Direkt zum Inhalt
Home
  • Newsletter
  • Warenkorb
  • Sprachwahl
    • العربية
    • Deutsch
    • English
  • Profil
  • Sprache
    • العربية
    • Deutsch
    • English
  • Startseite
  • Kanäle
    • Magazin
    • Fotopreis
    Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung und der »Israel Summit 2025«
    Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung und der »Israel Summit 2025«

    Felix Klein will doch nicht

    Jordanien und die Muslimbruderschaft
    Jordanien und die Muslimbruderschaft

    Muslimbrüder auf dem Index

    Kurz erklärt: Neue Krise in Kaschmir
    Eskalation zwischen Indien und Pakistan

    Einen Krieg in Südasien kann niemand gebrauchen

    Verhandlungen zwischen Washington und Teheran
    Verhandlungen zwischen Washington und Teheran

    Ein neues Atomabkommen zwischen Iran und den USA?

    Frankreich, Israel und die Anerkennung von Palästina
    Frankreich, Israel und die Anerkennung von Palästina

    Macrons Palästina-Plan

    Der Nahe Osten und Papst Franziskus
    Der Nahe Osten und Papst Franziskus

    Als die Welt Gaza vergaß, rief Franziskus an

    Kanal ansehen
    Aus dem Foto-Wettbewerb »Sport in Libyen«
    Fünfte Runde des zenith Photo Award Libya Uncharted

    Staub, Schweiß und Meersalz

    Aus der Serie »Ramadan in Libyen«
    Vierte Runde des zenith Photo Award Libya Uncharted

    Fastenbrechen auf dem Fischmarkt

    fotopreis2017header2
    zenith Photo Award 2017

    Islam in Europa

    fotopreis2014header.
    zenith-Fotopreis 2014

    Islam in Deutschland (2014)

    fotopreis2013header4
    zenith-Fotopreis 2013

    Muslime in Deutschland (2013)

    fotopreis2011header2
    zenith-Fotopreis 2011

    Islam in Deutschland (2011)

    Kanal ansehen
    Alle Kanäle
    • Magazin
    • Fotopreis
  • Shop
  • suchen
Lesezeit: 20 Minuten
Artikel merken
Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.
Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert. Foto: Adiba Qasim
Jesiden im Irak

Das Versprechen

Feature
von Carsten Stormer
11.06.2017
Gesellschaft

Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.

In den Morgenstunden des 7. Februars steigt Mohammed Khamis, 38 Jahre, Kind libanesischer Flüchtlinge und Rambo-Fan, am Flughafen Tegel mit einem breiten Grinsen in einen Airbus der Lufthansa. Ein rundlicher Mann mit großem Herzen, der seine Baseballkappe niemals absetzt. Ein ehemaliger Kleinkrimineller, der dem alten Leben abgeschworen hat und sich in Berlin ehrenamtlich um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kümmert.

 

An diesem eiskalten Morgen ist er schlimm verkatert. Die Nacht hat er mit Kumpels und drei Litern Bier rumgebracht. Die Aufregung. Der Zielflughafen: Erbil im Nordirak.

 

Eine Freundschaft und ein Versprechen sind die Auslöser für diese Reise. Im Jahr 2012 lernt Mohammed die Frankfurter Jesidin Tamara in Berlin kennen. Das Band, das sie zusammenhält, droht zu zerreißen, als am 3. August 2014 die Milizen des so genannten Islamischen Staates über ihre Glaubensschwestern und -brüder im Nordirak herfallen. »Unentwegt musste ich an sie denken«, erzählt Khamis. Doch den Mut, sie anzurufen, hat er nicht. Zu sehr schämt er sich dafür, dass diese Verbrechen im Namen seiner Religion begangen wurden.

 

 

Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.
Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.Foto: Adiba Qasim

Erst Monate später traut er sich, erneut Kontakt zu seiner Freundin aufzunehmen. Sie lebt mittlerweile in Frankreich, hat geheiratet und erwartet ein Kind. Und sie erzählt ihm vom heiligen Wasser aus der Quelle in Lalisch, dem Vatikan der Jesiden im Nordirak, das sie für die Taufe ihres Kindes benötigt.

 

Tamara darf selbst nicht in den Irak fahren. Sie ist eine Staatenlose, seit 24 ihrer 25 Lebensjahre, eine von Tausenden, die in Deutschland nur geduldet werden, dort zur Schule gegangen sind, arbeiten, Steuern zahlen, sich integriert haben 

Tamara darf selbst nicht in den Irak fahren. Sie ist eine Staatenlose, seit 24 ihrer 25 Lebensjahre, eine von Tausenden, die in Deutschland nur geduldet werden, dort zur Schule gegangen sind, arbeiten, Steuern zahlen, sich integriert haben; in einem Land, das sich nicht zu ihnen bekennen will. Also bietet Mohammed seiner Freundin an, das heilige Wasser zu besorgen.

