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Sektarismus, Staatszerfall und Sicherheit im Libanon

Am Ende gewinnen die Parteien

Kommentar
80 Millionen Libanesen
In Tripoli zieren die Konterfeis verehrter Politiker die Plakate. Foto: Daniel Gerlach

Ist trotz der konfessionsübergreifenden Verachtung für die politische Elite der Sektarismus wieder auf dem Vormarsch im Libanon?

Es ist Nachmittag an diesem 1. August, wenige Tage, bevor die Libanesen der noch immer nicht restlos aufgeklärten Explosion am Hafen ein Jahr zuvor gedenken, und zwei Wochen bevor dem Land Strom und Benzin ausgehen und ein Treibstofflager im Norden Libanons in die Luft geht.

 

An diesem Augustnachmittag geraten Anhänger verschiedener Religionsgemeinschaften in Khalde, südlich von Beirut aneinander, schnell machen Videos der Zusammenstöße in den sozialen Medien die Runde. Während das Land auf den Kollaps zusteuert, stehen vor allem die schiitischen Anhänger der Hizbullah zunehmend im Konflikt mit Nicht-Schiiten – oft Sunniten und Drusen, die südlich und südostlich der Hauptstadt leben. Ist trotz der konfessionsübergreifenden Verachtung für die politische Elite also der Sektarismus wieder auf dem Vormarsch im Libanon?

 

Auf den ersten Blick hatten die Zusammenstöße bei Khalde Anfang August wenig mit der politischen oder gar religiösen Großwetterlage zu tun – Auslöser war ein Mord auf einer Hochzeit am Tag zuvor. Das Opfer: Ali Shibli, ein Mitglied der Hizbullah. Das Motiv war offenbar persönlicher Natur, sagt aber doch einiges über die politischen Zustände im Libanon aus – und das Potenzial sektaristischer Konfrontation auf lokaler Ebene.

 

Denn Shiblis Mörder wollte wohl Rache nehmen für den Tod seines Bruders nehmen. Der 14-jährige Hassan Ghosn war vor fast einem Jahr erschossen worden – damals war wohl ein Streit um Hizbullah-Plakate anlässlich des Aschura-Festes eskaliert. Der sunnitische Ghosn-Clan macht die Hizbullah für den Tod des Jungen verantwortlich und identifizierte Ali Shibli als Schützen – auf ein strafrechtliches Verfahren warteten die Hinterbliebenen aber vergebens.

 

In der südlichen Bekaa-Ebene stellen sich vor allem Drusen gegen die Hizbullah

 

Im Zuge Trauerfeierlichkeiten für Ali Shibli gerieten Hizbullah-Anhänger und Ghosn-Clan dann erneut aneinander, nachdem die Angehörigen auf der Prozessionsstrecke durch die Gassen von Khalde ein Plakat des im letzten Jahr getöteten Jungen aufgehängt hatten.

 

Warum die Zusammenstöße stundenlang andauerten, ist noch nicht abschließend geklärt, aber Videos in den sozialen Medien zeigen, wie Hizbullah-Anhänger ihren Konvoi vor dem Plakat anhielten und es herunterrissen – kurz brachen Gefechte zwischen beiden Seiten aus.

 

Auch in anderen Landesteilen nehmen Spannungen häufen sich die Auseinandersetzungen mit den Anhängern der »Partei Gottes«. So etwa im Bezirk Hasbaya, nahe der Grenze zu Israel. Wenige Tage nach den Zusammenstößen in Khalde flogen aus dem Dorf Shwaya Raketen Richtung Süden – die Hizbullah übernahm dafür die Verantwortung. Zugleich aber verhinderten Dorfbewohner weiteres Raketenfeuer, als sie einen Truck mit mobiler Abschussrampe konfiszierten.

 

Hier, in der südlichen Bekaa-Ebene, stellen sich vor allem Drusen gegen die Hizbullah. Sie werfen ihr zudem vor, drusische Obstverkäufer von ihren Verkaufsstellen entlang der Schnellstraße im Süden zu verdrängen – auch hier nehmen die lokalen Auseinandersetzungen immer häufiger einen sektaristischen Charakter an und auch hier sehen sich die Opfer der Hizbullah vom Staat im Stich gelassen.

 

Angesichts von Straflosigkeit und fehlender Rechenschaft nehmen immer Menschen im Libanon das Recht selbst in die Hand

 

Egal, ob sie nun einem Clan angehören oder nicht: Angesichts von Straflosigkeit und fehlender Rechenschaft nehmen immer Menschen im Libanon das Recht selbst in die Hand. Dazu haben die ohnehin wenig präsenten staatlichen Institutionen den Betrieb im Zuge des stetigen Kollaps nahezu eingestellt.

 

Im Fall von Shwaya kommt hinzu, dass die Hizbullah einerseits kaum Ressourcen für die lokale Infrastruktur der Gemeinden aufwendet, zugleich aber eigenhändig beschließt, die Ortschaften und mithin das gesamte Land in eine mögliche Konfrontation mit Israel zu führen. So war es nur eine Frage der Zeit, bis die Dorfbewohner versuchen würden, die Hizbullah daran zu hindern, weitere Raketen abzufeuern, insbesondere da der libanesischen Armee im Umgang mit der »Partei Gottes« die Hände gebunden sind.

 

Angesichts dieses Sicherheitsvakuums ergreifen immer mehr Gemeinden im Libanon Selbstschutzmaßnahmen. In einigen Dörfern und Städten wechseln sich Männer in Schichten ab, um ihr jeweiliges Gebiet vor Raub und Diebstahl zu »bewachen« – das ist die neue Norm im Libanon.

 

Das sektaristische Narrativ, von dem die Mehrheit der regierenden Parteien im Libanon zehrt

 

Die im Zuge der Oktoberproteste seit 2019 so verfemtem Parteien gehören in dieser Gemengelage infolge des Staatszerfalls aber insgesamt zu den Gewinnern, schließlich verfügen sie über die größte Erfahrung darin, diese Selbstverteidigung zu organisieren. Sie verpassen nun nicht die Gelegenheit, die Menschen daran zu erinnern, dass die politische Zugehörigkeit sie letztendlich »vor den anderen« schützt – es ist dasselbe sektaristische Narrativ, von dem die Mehrheit der regierenden Parteien im Libanon zehrt und es dementsprechend kultiviert.

 

Wenn Angst die Menschen treibt, entscheiden sie sich letztendlich für Sicherheit, unabhängig davon, wer für dieses Angstgefühl verantwortlich ist. Eben das macht die sektaristischen Spannungen im Libanon so speziell: Die Menschen sind sich durchaus bewusst, wie sehr der Sektarismus dem Land im Laufe der Jahre geschadet hat.

 

Ein 15-jähriger Bürgerkrieg, ständige Zusammenstöße zwischen Anhängern verschiedener Religionsgemeinschaften sowie eine Reihe von Regierungen, die es geschafft haben, den Libanon in eine endlose Wirtschaftskrise zu stürzen. Trotz der dezentralisierten Proteste im Jahr 2019 und der Bemühungen der Zivilgesellschaft, neue politische Bewegungen und Parteien zu gründen, entfalten sektaristischen Spannungen im Libanon immer noch ihre Wirkung.

Von: 
Luna Safwan

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