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Israelische Soldaten, Wehrdienst, Geiseln und der Krieg in Gaza

»Wir schießen auf alles, was sich bewegt«

Feature
Israelische Soldaten und der Krieg in Gaza
Zerstörte Viertel im nördlichen Gazastreifen UNRWA

Mehr als ein Jahr nach dem 7. Oktober ist ein zweiter Geiseldeal in weiter Ferne. Einige israelische Soldaten drohen der politischen Führung mit Kriegsverweigerung. Nicht nur, um Israels Regierung zu einem Kurswechsel zu zwingen, sondern auch wegen des Fehlverhaltens in der Armee.

Wieder einmal hat ein potenzieller Geiseldeal vermeintlich Aufwind bekommen. Noch immer besteht Israel darauf, nicht aus dem Gazastreifen abzuziehen. Im Gegenteil: Alles läuft zurzeit auf eine langfristige militärische Besetzung hinaus. Das Verbot des Palästinenserhilfswerks UNRWA, der Plan der Regierung, die humanitäre Hilfe langfristig gänzlich von den israelischen Streitkräften übernehmen zu lassen, aber auch die erneute Evakuierung des nördlichen Gazastreifens, zeigen, dass Israel wenig Interesse an einer politischen Lösung hat.

 

Vielmehr scheint man derzeit den »Generalsplan« umzusetzen, der von dem ehemaligen Brigadegeneral Giora Eiland aufgestellt wurde und die erneute Vertreibung der Zivilisten aus dem nördlichen Teil Gazas fordert, um anschließend die Hamas systematisch aushungern zu können. Die Aussichten auf einen Deal stehen damit – trotz medialer Aufmerksamkeit – kaum besser als in den vorherigen Monaten.

 

Widerstand dagegen kommt nun von Seiten israelischer Soldaten. Vor wenigen Wochen haben 130 Israelis einen offenen Brief unterschrieben. Dessen Botschaft lautet: Ohne Geiseldeal werden wir nicht länger kämpfen. Bis wann die Soldaten der Regierung noch Zeit lassen wollen, ist unklar. »Bewusst ist der Brief eher vage gehalten, damit sich auch möglichst viele dem Schreiben anschließen können«, sagt einer der Unterzeichnenden gegenüber zenith. »Wir sagen, was viele Israelis wohl für sich selber denken: Dieser Krieg bringt Israel keine Sicherheit und die Geiseln nicht nach Hause.« Dennoch ist Avi Cohen (Name geändert) auch enttäuscht: »Dass sich nicht mehr Soldaten und Reservisten zu dieser Aussage öffentlich bekennen wollen, ist bedenklich.«

 

»An der Front habe ich gesehen, wie diese Rhetorik in das Verhalten der israelischen Armee einfloss«

 

»Netanyahu und seine Regierung haben unser Trauma zur Waffe gemacht«, findet auch Max Kresch. Der 28-Jährige hat mehrere Wochen an der Grenze zum Libanon gedient. Es sind nicht nur politische Kalkulationen, die ihn zum Unterschreiben bewegt haben. »Schon kurz nach dem 7. Oktober sagten mehrere Minister, dass es in Gaza keine unschuldigen Menschen gibt. An der Front habe ich gesehen, wie diese Rhetorik in das Verhalten der israelischen Armee einfloss.« Kresch war nach eigener Aussage froh, nicht nach Gaza entsandt worden zu sein. Doch einfach sei es auch im Norden nicht gewesen: »Jede Nacht hatten wir geheimdienstliche Informationen vorliegen, denen zufolge die Hizbullah mit Konvois über uns stürmen würde. Jede Nacht rechneten wir mit dem Tod.«

 

Israelische Soldaten und der Krieg in Gaza
Der 28-jährige Max Kresch hat mehrere Wochen an der Grenze zum Libanon gedient. Es sind nicht nur politische Kalkulationen, die ihn zum Unterschreiben des offenen Briefs bewegt haben.

 

Zwischen schlaflosen Nächten herrschte die Furcht vor dem Tod. »Einer der Soldaten, der mit mir an der Front war, meinte: ›Wenn wir in den Libanon gehen, sollten wir unschuldiges Leben vergessen. Es gibt keine Unschuldigen – wir schießen auf alles, was sich bewegt.‹« Kresch begann, alles zu hinterfragen: »Ich wusste ganz genau: Ich bin nicht bereit, angesichts solcher Einstellungen in den Libanon zu ziehen.« Wenn auch viele seine Ansicht teilten, eine Invasion im Libanon sei kaum zurechtfertigen – für seine Haltung gegenüber unschuldigen Palästinensern sei er von Kameraden oft geächtet worden. Kresch habe mit sich gekämpft – mehrmals ein Schreiben an seinen Kommandanten aufgesetzt, nicht mehr dienen zu wollen. Versendet hat er den Brief nie, erzählt er.