 

Er hat sich Großes vorgenommen, denn er will mit dieser Reise nicht nur seiner Freundin helfen, sondern ein Zeichen setzen, dass ein Großteil der Muslime nicht hinter dem Islamischen Staat steht. Er weigert sich, Terroristen und Fundamentalisten die Deutungshoheit darüber zu überlassen, was einen Muslim ausmacht. Es nervt ihn, dass Muslimen ständig vorgeworfen wird, sich nicht deutlich genug von den Gräueltaten zu distanzieren, die Terrororganisationen wie der IS im Namen des Islam verüben. »Für mich spielt es keine Rolle, welcher Religion jemand angehört. Tamara ist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, und sie braucht meine Hilfe.«

 

Dieser Freundschaftsdienst ist sein Antrieb. Zudem gibt es noch einen weiteren Grund. Mohammed Khamis hat einen Hang zur großen Geste – und sehnt sich nach Anerkennung. Mit dieser Reise will er seiner Umgebung beweisen, dass er etwas draufhat. Den Redakteuren großer Zeitungen, die seine Texte nicht drucken. Den Lektoren, die seine Bücher nicht verlegen wollen. Den Leuten, die ihn für einen Schwätzer halten. Seinen Kumpels. Mit seinem Buch »Ansichten eines Banditen« und einigen Talkshowauftritten hat er es in seinem Kiez zu lokaler Berühmtheit gebracht. Wenn RTL, Sat-1 oder die Bild-Zeitung Integrationsversager, Drogendealer, Schulhofschläger, Salafisten oder libanesische Bandenmitglieder suchen, klopfen sie bei Khamis an. Der kennt sie alle.

 

Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.
Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.Foto: Adiba Qasim

Ein befreundeter Journalist riet ihm, nicht nur das heilige Wasser zu besorgen, sondern auch das Herzland der Jesiden zu besuchen; die Region um das Sindschar-Gebirge, wo der IS besonders schlimm gewütet hat. Nur wenn er die Massengräber, die zerstörten Dörfer und Städte, die Tunnel und Sprengfallen des IS mit eigenen Augen sehe, könne er tatsächlich begreifen, was damals dort geschehen ist. Ja, denkt Khamis, gute Idee.

 

Noch wirkt alles wie ein großes Abenteuer. Aufregung, Bauchkribbeln, etwa Angst? »Nö«, sagt Khamis, denn das drängendste Problem des Augenblicks sei, dass der blöde Flieger keine Filme zeigt und er deshalb nicht wisse, was er mit den vier Flugstunden von Berlin nach Erbil anfangen soll. Dann ergibt er sich dem Kampf gegen die Langeweile.

 

Siebzig Familienangehörige, Freunde, Schulkameraden, Bekannte, Nachbarn, erzählt Adiba Qasim, seien damals entführt, getötet, verkauft und vergewaltigt worden.

Als er endlich am Flughafen in Erbil steht und zwei Kampfhubschrauber in Richtung der umkämpften Stadt Mosul fliegen sieht, sagt er: »Boah, wie bei Rambo.«

 

Im Hotel trifft er Adiba Qasim, die ihn die kommende Woche begleiten wird. Adiba ist eine zierliche, schöne und meinungsstarke 22-jährige Jesidin, die vor drei Jahren von den Mordgesellen des IS aus ihrer Heimat vertrieben wurde. Monate verbrachte sie als Flüchtling in den Lagern des Nordiraks und der Türkei. Schwestern und Brüder flohen über das Mittelmeer und die Balkanroute nach Deutschland. Ihre Eltern hat sie seit drei Jahren nicht gesehen. Siebzig Familienangehörige, Freunde, Schulkameraden, Bekannte, Nachbarn, erzählt sie, seien damals entführt, getötet, verkauft und vergewaltigt worden.

 

Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.
Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.Foto: Adiba Qasim

Seit zwei Jahren arbeitet Adiba für internationale Journalisten, übersetzt, organisiert, vermittelt Gesprächspartner. Ohne ihre Hilfe käme Mohammed nicht weit. Sie kennt die Gegend und hat die Genehmigungen der kurdischen Autonomiebehörde besorgt, um die unzähligen Checkpoints auf dem Weg nach Sindschar zu passieren, jene Stadt, die zum Symbol für den Massenmord an den Jesiden geworden ist. Seit November 2015 ist Sindschar zwar befreit. Doch der IS kontrolliert noch immer Dörfer und Weiler im wenige Kilometer entfernten Umkreis. Adiba stammt aus dem Nachbarort Khanasor, aus dem sie im August 2014 wenige Minuten vor dem Eintreffen der Milizen des IS entkommen konnte. Sie hat sofort zugesagt, mit Khamis zu arbeiten, als sie hörte, was er für seine Freundin Tamara tun möchte.

 

Am nächsten Morgen geht es los. Vorerst ist der Abstecher in das irakische Krisengebiet, zweihundert Kilometer nördlich von Erbil, nur ein ungeschriebenes Kapitel des Buches, das er nach dieser Reise veröffentlichen möchte. Was erwartet Mohammed Khamis von den kommenden Tagen? Hat er Angst, als Muslim diskriminiert zu werden? Dass ihn die Opfer des IS wegen seines Glaubens in moralische Sippenhaft nehmen? Wie wird er auf das, was im Namen seiner Religion angerichtet wurde, reagieren, auf die Zerstörungen, das Leid, die Flüchtlinge? Mohammed Khamis zuckt mit den Schultern und sagt: »Was mir sehr wichtig ist, ist zu zeigen, dass das, was hier passiert ist, nicht im Namen meiner Religion passiert ist. Ich möchte dem jesidischem Volk sagen, dass die Art meiner Auslegung meiner Religion nicht erlaubt, einen Menschen zu unterdrücken, zu töten, zwangszuverheiraten oder zu vergewaltigen.« Adiba schlägt vor, dass er sich Michael anstatt Mohammed nennen könnte, um sich eventuellen Ärger zu ersparen. »Nein. Ich verleugne mich nicht.« Schließlich sei er hier, um zu verstehen.

