Hinter Kritik an Israel kann sich Judenhass verbergen. Es geht aber auch umgekehrt. Diese Unterscheidung ist wichtig, wenn man dem Problem ernsthaft begegnen will.
Antisemitismus als Geisteshaltung, Schmähung von Juden in der Öffentlichkeit und sogar antisemitisch motivierte Gewalt zählen seit Monaten zu den beherrschenden Themen in Deutschland. Dabei stießen Fälle, bei denen arabische oder muslimische Migranten als Täter identifiziert wurden, auf besonders großes öffentliches Interesse. So verfestigt sich der Eindruck, dass eine antisemitische Grundeinstellung unter Muslimen in Deutschland weiter verbreitet sei als bei anderen Bevölkerungsgruppen. Zumindest suggeriert das die aktuelle Diskussion.
Die Echo-Affäre mit Rappern, die sich über Auschwitz-Insassen ausließen, verbrannte Fahnen mit Davidsternen auf einer Demo in Berlin, ein israelischer Araber, der mit einer Kippa auf dem Kopf im Berliner Prenzlauer Berg ein Sozialexperiment durchführen wollte und in Streit mit einem 19-jährigen Syrer geriet, der dann auf ihn mit seinem Gürtel einprügelte. Gemobbte jüdische Kinder an deutschen Hauptschulen und sogar Gymnasien. Die Liste dieser Vorfälle erweckt den Eindruck, dass es einen Trend antisemitischer Übergriffe durch Muslime gebe. An die üblichen Hakenkreuz-Schmierereien und Attacken aus dem rechtsextremen Lager hat man sich unterdessen wohl gewöhnt.
Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass viele Mitglieder jüdischer Gemeinden in Deutschland in Unruhe oder sogar Panik sind. Das bezeugen sowohl sporadische Aussagen wie auch einige Studien, die, auch wenn sie methodische Makel haben, eine sehr weitverbreitete Meinung unter Juden dokumentieren: Muslime stellen für sie eine – zusätzliche – und beachtliche Gefahr dar.
Der Zentralrat der Juden warnte bereits früh davor, dass von muslimischen Migranten Gefahr für das Judentum in Deutschland ausgehen könnte, als sich die Ausmaße der Flüchtlingswelle im Sommer 2015 abzeichneten. Erst kürzlich haben prominente Vertreter jüdischer und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen auf das Problem hingewiesen und dabei auch betont, dass man dies nicht mit etwaigem anti-muslimischen Rassismus oder Diskriminierungen aufwiegen dürfe.
Es wird diskutiert, ob muslimische Ausländer, die des Antisemitismus’ überführt sind, ihr Bleiberecht verlieren sollten. Sogar die rechtsradikale AfD, deren Mitglieder und Ortsverbände nicht selten durch antisemitische Äußerungen auffallen, empfiehlt sich als Verbündete der Juden gegen die Muslime. Die ehemalige AfD-Politikerin Frauke Petry nannte die Partei sogar einmal »einer der wenigen politischen Garanten jüdischen Lebens auch in Zeiten illegaler antisemitischer Migration nach Deutschland«.
Was viele Menschen in Deutschland – nicht nur Juden – zu schockieren scheint, ist die offene und vorbehaltlose Sprache, derer sich die »muslimischen Täter« zu bedienen scheinen. Antisemitische Ressentiments mögen in Deutschland wie auch in anderen europäischen Gesellschaften weit verbreitet sein. Aber man äußert sie doch eher hinter vorgehaltener Hand und kleidet sie in eine andere Sprache. Die meisten antisemitisch eingestellten Deutschen würden es auch abstreiten, wenn man sie mit diesem Vorwurf konfrontiert. Bei den Vorfällen, in die Muslime auf die eine oder andere Art verwickelt waren, scheinen sich letztere keiner Schuld bewusst. Sie scheinen auch keinerlei gesellschaftliche Ächtung zu fürchten – was sie wiederum zum Gegenstand medialer Empörung und heftiger Reaktionen macht. Unabhängig davon, ob sie Gewalt verübt oder »nur« judenfeindliche Äußerungen getätigt haben.
Sind nun muslimische Antisemiten schlimmer als nichtmuslimische? Und ist Antisemitismus unter Muslimen weiter verbreitet als unter »normalen« Deutschen?
Bevor man statistisch argumentiert oder gar vom »Gefühl« her, sollte man die Definition von Antisemitismus hinterfragen – und schließlich dessen Qualität. Über beides sind sich, wie könnte es anders sein, die Experten nicht einig. Die, in der deutschen Politik – wie auch der vielen anderen Länder – verbreitete Definition ist das Resultat diffiziler Verhandlungen, auf internationalen Ebene, mit jüdischen Organisationen und Verbänden, die sich zum Teil um eine möglichst breite Definition bemühten und dabei auch die politischen Positionen der israelischen Regierung abbildeten. Der Antisemitismus-Begriff sollte daher auch bestimmte negative und ablehnende Haltungen zum jüdischen Staat Israel einbeziehen.
