Sieben Porträts von Persönlichkeiten, die neben Mahsa Jina Amini das kollektive Gedächtnis der Proteste prägen: Menschen, die für die Freiheit in Iran kämpfen, und Menschen, die dabei ihr Leben verloren.
Am 17. September wurde in der kurdischen Kleinstadt Saqqez Mahsa Jina Amini beerdigt. Noch während der Trauerzeremonie nahmen Frauen ihre Kopftücher ab und schrien »Jin, Jiyan, Azadi« (deutsch: Frauen, Leben, Freiheit), eine Parole der kurdischen Frauenbewegung. Seitdem verbreiten sich die Proteste und der Slogan, meistens in persischer Übersetzung, im ganzen Land. Aminis brutaler Tod wurde zum Sinnbild für die Frauenfeindlichkeit des iranischen Regimes.
Auch andere Frauen und Jugendliche, die während der Proteste getötet wurden, sind wie Amini posthum zu Ikonen des Widerstands und zu Symbolen für die Gewalt des Regimes geworden. Eine dieser jungen Frauen ist die 20-jährige Hadis Najafi aus Karaj. Wie Amini gehörte auch sie als Azeri einer ethnischen Minderheit an. Warum ausgerechnet Hadis Najafi so bekannt wurde, ist wahrscheinlich einer Verwechslung geschuldet. Am 21. September ging ein Video viral: Eine junge Frau mit blonden Haaren bindet sich einen Zopf und begibt sich ins Zentrum der Proteste. Ihr Gesicht erkennt man nicht, sie wird von hinten gefilmt. Am gleichen Abend wurde Hadis Najafi mit sechs Schüssen getötet.
In den nächsten Tagen berichteten viele Medien und Aktivisten, dass es sich bei der Frau im Video um die getötete Hadis handele. Später tauchte allerdings ein anderes Video auf, in dem die blonde Frau sich erneut die Haare zusammenbindet und erklärt, dass sie nicht Hadis ist, aber für alle Hadis und Mahsas weiterkämpfen werde.
Die tatsächliche Hadis Najafi sagte in ihrem letzten Video: »Ich möchte in ein paar Jahren froh sein, dass ich bei den Protesten mitgemacht habe und sich alles verändert hat.«
Die 16-jährige Nika Shakarami aus Teheran war seit dem 20. September verschwunden. Ein Video zeigt, wie sie auf einer Mülltonne stehend ihr Kopftuch verbrennt. In ihrer letzten Nachricht erzählte Nika, dass Sicherheitskräfte sie gerade verfolgten. Erst zehn Tage später erhielt die Familie die Nachricht vom Tod der Tochter.
Schnell machte Nikas Schicksal in den sozialen Medien die Runde. Ein Video, in dem sie lebensfroh vor einer kleinen Gruppe singt und lacht, wurde besonders häufig geteilt. Auf den Straßen Irans ist die Erinnerung an sie ebenfalls populär, so zum Beispiel durch Graffitis und Sprechchöre. Zuletzt hängten Unbekannte sogar ein Banner zu ihrem Gedenken an einer Autobahnbrücke auf.
Die iranischen Staatsmedien haben aufgrund der öffentlichen Wut und Empörung versucht, eine alternative Erzählung zu verbreiten – ähnlich wie bei Mahsa Jina Amini und Hadis Najafi. Sie behaupten, Nika sei von einem Haus gestürzt und erst am nächsten Morgen entdeckt worden. In einem Bericht des Staatssenders IRIB 2 traten auch Tante und Onkel auf, die Inszenierung erinnerte jedoch an die berüchtigten »Etterafat-e ejbari« (deutsch: Zwangsgeständnisse).
Der Journalist Farzad Seifikaran vom persischsprachigen Exilmedium Radio Zamaneh machte auf eine Vielzahl von Ungereimtheiten in der offiziellen Darstellung aufmerksam. Zudem beschuldigt Nikas Mutter das Regime, ihre Tochter getötet zu haben. Bei Radio Farda berichtete sie, dass Nikas Torso, Arme und Beine unverletzt waren. Ihr Schädel, ihre Nase und einige Knochen im Gesicht seien hingegen gebrochen worden.
Die Kletterin Elnaz Rekabi tat etwas Revolutionäres. Bei den Asienmeisterschaften im koreanischen Seoul trat sie ohne Kopftuch an. Am Ende verpasste sie mit dem vierten Platz zwar knapp die Medaillenränge, doch ihr mutiger Schritt sorgte für Begeisterung und große Anerkennung weltweit. Inzwischen ist die 33-Jährige wieder in Iran, einen Tag früher als geplant. Berichten zufolge wurde sie bereits in Seoul in die iranische Botschaft gebracht und befindet sich jetzt in Haft.