 

»Der IS ist mit zwei Wagen in Sinjar einmarschiert«, widerspricht Adiba und streckt Mohammed zwei Finger entgegen. »Nur mit zwei Wagen!« 

Das mit dem Verstehen ist jedoch so eine Sache. Ihm ist bewusst, dass es nach den Massakern des IS nicht einfach werden könnte, die Jesiden davon zu überzeugen, dass der Islam eigentlich nur eines lehrt: Frieden. Mohammed möchte auf der Fahrt nach Sindschar von Adiba wissen, was ihr im Sommer 2014, als der IS den Nordirak überrannte, zugestoßen ist. Die junge Frau holt tief Luft und beginnt zu erzählen. »Am 3. August 2014 habe ich siebzig Familienmitglieder verloren. Wir wissen nicht, was aus ihnen geworden ist, wo sie sind. Vor dem Krieg war ich ein kleines Mädchen, ein Jahr später eine alte Frau. Ich habe viel verloren, aber ich kann nicht hassen.«

 

Mohammed hört zu, nickt und sagt dann: »Das war keine religiöse Sache, was hier passiert ist. Meine Religion erlaubt das nicht. Wo auch immer du hinsiehst, Moslems sind so nicht.«

 

»Ich weiß, Mohammed.«

 

»Verurteilst Du uns?«, fragt er misstrauisch.

 

»Ich sage nicht, dass alle Moslems verantwortlich sind. Die IS-Kämpfer kamen nicht aus Saudi-Arabien. Es waren Iraker. Es waren unsere Nachbarn«, antwortet Adiba.

 

Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.
Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.Foto: Adiba Qasim

Jedes Mal, wenn sie Muslime und den Islam erwähnt, verengen sich Mohammeds Augen, das höfliche Lächeln erstarrt zur Maske.

 

»Das kann ich nicht glauben. Die IS-Typen sind doch Ausländer, sie sind Kinder von Alkoholikern, Kinder ohne Väter, Verlierer. Die denken, dass sie beim IS den großen Larry spielen können«, erklärt er seine Sicht der Dinge.

 

»Der IS ist mit zwei Wagen in Sindschar einmarschiert«, widerspricht Adiba und streckt Mohammed zwei Finger entgegen. »Nur mit zwei Wagen!«

 

Natürlich wisse sie, dass auch Muslime unter dem IS leiden. Gerade erst war sie in einem Flüchtlingslager nahe Mosul. Dort habe sie mit Waisenkindern gesprochen, deren Eltern vom IS getötet wurden. »Ich musste die ganze Zeit weinen«, sagt sie und Tränen steigen ihr in die Augen. Aber sie erzählt auch, wie irakische und türkische Muslime ihr auf ihrer Flucht geholfen haben. »Sie gaben mir zu essen, ließen mich in ihren Häusern schlafen.«

 

An den Flanken des Berges hausen noch immer tausende Flüchtlinge in Zelten. Am Straßenrand stehen ausgebrannte Fahrzeuge und auf dem Asphalt liegen noch immer Kleidungsstücke auf der Flucht ermordeter Jesiden. 

Irgendwann merken beide, dass sie aneinander vorbeireden. Die junge Jesidin, die alles verloren hat; Heimat, Freunde, Familie, Jugend und die in eine ungewisse Zukunft blickt. Und neben ihr Mohammed Khamis, der Großstadtjunge, der Menschen in Gut und Böse sortiert, die Zwischentöne ignoriert und sich durch Adibas Schilderungen persönlich angegriffen fühlt.

 

Es ist nicht leicht, nach Sindschar zu gelangen. Noch immer werden Teile des Nordiraks vom IS beherrscht, obwohl die Terrormiliz militärisch fast besiegt ist. Die befreiten Gebiete sind nur mit Genehmigung der kurdischen Autonomiebehörde zu erreichen. Dutzende Checkpoints, an denen Mohammed seinen Pass vorzeigen muss und skeptische Blicke erntet, wenn die Soldtaten seinen Namen lesen. Es ist eine Fahrt entlang der Schlachtfelder der vergangenen drei Jahre. In weitem Bogen umfährt man die vom IS besetzte Großstadt Mosul, stundenlang geht es über einsame Landstraßen und durch menschenleeres Niemandsland entlang der syrischen Grenze. Verlassene Dörfer, von Bomben zerstörte Häuser, deren Bewohner schon vor langer Zeit geflohen sind; in die Flüchtlingslager der Türkei, in den Irak oder über das Mittelmeer nach Europa. Sieben Stunden dauert die Fahrt von Erbil nach Sindschar, bis sich am Horizont das Massiv eines Tafelberges aus dem Dunst schält. Sindschar, das traditionelle und religiöse Zentrum der Jesiden. Am Fuß des Berges liegt die gleichnamige Stadt.