 

Am 1. September gibt die israelische Armee bekannt, dass sechs Geiseln von der Hamas getötet wurden. Darunter auch der 23-jährige Hersh Goldberg-Polin. Dabei hätten er und weitere zwei Geiseln beim nächsten Deal freigelassen werden sollen. »Für mich hat das alles geändert«, sagt Kresch. »In der israelischen Regierung sitzen Minister, die offen und mit Stolz sagen: ›Ich werde alles tun, um einen Deal zu verhindern.‹ Am Ende müssen wir uns eingestehen: Deshalb wurden unsere Geiseln getötet. In der Woche beschloss ich, nicht mehr zu erscheinen. Deswegen habe ich diesen Brief verfasst und unterschrieben – zusammen mit 130 anderen Reservisten und Soldaten.«

 

Kresch findet: »Der Gesellschaftsvertrag ist gebrochen. Wir haben fleißig und pflichtbewusst gedient, aber wir haben einen Punkt erreicht, an dem wir unseren Dienst nicht länger rechtfertigen können. Wegen der Weigerung der Regierung, unsere Geiseln zurückzubringen, und wegen der völligen  Rücksichtslosigkeit, mit der Israel diesen Krieg führt.«

 

»Als ich in Sde Teiman war, waren die Zustände noch nicht vollständig außer Kontrolle geraten«

 

Zurück zu Avi Cohen. Am 7. Oktober 2023 kommt er grad in Israel an – als er WhatsApp öffnet,  sind die Nachrichten des Massakers allgegenwärtig. Schon früher hatte sich Cohen gegen das Militär gestellt – obwohl er die obligatorischen drei Jahre abdiente, verweigerte er später, als er ins Westjordanland versetzt werden sollte. »Dort haben wir nichts zu suchen«, lautet seine Begründung. »Denn das ist nicht unser Land.« Der 7. Oktober aber habe etwas bei ihm ausgelöst: »Das erste Mal hatte ich das Gefühl, meinem Land wirklich dienen zu müssen – zur Selbstverteidigung.« Cohen wurde in den Süden verlegt, nahe Gaza. An die Front oder in den Gazastreifen selbst jedoch nicht. Cohen ist erleichtert, dass er nie töten musste. Später wurde er in das Haftlager Sde Teiman versetzt. Die wenigen Stunden reichten aus, um einen Einblick in das Gefängnis zu bekommen, das wenige Monate später weltweit in die Schlagzeilen geriet: Denn dort spielten sich Folterszenen ab – die Anschuldigungen reichen von erzwungenem Schlafentzug bis hin zu Vergewaltigung und Totschlag.

 

»Als ich in Sde Teiman war, waren die Zustände noch nicht vollständig außer Kontrolle geraten«, sagt Cohen. »Doch es war ein Vorgeschmack auf das, was kommen würde: Beim Abendessen gratulierten sich manche Soldaten gegenseitig für die Brutalität, mit der sie vorgingen.« Am nächsten Tag habe man ihm geschildert, wie ein Palästinenser zu Tode geschlagen wurde. »Ich war schockiert. Über meine Kameraden, aber auch meine Vorgesetzten, die die Brutalität legitimierten, lobten und unterstützten. Es herrschte eine Art Wettbewerb, wer am grausamsten war.«

 

Cohen und Kresch sind desillusioniert. »Viele Soldaten und Kommandeure haben aktiv die Mechanismen innerhalb der israelischen Armee sabotiert, die mögliche Kriegsverbrechen ahnden soll«, sagt Kresch. Für ihn steht fest: Sollte ein internationales Gericht Premier Benjamin Netanyahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen Genozid anklagen, sollte sich Israel dem stellen. »Ein Land, das sich selbst respektiert und respektiert werden möchte, sollte die Würde besitzen zuzugeben: Das haben wir verbockt.«

 

Wie es nach dem offenen Brief weitergeht? Avi Cohen gibt sich kämpferisch. »Noch haben wir das Momentum auf unserer Seite und finden Gehör – nicht nur in den Medien. Die Anzahl derjenigen, die nicht mehr zum Dienst erscheinen, steigt. Auch wenn sie dies oft nicht öffentlich machen.« Doch der Cohen weiß nur zu gut: Die Stimmung im Land kann von einem Tag auf den anderen kippen. »Mittlerweile gehen wieder deutlich weniger gegen den Krieg auf die Straße. Die Libanon-Invasion hat uns Protestierenden das Genick gebrochen. Wir müssen auf unsere Argumente setzen: Dieser Krieg ist nicht im Interesse von Israels Sicherheit. Wie viele Israelis hatte ich – wenn nicht in die Politiker – dann in das Militär Vertrauen. Sde Teiman hat dieses Vertrauen zerstört.«

Von: 
Pascal Bernhard

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