Am Tag der Ankunft in Iran teilte sie auf Instagram kaum überraschend eine öffentliche Entschuldigung. Schon seit Jahren werden prominente Persönlichkeiten immer wieder dazu genötigt, wenn sie rote Linien überschreiten. Nicht wenige fordern jetzt auch vom »Team Melli«, der Fußballnationalmannschaft, bei der Weltmeisterschaft in Katar nächsten Monat klare Statements der Solidarität mit den Protesten.
Der Sänger und Songwriter Shervin Hajipour (25) erlangte vor drei Jahren, damals noch als Shervin Hajaghapour, als Kandidat beim iranischen Äquivalent zu »The Voice« Bekanntheit. Zur Ikone wurde er durch sein Lied »Baraye« (deutsch: wegen, für). Die Entstehungsgeschichte des Songs ist besonders bemerkenswert: In den Tagen zuvor hatten Zehntausende unter dem Hashtag Mahsa Amini ihre Tweets mit »Baraye« begonnen und erzählt, weswegen sie so frustriert über die Islamische Republik sind und auf die Straße gehen.
Shervin Hajipour suchte einige Statemens aus und machte daraus einen Song, den er am 27. September auf Instagram teilte. Millionen zeigten sich zutiefst berührt. Innerhalb eines Tages hatte das Video 40 Millionen Aufrufe und 1,6 Millionen Likes – trotz eingeschränkten Internetzugangs in Iran. Inzwischen gibt es auch einige Übersetzungen ins Englische und Deutsche.
Der Sänger selbst verschwand am Tag nach der Veröffentlichung, ebenso war das Video auf seinem Profil nicht mehr zu finden. Über mehrere Tage hinweg gab es keine Neuigkeiten, bis Hajipour schließlich am 4. Oktober aus der Haft entlassen und unter Hausarrest gestellt wurde. Fünf Tage später meldete er sich dann auch selbst mit einem Video bei Instagram.
»Baraye« ist in der Zwischenzeit zur Hymne geworden, ob bei den Solidaritätskundgebungen weltweit oder im Land selbst. Auf Twitter und Instagram finden sich zahlreiche Videos, in denen vor allem iranische Schülerinnen das Lied singen, bei vielen anderen Videos wird es als Hintergrundmusik genutzt. Auch in Geschäften wird der Song häufig gespielt. Eine junge Sprayerin hat den Songtext sogar auf verschiedene Haus- und andere öffentliche Wände verteilt, je ein »baraye« pro Wand. Außerdem hat Hajipour gute Chancen, einen Grammy zu gewinnen. In der neu eingeführten Spezialkategorie »Bester Song für sozialen Wandel« können Musikfans Vorschläge einreichen – »Baraye« erhielt 95.000 der bisher 115.000 Stimmen.
Das Beispiel Shervin Hajipour zeigt aber auch, wie gefährlich es ist, sich zu äußern. Gerade deshalb spielen Medien, Prominente und Aktivisten im Ausland eine wichtige Rolle, indem sie einerseits durch ihre Reichweite informieren und mobilisieren, andererseits auch im Westen Aufmerksamkeit erzeugen können. Die Proteste haben keine zentrale Struktur und politische Führung, doch einige iranische Persönlichkeiten verfügen über breite gesellschaftliche Unterstützung.
Eine davon ist Ali Karimi. Er dürfte einigen Fußballfans in Deutschland noch bekannt sein. Asiens Fußballer des Jahres 2004 spielte nämlich zwei Jahre – wenn auch wenig erfolgreich – für den FC Bayern und später eine Halbserie lang beim FC Schalke 04. In seiner Heimat ist der ehemalige Nationalmannschaftskapitän ein Star und auch deshalb so populär, weil er die konservative Elite seiner Heimat immer wieder deutlich kritisiert. Im Januar 2021 kandidierte er für den Vorsitz des Fußballverbands – als Außenseiter mit mächtigen Feinden war er allerdings chancenlos.
Nach dem Tod von Mahsa Jina Amini informierte Karimi seine über 13 Millionen Follower auf Instagram über so genannte VPNs, Programme, die den Interzugang auch bei gedrosseltem Internet ermöglichen, und darüber, wie die Privatsphäre online am besten zu schützen ist. Außerdem rief er die Armee auf, kein Blut zu vergießen. Viele Iraner hoffen, dass die Armee als »nationale« Institution im Gegensatz zur Revolutionsgarde die Bevölkerung – und nicht die Islamische Republik – beschützt.