 

Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.
Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.Foto: Adiba Qasim

Als der Wagen die Serpentinenstraße hinunterrollt, blickt Mohammed Khamis fassungslos aus dem Fenster. An den Flanken des Berges hausen noch immer tausende Flüchtlinge in Zelten. Am Straßenrand stehen ausgebrannte Fahrzeuge, und auf dem Asphalt liegen noch immer Kleidungsstücke auf der Flucht ermordeter Jesiden. »Das sieht aus wie eine Hollywood Kulisse hier. Anders kann man das gar nicht sagen.« Er bittet den Fahrer anzuhalten, steigt aus und macht Fotos von Fahrzeugwracks. Die Erkenntnis, dass hier im August 2014 mehr als fünftausend Jesiden innerhalb weniger Tage vom IS abgeschlachtet, vergewaltigt und entführt wurden, sickert ins Bewusstsein. Adiba Qasim zeigt auf einige Dörfer am Horizont. »Dort ist Daesh«, sagt sie, und wenn sie den arabischen Namen für den IS verwendet, hört es sich an, als würde sie ausspucken. Zu frisch sind die Erinnerungen an die Tage, als sie nicht wusste, ob sie überleben würde. Der letzte Anschlag des IS liegt zwei Monate zurück. Als der Wagen in die Stadt hineinfährt, beginnt Mohammed Khamis nervös seine Hände zu kneten.

 

Und regt sich trotzdem auf, als er erfährt, dass es in Sindschar keinen Internetempfang gibt. »Kein Netz? Das halte ich nicht aus«, sagt er. Fünf Tage nicht online sein? Auf gar keinen Fall. »Ich bin internetsüchtig«, gibt er zu. Kurz darauf der nächste Schock. In der Peshmerga-Kaserne kommt der Strom aus Generatoren, und dies nur ein paar Stunden am Tag. Die Toilette ist ein schmutziges Loch im Boden. Aus der Dusche kommt eiskaltes Wasser. Geschlafen wird auf dem Boden. Und als er erfährt, dass die ehemalige Schule einst als Hauptquartier des IS genutzt wurde, muss er sich vor lauter Schreck erstmal setzen. »Ich soll dort schlafen, wo IS-Kämpfer geschlafen haben? Das kann ich nicht. Das ist entweihter Boden.« Muss er aber.

 

Auf dem Boden liegen ranzige Matratzen, Frauengewänder und Damenbinden. »Daesh hat Sexsklavinnen hier gehalten«, erklärt Oberst Alaa und zeigt auf einen Haufen Einwegspritzen mit Flagyl, ein Medikament gegen vaginale Entzündungen. 

Immerhin, es gibt dann doch Internet. Das besänftigt ein bisschen. Am Abend geraten der Deutsche und die Jesidin erneut aneinander. Mohammed erklärt seine Interpretation des Begriffs »Namus«, ein zentraler Wert in orientalischen Gesellschaften. Er bedeutet so viel wie: Achtung, Ehre, Würde. Mohammed stellt die These in den Raum, dass der IS den geschändeten jesidischen Frauen ihre Ehre, ihr Namus, genommen habe. Adiba runzelt die Stirn und widerspricht vehement. »Nein, die Frauen haben nicht ihre Ehre verloren.« Ehrlos seien nur die Täter: Der IS, Muslime. Und die kurdischen Soldaten, die vor den anrückenden Horden des IS geflohen sind und die Jesiden schutzlos zurückgelassen haben. Sie erklärt dem Deutschen, dass hunderte jesidische Frauen wieder mit ihren Familien zusammengeführt wurden, nachdem sie vom IS befreit worden waren. Dass von IS-Kämpfern gezeugte Kinder nicht verstoßen werden. Dass die jesidische Gesellschaft verstanden hat, den Opfern nicht weiteres Unrecht zuzufügen. »Hmm«, mault Mohammed trotzig. »Ich glaube trotzdem, dass den Frauen die Ehre genommen wurde. Deswegen möchte ich mit einer Jesidin darüber sprechen.«

 

Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.
Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.Foto: Adiba Qasim

»Hammed, du redest mit einer Jesidin«, antwortet Adiba resigniert.

 

Stimmt auch wieder. Anschließend starren beide schweigend die rotglühenden Heizstäbe des kleinen Zimmerofens an, der gegen die Kälte anbollert. Als dem Generator kurz vor Mitternacht der Diesel ausgeht und das Licht erlischt, glaubt Khamis, dass der IS angreift. Die Nähe zur Front, die skeptischen Blicke, wenn er seinen Namen nennt, das ungewohnte, entbehrungsreiche und unbequeme Frontleben – es ist sehr viel, was in sehr kurzer Zeit auf ihn einprasselt. Nach einer Nacht, in der Mohammed Khamis viel gefroren und große Ängste ausgestanden hat, trifft er Oberst Alaa Ahmed. Der Peshmerga-Kommandeur, 36 Jahre alt, trägt Schnurrbart, eine gebügelte Uniform und begrüßt den Besucher aus Deutschland mit einem festen Händedruck. Er will ihm seine Heimatstadt zeigen. Das, was von ihr übrig ist.

 

In einem Truppentransporter fahren sie durch die Geisterstadt. Links und rechts von Luftschlägen und Autobomben zerstörte Häuser. Autowracks, Schuttberge. »Das sieht aus wie bei Black Hawk Down«, sagt Khamis und blickt fasziniert auf die Trümmerlandschaft, die einst eine Stadt mit 40.000 Einwohnern war. Dann stupst er Adiba mit dem Ellenbogen in die Seite und sagt: »Auch wenn alles in Schutt und Asche gelegt ist, sieht es doch wunderschön aus. Wie Kunst. Wie internationale Kunst.«

 

»Nein, schön war Sindschar früher«, antwortet Adiba kurz angebunden und verdreht die Augen.

