick des Fotos kaum standhalten. »Mein Herz ist mit Qusai gegangen«, beklagt sie. »Die Israelis unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und Militanten.« Sein Bruder Muhammad blickt durch die Balkontür nach draußen, wo Qusai erschossen wurde. »Wenn die Menschen selbst in ihren Häusern nicht mehr sicher sind, wo sollen sie dann hingehen?«
Das israelische Militär bestätigt, dass Zivilisten bei Schusswechseln zu Schaden gekommen sind und prüfe die Umstände. Seit dem 7. Oktober 2023 nimmt die Gewalt im Westjordanland zu. Laut dem Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) haben israelische Sicherheitskräfte seitdem 795 Palästinenser getötet, die meisten von ihnen werden als Zivilisten eingestuft. Darunter befinden sich 15 Frauen und 174 Kinder. Die Zahl der Verletzten ist fast zehnmal so hoch.
Auch am 19. Dezember werden mehrere Menschen verletzt. Darunter ein Neffe der getöteten Halimah, Hussein Jamal Abu Leil. Der 25-Jährige sitzt im Haus seiner Schwiegereltern, außerhalb des Camps. Noch immer sind seine Wunden nicht verheilt. Er erzählt, wie Soldaten aus dem weißen Van heraus ihm in den Bauch schossen. Hussein kann kaum laufen, wenn er spricht, stöhnt er hin und wieder leise vor Schmerzen. Nach dem ersten Schuss habe er sich in einen Laden retten können. Er habe fast zwei Stunden mit blutender Wunde ausgeharrt, bis israelische Soldaten zu ihm gekommen seien. Hussein glaubt, sie hielten ihn für einen der Gesuchten. »Terrorist, wo ist deine Waffe?«, hätten sie auf Hebräisch gefragt.
Hussein beschreibt, wie er die Hände gehoben habe, um zu zeigen, dass er nicht bewaffnet war. Dann habe einer der Soldaten zwei weitere Male aus kurzer Distanz mit einer Pistole in seinen Bauch geschossen. Anschließend habe man ihn in ein Fahrzeug gezerrt und in ein Krankenhaus gebracht. Hussein zieht seinen Pullover hoch, eine rote Narbe reicht von seinem Bauchnabel bis zur Brust. Man habe ihm eine Niere und die Milz entfernt. Daneben sind drei rote Punkte zu sehen, wo ihn die Kugeln getroffen haben. »Ich habe gedacht, ich sterbe«, sagt er. Es sei ein Wunder, dass er überlebt habe. Warum die Soldaten ihn angeschossen und dann in ein Krankenhaus gebracht haben, ist Hussein ein Rätsel. »Sie hätten mich sterben lassen können.«
Hussein will sich noch eine Weile ausruhen, hat aber vor, bald wieder zu arbeiten. Ihm gehört ein Supermarkt im Balata-Camp. Dort klebt mittlerweile das Bild seiner toten Tante an den Hauswänden. Auch ein Banner mit dem Foto des 25-jährigen Qusai hängt am Haus seiner Familie. Sie reihen sich ein in die Dutzenden anderen Fotos der Toten aus Balata, die meisten sind schon von der Sonne ausgeblichen.