Regime-Medien bezeichneten ihn umgehend als »Aufrührer« und »Vaterlandsverräter« – allen voran Fars News, eine den Revolutionsgarden nahestehende Nachrichtenagentur, die bereits häufiger die Verhaftung Karimis forderte. Daraufhin reagierten Iraner allerdings mit einer Welle der Solidarität. Unter dem Hashtag »Wir unterstützen Ali Karimi« posteten mehr als eine Million Benutzer Bilder des ehemaligen Nationalmannschaftskapitäns. Da der sich momentan in den Vereinigten Arabischen Emiraten aufhält, können die Sicherheitskräfte ihn nicht verhaften. Dafür beschlagnahmten sie Karimis Haus in Teheran.
Als die Revolutionsgarde am 8. Januar 2020 Die Maschine PS752 der Ukraine International Airlines abschoss, starben alle 176 Insassen. Der iranisch-kanadische Zahnarzt und Autor Hamed Esmaeilion verlor dabei seine Frau Parisa und die gemeinsame 9-jährige Tochter Reera.
Er gründete und leitet den Verein der Hinterbliebenen, »PS752 Justice«, der sich für die lückenlose Aufklärung, Gerichtsverfahren gegen die Verantwortlichen und die Erinnerung an die Opfer einsetzt. Esmaeilion ist so beliebt, da er trotz seines Verlusts sehr würdevoll, entschlossen und mit klarer Haltung für diese Ziele kämpft. Im Rahmen dessen traf er den Generalstaatsanwalt der Ukraine und sagte mehrmals vor dem kanadischen Parlament aus.
Es ist auch auf Esmaeilions Arbeit zurückzuführen, dass die kanadische Regierung ankündigte, mehr als 10.000 Mitglieder der Revolutionsgarde zu sanktionieren. Am 1. Oktober organisierte er mit lokalen Partnern weltweit über 160 Solidaritätskundgebungen. In Toronto, wo Esmaeilion selbst sprach, kamen über 50.000 Menschen. Für den 22. Oktober hat er alle Iraner in Europa aufgerufen, nach Berlin zu kommen. In vielen Städten wurden bereits gemeinsame Fahrten organisiert.
Auch in Shervin Hajipours »Baraye« sind Hamed Esmaeilion und seine Tochter Reera zu sehen. Im Original-Tweet schrieb ein User: »Für die Sehnsucht nach der Wiederholung dieses Augenblicks, die ihr dem Herzen eines Vaters aufgelegt habt.« Der Filmemacher Babak Payami drehte einen sehr persönlichen Film über Esmaeilion und seine Arbeit.
Masih Alinejad startete ihre journalistische Karriere in Iran, wo sie auch als Parlamentsreporterin arbeitete. Seit 2009 lebt sie im Exil in den USA. Fünf Jahre später startete sie die »Meine heimliche Freiheit«-Kampagne, bei der iranische Frauen Bilder ohne Kopftuch teilten, und 2018 »Weiße Mittwoche«, an denen Iranerinnen mit einem weißen Kopftuch aus dem Haus gingen und dieses oft demonstrativ ablegten. Die Videos der Kampagne wurden millionenfach angesehen.
Ein Kritikpunkt ist, dass es aus dem Exil heraus einfach sei, Frauen vor Ort aufzufordern, solche Risiken einzugehen. Allerdings zahlt auch Alinejad für ihren Aktivismus einen Preis. Laut US-amerikanischen Behörden versuchten iranische Agenten mehrmals, die Aktivistin zu töten oder wie den Journalisten Ruhollah Zam zu entführen, um sie anschließend vermutlich ebenfalls hinzurichten. Ihr Bruder Alireza sitzt eine langjährige Haftstrafe ab, da er sie nicht in die Türkei locken wollte und sich auch nicht öffentlich gegen sie aussprach.
Kurz nach Beginn der Proteste veröffentlichte der New Yorker ein Porträt über Alinejad. Dabei wird sie so zitiert: »Ich führe diese Bewegung an.« Diese Aussage löste bei vielen Unmut aus – in Iran und im Ausland. Alinejad behauptet allerdings, falsch zitiert worden zu sein, sie habe lediglich die verschiedenen Kampagnen initiiert.
Seit Jahren propagiert die Aktivistin, dass die Kopftuchpflicht das Fundament des Regimes sei. Mit diesem Fokus auf das Kopftuch polarisiert sie, auch, weil sie sich für harte Sanktionen einsetzt. Dass in diesen Wochen so viele Iranerinnen mit offenem Haar in die Öffentlichkeit gehen, ist aber auch der Vorarbeit ihrer Kampagnen wie »Weiße Mittwoche« zu verdanken – und damit vor allem den mutigen Iranerinnen vor Ort, die die Videos gedreht haben.