 

»Ja klar, ich weiß, was Du meinst, aber sieh es Dir aus meiner Perspektive an«, murmelt Hammed und beginnt zu fotografieren.

 

Vor einem zerstörten Straßenzug im Zentrum hält der Wagen. Oberst Alaa führt Mohammed und Adiba durch den Eingang eines verfallenen Hauses und bleibt vor einem Loch im Boden stehen. Es ist der Eingang zum Tunnelsystem, das die Terrormiliz unter die Stadt getrieben hat. »Keine Sorge, wir haben die meisten Gänge von Sprengfallen gesäubert«, sagt er und knipst eine Taschenlampe an. Mehr als vierzig Tunnel haben er und seine Leute nach der Befreiung Sindschars gefunden. So konnten sich die Kämpfer des IS ungesehen und sicher vor Luftangriffen in der Stadt bewegen Dann steigt er in den dunklen Schacht hinab. Mohammed und Adiba folgen ihm.

 

Es ist stickig hier unten, die abgestandene Luft macht das Atmen schwer. Mohammed hustet. Staub und Steine rieseln von der Decke, als die drei gebückt durch den Tunnel gehen. Im Lichtkegel der Taschenlampen entfalten sich die Überbleibsel eines Lebens im Untergrund: Konservenbüchsen, Töpfe mit Joghurt und Honig, Korane, ein Gebetsteppich. Auf dem Boden liegen ranzige Matratzen, Frauengewänder und Damenbinden. »Daesh hat Sexsklavinnen hier gehalten«, erklärt Oberst Alaa und zeigt auf einen Haufen Einwegspritzen mit Flagyl, ein Medikament gegen vaginale Entzündungen. Jeder Schritt durch diesen Tunnel ist ein Beweis und stumme Anklage zugleich: im Namen des Islam.

 

Da friert Alaa plötzlich in seiner Bewegung ein. Vor ihm am Boden hat er einen Benzinkanister entdeckt, aus dem rote Drähte ragen. Eine Sprengfalle des IS. 

Zwanzig Minuten später klettern sie auf der anderen Straßenseite wieder aus dem Tunnel ans Tageslicht. Adiba schüttelt Staub aus ihren blonden Locken, Oberst Alaa klopft seine Uniform ab. Mohammed hustet und entdeckt an einer Hauswand ein Graffito, auf dem steht: Der Islamische Staat wird bleiben, so Gott will. »Das scheint ja nicht geklappt zu haben«, sagt Mohammed und kichert.

 

Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.
Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.Foto: Adiba Qasim

Da es Freitag ist, bittet er Oberst Alaa, ihn zu einer Moschee zu führen. Es sei ihm ein großes Bedürfnis, für die Opfer des Genozids beten. »Religionen sind da, um gut zu sein, aber nicht um zu töten oder jemanden zu unterdrücken oder seiner Freiheit zu berauben oder zu vergewaltigen. Dafür ist keine Religion da. Schon gar nicht meine.« Alaa Ahmed nickt anerkennend und führt Mohammed in die zerstörte Altstadt von Sindschar. Auf dem Weg zur Moschee fragt der Oberst, ob Mohammed einen toten IS-Kämpfer sehen möchte. Klar, warum nicht. Im Eingang eines Hauses liegt der halbverweste, halb mumifizierte Körper eines Mannes. Der Wind weht Verwesungsgeruch heran. »Ein Verräter«, sagt der Oberst und muss würgen, als er zu nahe an den Kadaver herantritt. »Wir haben ihn getötet«, sagt er gleichmütig. Seine Leiche werde zur Abschreckung liegengelassen und nicht beerdigt. Der Tote war ein Bewohner Sindschars, der sich dem IS angeschlossen und mitgeholfen hatte, seine jesidischen Nachbarn zu ermorden. »So einen wollen wir nicht in unserer Erde haben.« Auf die Frage, ob ein Zusammenleben mit Arabern wieder möglich sei, schüttelt der Oberst den Kopf.

 

Dann gelangen sie an eine halb zerfallene Moschee. Im Schutt findet Mohammed einen zerschlissenen Gebetsteppich, breitet ihn auf dem Boden aus und kniet sich zum Gebet nieder, während der Oberst das Gebäude inspiziert. Unter der Gebetskanzel findet er einen Stapel Korane und trägt sie in den Wagen. Die heiligen Bücher sollen nicht im Dreck liegen, sagt er. Gerührt bedankt sich Khamis für diese noble Geste. Da friert Alaa plötzlich in seiner Bewegung ein. Vor ihm am Boden hat er einen Benzinkanister entdeckt, aus dem rote Drähte ragen. Eine Sprengfalle des IS. »Krass!«, sagt Mohammed und schießt Fotos mit seinem Smartphone, während der Oberst einen Sprengmeister in die Moschee beordert. Eigentlich, sagt Alaa Ahmed entschuldigend, sollte die Stadt längst von Minen und Sprengfallen gesäubert sein.