Politisch mag dieses Ansinnen nachvollziehbar sein. Und es ist unstrittig, dass manche Menschen in Deutschland ihre anti-jüdischen Ressentiments in verbale Angriffe auf Israel oder die zionistische Bewegung kleiden. Sie finden damit gewissermaßen einen Umweg für ihren Antisemitismus. Aus analytischem Blickwinkel und, um das Problem wirksam anzugehen, ist es allerdings von Bedeutung, zu differenzieren.
Wenn es aber einen Unterschied macht, ob jemand aus einem antijüdischen Ressentiment heraus Kritik am Staat Israel übt und sich dafür – unter Umständen zu Recht – mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert sieht: Muss man dann nicht auch den Hintergrund beleuchten, wenn und ob sich jemand aus einer israelkritischen Haltung heraus antisemitisch oder antijüdisch äußert?
Dieses bei manchen arabischstämmigen Muslimen zu beobachtende Phänomen ist quasi das Gegenstück zu dem, was man gemeinhin »israelbezogenen Antisemitismus« nennt. Hier haben wir also nicht mit einem Antisemitismus zu tun, der sich als Israelkritik tarnt, sondern einer Anti-Israel-Haltung, die sich anti-jüdisch äußert.
In der deutschen Debatte führt das natürlich zu Problemen: Denn während die Grundhaltung des Antisemitismus als unverbesserlich abzulehnen ist, gäbe es für die anti-israelische Grundeinstellung vieler arabischstämmiger Muslime ja durchaus nachvollziehbare Gründe. Und dies trotz des Umstands, dass etwaige judenfeindliche Äußerungen und Handlungen zu verurteilen sind.
Das bedeutet im Übrigen nicht, dass es unter Muslimen oder Arabern keine Feindseligkeit gegen Juden gäbe, die nichts mit der Existenz des jüdischen Staats und seinem Konflikt mit den Palästinensern zu tun hat und daher dem historischen, europäischen Antisemitismus ähnelt. (Sie ist besonders – aber nicht nur – unter Islamisten anzutreffen).
Der Nahostkonflikt lässt Emotionen hochschlagen, die von vielen Seiten auch geschürt werden. Und die Auseinandersetzung geht beinahe immer mit gefährlichem Un- oder Halbwissen einher.
Doch es ist eine Tatsache, dass die Einstellung zu Juden bei arabischen oder muslimischen Migranten auch in Deutschland mit einer politischen Kritik Israels oder sogar einer pauschalen Verurteilung von Israelis wegen des Konflikts um Palästina verbunden ist. Da stellt sich die Frage, ob die beobachteten negativen Einstellungen zu Juden als anti-jüdisch oder als anti-israelisch bewertet werden sollten. Diese Unterscheidung hilft womöglich bei der Klärung der Frage, weshalb sich manche arabischstämmige Muslime so ohne Rücksicht auf das, was die deutsche Mehrheitsgesellschaft als politisch korrekt und akzeptabel ansieht, deutlich anti-israelisch oder auch anti-jüdisch äußern. Sie sind sich keiner Schuld bewusst, fühlen sich moralisch im Recht und auf Seiten der Schwachen.
Der Nahostkonflikt lässt Emotionen hochschlagen, die von vielen Seiten auch geschürt werden. Und die Auseinandersetzung geht beinahe immer mit gefährlichem Un- oder Halbwissen einher. Im Weltbild vieler arabischstämmiger Muslime sind Juden und jüdische Organisationen Unterstützer Israels in einem ungelösten und daher von Gewalt geprägten Territorialkonflikt. In diesem Zusammenhang wendet sich die Rhetorik gegen alle Juden – auch wegen einer in der arabischen Welt weit verbreiteten und propagierten Begriffsverwechslung yahudi/israili/sahyuni (Jude, Israeli, Zionist).
Da sich Muslime und Araber nun mit einem Generalverdacht des Antisemitismus konfrontiert sehen, zum Schluss noch eine gute und eine schlechte Nachricht: Bei einem erwachsenen »Volksdeutschen«, der heute noch Antisemit ist, scheint jede Liebesmüh vergebens – nach Jahrzehnten der Aufarbeitung und politischen Erziehung. Der historisch tief verwurzelte Antisemitismus in Deutschland, der sich gelegentlich in Israelkritik äußert, würde sich neue Umwege suchen. Selbst wenn der Nahostkonflikt gelöst wäre oder Israel nicht existierte. Womöglich stehen die Chancen aber besser, dass man der anti-jüdischen Grundhaltung mancher arabischstämmigen Muslime wirkungsvoll begegnen kann: Indem man Dialoge anstrebt, aufklärt, differenziert und nicht mit erhobenem Zeigefinger pauschal ausgrenzt.
David Ranan, geboren 1946 in Tel Aviv, ist Politik- und Kulturwissenschaftler, Publizist und Autor des Buches »Muslimischer Antisemitismus. Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland?«, das 2018 erschien.