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Israelischer Historiker Avi Shlaim

Da, wo es weh tut

Portrait
Israelischer Historiker Avi Shlaim

Avraham Shlaim lebte ein Leben voller Wendungen. Zum Ende seiner akademischen Laufbahn wagt sich der irakisch-israelische Historiker noch einmal an ein heißes Eisen.

Ein Junge spielt mit seinen Freunden auf den Straßen des jungen Israel. Sie sind Kinder der Diaspora, doch darüber denken sie im Moment nicht nach. Sie unterhalten sich auf Hebräisch, denn sie sind nun Israelis. Dann kommt der Vater des Jungen – vornehm gekleidet und fremd. Als er seinen Sohn anspricht, tut er das auf Arabisch. Der junge Avi ist beschämt. Denn er setzt alles daran, sich anzupassen. Wie so viele in jener Zeit will er seine arabische Identität verbergen.

 

Mittlerweile ist der Junge 77 Jahre alt und denkt seit geraumer Zeit über den Begriff der Identität nach. »Ursprünglich war ich ein arabischer Jude«, analysiert er rückblickend. In seinem neuen Buch »Three Worlds: Memoirs of an Arab-Jew« (2023, One World Publications) erinnert sich Avi Shlaim, als junges Kind »privilegiert und verwöhnt, glücklich und sorglos« gewesen zu sein. Der Vater ein reicher Kaufmann, die Mutter eine kosmopolitische Frau, die ihre Abende gerne damit zubrachte, Freunde zum Kartenspielen zu treffen und auszugehen.

 

1945 als Jude im Irak geboren, wuchs Shlaim die ersten fünf Jahre seines Lebens in einem Bagdad auf, dessen vielfältige Bevölkerung vergleichsweise friedlich zusammenlebte: »Wir hatten eine Menge muslimischer Freunde. Es war kein Problem, jüdisch zu sein. Juden waren auch nur eine Minderheit unter vielen.« Fast ein Drittel der innerstädtischen Bevölkerung Bagdads war damals noch jüdisch. Als Angehöriger der oberen Mittelschicht erlebte der Junge einen Alltag mit Kindermädchen, Dienstboten und einem Chauffeur.

 

Dabei waren nur wenige Jahre vor Shlaims Geburt 165 irakische Juden den »Farhud«-Pogromen zum Opfer gefallen. Nachdem die Militärregierung des anti-britischen – und mit den Nationalsozialisten sympathisierenden – »Goldenen Quadrats« nach nur einem Monat von den Briten wieder abgesetzt wurde, war ein Machtvakuum entstanden, das die Massenmorde ermöglichte. In der Folge fand auch im Irak der 1940er-Jahre die zionistische Idee immer mehr Zuspruch.

 

Mit der Staatsgründung Israels, der Freigabe der jüdischen Migration nach Israel durch die irakische Regierung und dem Beginn der Bombenanschläge auf jüdische Ziele in Bagdad, entschloss sich die Familie Shlaim 1950, ebenfalls auszuwandern.

 

Shlaim verspürte, so berichtet er in seiner Autobiografie, ein »unbändiges Verlangen nach Zugehörigkeit«

 

Shlaim lebte fortan in einer anderen Welt und seine Kultur, seine Herkunft – bis dahin unhinterfragt –, rückten ins Zentrum seines Interesses. In Israel wuchs er als patriotischer Jugendlicher auf, der seine Wehrpflicht gerne erfüllte und sich stolz als Israeli identifizierte. Shlaim verspürte, so berichtet er in seiner Autobiografie, ein »unbändiges Verlangen nach Zugehörigkeit«.

 

Denn das Israel von Ministerpräsident David Ben-Gurion sollte ein europäisches Land sein. Shlaim genoss Privilegien, von denen andere Juden arabischer Abstammung nur träumen konnten: »Die Familienmitglieder meiner Mutter besaßen britische Pässe. Wir nahmen einen regulären Flug über Zypern, um Israel zu erreichen. Wir hausten nicht in Aufnahmelagern, sondern wohnten in einer Villa meines Onkels.«

 

Dennoch kämpfte der junge mizrachi damit, sich in die fremde Umgebung zu integrieren. Shlaim, so erinnert er sich später, spürte die Absicht der überwiegend aschkenasischen Gründungsväter Israels, alles Arabische als »primitiv« abzutun. Dann entschied seine Mutter, den jungen Avi auf eine jüdische Privatschule in London zu schicken.