 

Den restlichen Nachmittag schlendern sie gemeinsam durch die Altstadt von Sindschar. In einer Ruine findet der Oberst ein weißes Gebetskäppi, klopft es vom Staub frei und überreicht es Khamis als Souvenir. »Das schenke ich meinem Vater«, sagt der Berliner stolz und drückt das Käppi wie eine Trophäe an sich. »Der weiß gar nicht, dass ich hier bin.« Zum Abschied lädt der Kommandeur zum Tee in seine Stube und dankt wortreich, dass Mohammed einer Glaubensschwester helfen möchte.

 

Die Kommandeurin eines jesidischen Frauen-Bataillons erzählt ihm, wie sie Menschen vor Kälte sterben sah, wie der IS jesidische Kinder enthauptete und bricht in Tränen aus. »Jeder Mensch, der einem Jesiden hilft, dem danken wir«.

Als Mohammed das Büro des Kommandeurs verlässt, sieht er, wie ein Peshmerga die Korane aus der Moschee in einem Lagerfeuer verbrennt. Mohammed möge die Bücherverbrennung bitte nicht falsch verstehen, sagt der Kämpfer. Aber Mohammeds Antwort: »Ich hätte das auch gemacht, damit die Korane nicht noch dreckiger werden. Das löst sich einfach in Asche auf. Ich bin sehr dankbar«, sagt er und schüttelt dem verdutzten Mann die Hand.

 

Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.
Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.Foto: Adiba Qasim

Abends chattet er mit seinen Freunden in Berlin, sendet Sprach- und Textnachrichten mit Emojis und der Fotoausbeute des Tages. Dann ruft plötzlich Tamara an.

 

Mohammed erzählt ihr von dem Toten, dem Tunnel und der Sprengfalle, von den Menschen, die ihm begegnet sind. »Ich fühle mich sehr leer. Ich denke an die Menschen, die hier ihr Leben lassen mussten. Das geht mir gerade durch den Kopf. Haben die Menschen sich gewehrt, hatten die überhaupt ne Chance? Das ist unmenschlich, was hier passiert ist.« Es hat sich Vieles angestaut und das muss jetzt raus. Tamara hört zu und beginnt zu weinen. »Danke für alles, was du für mich tust, Mohammed«, sagt sie leise und legt dann auf.

 

An den folgenden Tagen will Mohammed möglichst viel Stoff für seinen Blog und das neue Buch sammeln. Auf der Ladeflache eines Pritschenwagens fährt er an einen Frontabschnitt, um kurdische Kämpfer zu besuchen. Wind und Regen peitschen ihm ins Gesicht. Ein Erdwall ist die Schnittstelle zwischen Kalifat und Kurdistan. Er sagt freundlich guten Tag, dann ballert ein gelangweilter Kämpfer zu Mohammeds großer Freude mit seinem Maschinengewehr auf eine Stellung des IS.

 

Wenig später trifft Mohammed in einem der wenigen unzerstörten Häuser eine Flüchtlingsfamilie, die nicht weiß, wie sie die kommenden Wochen überstehen soll und sich endlich Frieden wünscht. Er besucht ein Massengrab, aus dem die von der Sonne ausgebleichten Knochen und Totenschädel ermordeter jesidischer Frauen ragen und muss schon nach wenigen Minuten wieder verschwinden, weil einer seiner kurdischen Leibwächter IS-Kämpfer entdeckt hat, die nur ein paar hundert Meter entfernt sind. Und zwischendurch immer mal ein Selfie. Er sinnt über den Titel nach, den er seinem Blog geben könnte. »Durchs wilde Kurdistan hört sich gut an. Aber der ist ja leider schon vergeben.«

 

Die Nachricht, dass ein deutscher Muslim tausende Kilometer an die Grenzen des Kalifats gereist ist, um seiner jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen, hat sich herumgesprochen. Überall begegnen ihm die Menschen voller Offenheit, Gastfreundschaft, Respekt und Dankbarkeit. Die Kommandeurin eines jesidischen Frauen-Bataillons erzählt ihm, wie sie Menschen vor Kälte sterben sah, wie der IS jesidische Kinder enthauptete und bricht in Tränen aus. »Jeder Mensch, der einem Jesiden hilft, dem danken wir«, gibt sie Mohammed zum Abschied mit auf dem Weg. Ein Jesiden-General lädt ihn zu einer Flasche Whiskey ein. Auch Adiba ist gerührt von Mohammeds Mission. »Trotzdem glaube ich nicht, dass Hammed wirklich begriffen hat, was hier geschehen ist. Das ist der Knackpunkt in Mohammeds Mission.

 

Da ist sie wieder, die allgegenwärtige Anklage: Im Namen des Islam. Und deshalb verlangt Adiba von Mohammed, dass er sich verdammt noch mal anhört, was da im Radio läuft. 

Nach fünf Tagen im Kriegsgebiet machen sie sich auf die Rückreise. Das nächste Etappenziel: Die heilige Quelle von Lalisch. Während der Fahrt scrollt Mohammed auf seinem Smartphone durch die Fotos, die er unterwegs gemacht hat und die er später auf Facebook und seinem Blog veröffentlichen will. Er ist zufrieden mit sich und seiner Mission. Bis der Fahrer das Radio anschaltet.

 

Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.
Ein Berliner Muslim reist in die ehemaligen IS-Gebiete im Nordirak, um einer jesidischen Freundin ihren größten Wunsch zu erfüllen und um ein Zeichen gegen religiösen Hass zu setzen. Beinahe wäre er an sich selbst gescheitert.Foto: Adiba Qasim

Dort diskutieren an diesem kalten und regnerischen Februarnachmittag ein Islamgelehrter und ein jesidischer Prediger darüber, wie es zu dem Massenmord an den irakischen Jesiden kommen konnte. Die Männer suchen nach Belegen für die Aussagen des Propheten, zitieren Koranstellen und erörtern Hadithe, jene Überlieferungen Mohammeds, mit denen die Terrormilz ihre Taten rechtfertigt. Dass es gottgefällig sei, gefangene Frauen als Sklavinnen zu benutzen und zu verkaufen. Denn der Endsieg des Islam sei nah, »wenn das Sklavenmädchen seinem Gebieter gebiert.« In der Logik des Islamischen Staates sei es schon Gotteslästerung, diese Schilderungen zu leugnen oder anzuzweifeln. Und da die Jesiden einen gefallenen Engel in der Gestalt eines Pfaus anbeten, seien sie Teufelsanbeter, die man nicht nur versklaven dürfe, sondern auch töten müsse. Sure 2, Vers 191: »Und erschlagt die Ungläubigen, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wannen sie euch vertrieben; denn Verführung zum Unglauben ist schlimmer als Totschlag.«

 

Da ist sie wieder, die allgegenwärtige Anklage: Im Namen des Islam. Deshalb verlangt Adiba von Mohammed, dass er sich verdammt noch mal anhört, was da im Radio läuft. »Damit du verstehst, was uns angetan wurde.«

 

»Nein! Nein! Das höre ich mir nicht an. Und du kannst mich dazu nicht zwingen«, faucht Khamis. »Das waren keine Muslime, die euch umgebracht haben. Das waren schlechte Menschen. Das hat nichts mit mir zu tun und hör auf, meine Religion mit Schmutz zu bewerfen.«

 

»Du hast nichts verstanden, Hammed«, schreit Adiba. »Du bist ein Aufschneider und Lügner. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.«

 

»Ich steige aus, wenn du das nicht ausstellst, Adiba. Ich will das nicht hören«, sagt Mohammed mit kaum unterdrücktem Zorn, blickt aus dem Fenster, an dem die braune Einöde Kurdistans vorbeizieht und sieht ein, dass es keine schlaue Idee ist, an der syrischen Grenze auszusteigen.

 

Dann bezichtigt Mohammed die junge Jesidin, sie wolle ihn zwingen, seiner Religion abzuschwören, und dass dies ebenso schlimm sei, wie das, was der sogenannte Islamische Staat ihrem Volk angetan habe. Adiba sieht den Deutschen fassungslos an. »Hammed, das ist im Namen deiner Religion geschehen. Dies ist unsere Realität, mit der wir jeden Tag leben müssen. Du hast gesagt, du willst verstehen. Dann versuche es zumindest.«

 


Am nächsten Morgen erreichen sie die Pilgerstätte Lalisch. Mohammed, noch immer bockig, redet kein Wort mit Adiba, die nur den Kopf schüttelt. Ein mürrischer jesidischer Geistlicher füllt Wasser aus der heiligen Quelle in drei Plastikflaschen und weiht auch einige Gebetsketten, die Mohammed unterwegs gekauft hat.

 

Mohammed murmelt noch beleidigt, dass Adiba eine Islamhasserin sei und dass er den Rest der Reise auch alleine klarkomme. Er fordert Dankbarkeit ein, dass er ein Zeichen gegen den Hass setzen möchte. Adiba wirft ihm vor, dass er nicht fähig sei, seine in Deutschland vorgefertigte Meinung der Realität anzupassen und dass er nur aus Eigennutz in den Irak gekommen sei. Am Ende des Streits dreht Adiba das Radio lauter, Mohammed setzt wütend seine Kopfhörer auf, hört Nothing Else Matters von Metallica und fühlt sich unverstanden. Danach herrscht eisiges Schweigen.

 

Am nächsten Morgen erreichen sie die Pilgerstätte Lalisch. Mohammed, noch immer bockig, redet kein Wort mit Adiba, die nur den Kopf schüttelt. Ein mürrischer jesidischer Geistlicher füllt Wasser aus der heiligen Quelle in drei Plastikflaschen und weiht einige Gebetsketten, die Mohammed unterwegs gekauft hat. Geschenke für Tamaras Familie. Mohammed möchte das Heiligtum schnellstmöglich verlassen. »Ich will nur noch nach Hause«, sagt er. Beim Abschied in Erbil reicht er Adiba trotzdem die Hand, bedankt sich für ihre Hilfe und presst eine Entschuldigung hervor. Adiba, so sagt er später, sei auch nur eine Gefangene ihrer Erlebnisse. Eine traumatisierte Frau. Kein Wunder, dass sie auf den Islam nicht gut zu sprechen sei. Aber jetzt sei er froh, den Irak zu verlassen. »Seit dem Streit habe ich mich nicht mehr sicher gefühlt«, sagt er. Warum? Einfach so.