 

Später sollte er in Cambridge Geschichte studieren. Ein neuer Aspekt mischte sich seiner Identität bei; als Brite fühlte er sich endlich frei. Und so musste er auch kein Patriot mehr sein. Befreit vom Anpassungszwang, sah er seine Jugend in Israel in einem neuen Licht. 1989 erscheint in der Zeitung Haaretz ein Artikel des Journalisten Shabtei Teveth. Er stellt seinen hebräisch-sprachigen Lesern den damals jungen Historiker Shlaim vor, dessen englisch-sprachige Werke Teveth als »ungenügend recherchiert«, »eingenommen und parteiisch«, vor allem aber »anti-israelisch« kritisiert.

 

Die Forschungen der Gruppenmitglieder hatten einen gemeinsamen Impetus: Die offizielle Geschichtsschreibung Israels grundlegend zu hinterfragen

 

Shlaim befand sich damit in guter Gesellschaft. In Oxford hatte er wenige Jahre zuvor die Dissertation von Ilan Pappé gelesen. Die Schrift zählt zu den ersten Arbeiten der Gruppe der sogenannten Neuen Israelischen Historiker und sollte den noch jungen Shlaim von nun an prägen. Die Forschungen der Gruppenmitglieder hatten einen gemeinsamen Impetus: Die offizielle Geschichtsschreibung Israels grundlegend zu hinterfragen.

 

In den späten 1980er-Jahren begannen sie damit, angeblich überlieferte Fakten in den Arbeiten der »Alten Historiker« durch Archivarbeit auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Um den 40. Jahrestag der Staatsgründung Israels veröffentlichten sowohl Ilan Pappé, Benny Morris als auch Avi Shlaim ihre ersten großen Werke.

 

War Israels Rolle, fragten sie beispielweise, immer die des Opfers und des Verteidigers gegen die arabischen Angriffe? In seinem bekanntesten Werk »The Iron Wall« stellt Shlaim folgerichtig also die israelische »Doktrin der eiserenen Mauer« in Frage – die vermeintliche Pflicht Israels, in Verhandlungssituationen mit arabischen Ländern stets die Rolle der überlegenen Militärmacht einnehmen zu müssen.

 

Die »Alten Historiker« reagierten – wenig überraschend – empört. Zu Shlaims größten Kritikern gehört Efraim Karsh. Der israelisch-britische Historiker und Mitbegründer der Nahost- und Mittelmeerstudien am Londoner King’s College äußert sich nur zu gern zu Avi Shlaim und dessen Mitstreitern: Deren Arbeiten würden »jeden Grundsatz der seriösen Forschung verletzen« und »ein fiktives historisches Bauwerk konstruieren«.

 

Der Versuch, seine Erinnerungen an eine glückliche Kindheit als Jude im Irak mit der plötzlichen Auswanderung in einen logischen Zusammenhang zu stellen

 

Karsh wirft Shlaim sogar vor, Geschichte zu »verfälschen« und zu »recyclen«, etwa wenn dieser eine freundschaftliche Beziehung Jordaniens zur frühen zionistischen Bewegung beschreibt, zusammengehalten durch den gemeinsamen Teilungsplan 1947. Alte und Neue Historiker sprachen sich gegenseitig die Wissenschaftlichkeit ab.

 

Auch in seinem neuesten Buch greift Avi Shlaim ein politisiertes Thema auf und will eine umstrittene These belegen. Shlaim blickt zurück auf seine eigene Geschichte: »Unser komfortabler Lebensstil brach im Zuge einer Veränderung zusammen, die ich als Kind nicht einmal ansatzweise begreifen konnte«, sagt er gegenüber zenith. Seine These: Der zionistische Untergrund soll mitverantwortlich für drei der fünf Bombenanschläge in Bagdad sein.

 

Das Ziel: Die irakischen Juden zur Auswanderung zu bewegen und damit die Bevölkerungsdichte des jungen Staates Israel anzuheben. Der israelische Auslands Geheimdienst Mossad – beziehungsweise dessen Vorläufer – wird bereits seit Jahren der Mittäterschaft beschuldigt. Ergebnisse interner Untersuchungen sollten den Verdacht ausräumen. Nun will Shlaim nach monatelanger Recherche in israelischen Regierungsarchiven einschlägige Belege gefunden haben, die ebendiese Mittäterschaft beweisen sollen. Für Shlaim ist es wohl auch der Versuch, seine Erinnerungen an eine glückliche Kindheit als Jude im Irak mit der plötzlichen Auswanderung in einen logischen Zusammenhang zu stellen.

 

Wenn Avi Shlaim das offizielle israelische Narrativ hinterfragt, wagt er sich auf unsicheres Terrain. Seine Arbeit gilt als subjektiv, werden mitunter bis heute als »einseitig«, zuweilen pro-palästinensisch und anti-zionistisch kritisiert. Er selbst kann sich mit diesen Zuweisungen nicht identifizieren. Heute erklärt Avi Shlaim seinen Studenten: »In jeder Situation im Leben muss man das Beste aus dem machen, was einem zur Verfügung steht.«

Von: 
Judith Braun

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