 

Und somit endet das irakische Abenteuer mit dem unguten Gefühl, dass etwas schiefgegangen ist. Hat sich die Reise gelohnt? Khamis überlegt, kaut auf seiner Unterlippe. »Ich glaube schon. Ich habe das Wasser. Das ist das Wichtigste.« Jetzt muss er die kostbaren Flaschen nur noch bei Tamara abliefern, um sein Versprechen zu halten. Von Erbil fliegt er zurück nach Berlin und drei Tage später weiter nach Paris. Von dort geht es mit dem Mietwagen in die französische Kleinstadt Troyes, in der Tamara seit zwei Jahren mit ihrem Ehemann und ihrer elf Monate alten Tochter Liana lebt. Erst mit dem Abstand einiger Tage, auf einer französischen Autobahn, ist es ihm möglich, die Woche im Irak zu reflektieren.

 

Vielleicht habe er Adiba Unrecht getan, hätte mehr Verständnis zeigen müssen. »Ich war überfordert. Es kam mir vor, als würde sie meine Absichten in Frage stellen.« Er sei gekommen, um einen interreligiösen Dialog zu schaffen, aber »ich wollte mich nicht zwingen lassen, über den Islam zu reden. In dieser Situation hat mein Verstand ausgesetzt.« Er wünschte, er hätte damals im Auto anders reagiert. Heute würde er sich dem Gespräch stellen. Nicht als Muslim, sondern als Mensch, und schiebt die Erklärung hinterher, dass ein Muslim, der seine Religion anprangere, dem Islam abschwört. »Meine Religion ist das Heiligste in meinem Leben.«

 

Als Tamara die Wohnungstür öffnet und Mohammed erblickt, fällt sie ihm um den Hals und drückt ihn innig. »Ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast«, flüstert sie in sein Ohr und wischt eine Träne weg. Tamaras Vater, der zu Besuch ist, nimmt Mohammed in den Arm und sagt, dass er von nun an zur Familie gehöre. Minutenlang dreht und wendet sie die Wasserflaschen, drückt sie an sich, als wären sie ein Goldschatz. »Man kann sich gar nicht vorstellen, was das für mich bedeutet. Wir stehen ewig in deiner Schuld. Du hast bewiesen, dass es Menschlichkeit und Freundschaft auf dieser Welt noch gibt«, sagt Tamara, dann tröpfelt sie ein paar Tropfen auf das Haupt ihrer Tochter Liana. Anschließend grillen sie gemeinsam, trinken Wodka, stoßen an auf eingelöste Versprechen und interreligiöse Freundschaften, denn nur so, prosten sie sich zu, ließe sich der Hass in der Welt bewältigen. Den ganzen Abend steht der Ehrengast im Mittelpunkt des Geschehens, zeigt Fotos und erzählt von seinen Abenteuern im Irak.

 

Mohammed Khamis hat sein Versprechen eingelöst und fühlt sich endlich wieder gut.

 

By: 
Carsten Stormer
Irak
Jesiden
Whatsapp

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Jetzt informieren

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Jetzt anmelden

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.

Jetzt bestellen

Verwandte Artikel

Kulturerbe und Wiederaufbau in Mosul
Kulturerbe und Wiederaufbau in Mosul

Das ist unser Haus

von Inna Rudolf
Iranisch-kurdische Milizen im Irak
Iranisch-kurdische Milizen im Irak

Wo wir sind, ist oben

von Karin A. Wenger
Der Irak, der Golf und das Meer
Der Irak, der Golf und das Meer

Basra, meine Perle

von Alannah Travers
Regierungsbildung und politische Gewalt im Irak
Regierungsbildung im Irak

Hat sich Muqtada Al-Sadr verzockt?

von Inna Rudolf

Deneme Bonusu Veren Siteler
Deneme Bonusu
Casino Siteleri
deneme bonusu
deneme bonusu
evden eve nakliyat
istanbul depolama
uluslararası evden eve nakliyat
istanbul evden eve nakliyat
istanbul ofis taşıma
deneme bonusu
deneme bonusu veren siteler
deneme bonusu veren siteler
deneme bonusu veren siteler
evden eve nakliyat istanbul
ev eşyası depolama
uluslararası ev taşıma
  • Home
  • Kanäle
  • Über uns
  • Jobs
  • kultur
  • politik
  • wirtschaft
  • Innovation
  • reise
  • gesellschaft
  • Shop
  • zenith-Club
  • Bücher
  • Einzelausgaben
  • Newsletter
  • Presse
  • Kontakt
  • Faq

   

/a>

Sehr geehrtes Club-Mitglied, wir arbeiten derzeit an einem neuen zenith-Shop. Bis es soweit ist, können Sie ihr Nutzerprofil leider nicht direkt bearbeiten. Bitte senden Sie eine Email an shop@zenith.me und wir nehmen die gewünschte Änderung gerne für Sie vor.

© 2023 CANDID Foundation gGmbH

  • Datenschutzerklärung
  • Impressum
  • Netikette
  • Nutzungsbedingungen

Entwickelt von UTEEK

Liebe Kundin, lieber Kunde, aus technischen Gründen sind Bestellungen über den zenith-Shop im Moment nicht möglich. Wenn Sie ein Einzelheft auf Rechnung kaufen wollen, etwa die aktuelle Ausgabe, senden Sie bitte eine Email mit Name und Adresse an shop@zenith.me und unser Kundenservice wird sich bei Ihnen melden.

Verstanden