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Qal’eh Karshahi, die Burg der Räuber in Iran

Das Geheimnis der Räuberburg

Essay
Die Festung Qal’eh Karshahi
Die Festung Qal’eh Karshahi heute. Foto: Daniel Gerlach

Über das abenteuerliche Leben eines Gangsters, den demokratischen Umbruch in Iran und was sich aus beiden lernen lässt.

Vor nicht allzu langer Zeit streifte ich mit einem iranischen Freund entlang der großen Salzwüste Dascht-e Kavir, südöstlich von Kaschan in der Provinz Isfahan. An einer alten Karawanenstraße zwischen Sanddünen und Gebirge erhob sich vor uns die Ruine einer weitläufigen Lehmziegelburg. Völlig verlassen und verfallen, aber immer noch gewaltig, lud sie zur Erkundung ein.

 

»Burg der Räuber«, war die einzige sachdienliche Auskunft, die wir unserem ortskundigen Fahrer entlocken konnten. Erst später stellte sich heraus: Wir waren zufällig an der Festung Qal’eh Karshahi vorbeigekommen. Zurück in Teheran wunderte ich mich, dass selbst die kulturhistorisch Interessierten unter meinen iranischen Bekannten noch nie von ihr gehört hatten. Dabei erzählt sie eine erstaunliche und überaus politische Geschichte: die des größten, wenngleich leider fast vergessenen Wegelagerers des Landes.

 

»Muss das denn sein?«, wird mancher in Teheran an diesem Tag gedacht haben – womöglich auch Nayeb Hossein-e Kashi selbst. Mit 97 Jahren wurde er im September 1919 auf dem Richtplatz (Meydan-e Edam) der Hauptstadt gehängt. Wo der Nayeb einen Großteil seiner Schätze vergraben hatte, sollte die Staatsmacht nie erfahren. Selbst Folter hatte den zähen Sturkopf nicht zum Reden gebracht.

 

Hossein und sein Bruder Mohammad Hashem waren die Nachfahren eines Loren aus dem Stamm der Biranvand, der sich in Kaschan niedergelassen hatte. Beide übten den Beruf des Färbers aus; ihre Freizeit verbrachten sie mit Kraftsport und gelegentlichen Schlägereien. Eines Tages im Jahr 1871 wurde Hashem im Basar wohl Zeuge, wie zwei Diener des mächtigen Prinzen Masoud Mirza – damals Gouverneur von Isfahan – einen Jungen sexuell belästigten. Hashem sah sich veranlasst, mindestens einem dieser Männer, vielleicht auch beiden, die Fresse zu polieren (Im Persischen hätte er es wohl poetischer ausgedrückt, etwa »den Vater aus ihm heraus geprügelt«, aber das Resultat war nun wirklich identisch).

 

Von einem Angriff auf die Staatsmacht war sofort die Rede; Hashem wurde noch in der Nacht verhaftet, verurteilt und erhängt. Mit diesem Justizskandal begannen die Abenteuer seines Bruders Hossein, der das Kadscharenreich erschüttern würde und Kunde von dessen Taten London, Moskau und Berlin erreichen sollte. Die Mutter des Schahs, selbst eine Person von athletischer Gestalt, wurde erotisch durch den Fall berührt. Fachleute für die Demobilisierung von Milizen mussten aus Schweden eingeflogen werden. Hätte es den UN-Sicherheitsrat seinerzeit gegeben, Hosseins Akte wäre dort verhandelt worden. Was nun also nach Hashems Hinrichtung geschah, ist daher nichts für schwache Nerven. Weshalb Empfindsame jetzt nicht weiterlesen sollten.

 

Malek Jahan schätzte Hosseins Qualitäten; auch sie konnte robust austeilen

 

Nachdem Hossein vom Schicksal seines Bruders erfuhr, war er gewillt, die Stadt in Schutt und Asche zu legen. Über die Söhne und Töchter von Kaschan wird oft behauptet, dass sie nicht besonders mutig seien. Aber vergessen wir nicht, dass die Brüder Nachfahren von Loren waren, mit denen man es sich besser nicht verscherzt. Hossein verschanzte sich in einem Turm und schoss buchstäblich um sich. Bis er schließlich aufgab und als Gefangener nach Teheran geschafft wurde.

 

Im Kerker des jungen Schahs Nasreddin machte er bald von sich reden: vor allem wegen seiner Muskeln, denn die Athleten, die Pahlavanan, genossen großes Ansehen. Hinzu kam, dass Hossein offenbar sehr gut vortragen und erzählen konnte: Gedichte über seine eigenen und anderer Leute Heldentaten. Es heißt, dass keine geringere als die Königinmutter Malek Jahan Khanoum – auch genannt die »erhabene Wiege« – an ihm Gefallen fand. Malek Jahan schätzte Hosseins Qualitäten; auch sie konnte robust austeilen. Auf höfischen Portraits zeigt sie sich ehrgebietend grimmig, breitbeinig und in weißen Tennissocken.

 

Malek Jahan Khanoum
Malek Jahan Khanoum.Foto: Antoin Sevruguin

 

 

Hossein stand bis zu ihrem Tod 1873 im Dienst der Malek Jahan und kehrte dann nach Kaschan zurück. Er zeugte im Laufe der Zeit zwölf Kinder, wovon einer, Maschallah Khan, sich als besonders klug und ehrgeizig hervortun sollte. Um seine Familie scharte sich bald eine Bande. Es waren unruhige Zeiten Ende des 19. Jahrhunderts in Iran. Das Organisierte Verbrechen florierte. In jener Zeit verschwand die berühmte Kaschan-Mihrab – eine prächtige mongolenzeitliche Gebetsnische, die heute die Sammlung des Berliner Museums für Islamische Kunst ziert.

 

Angesichts dieser Entwicklung griff die Innere Sicherheit auf einen alten Trick zurück: Diejenigen, die plündern und gelegentlich die Karawanen überfallen, wurden zu Hilfssheriffs ernannt. Man verlieh ihnen die Kontrolle über das, was sie sich eh genommen hätten. Vermutlich stammt aus dieser Zeit der Titel »Nayeb – Stellvertreter«, den Hossein angeblich von den Behörden erhielt. Seine Desperados wurden »Nayebian« genannt.

 

Nun sollte ausgerechnet eine der interessantesten und ereignisreichsten Phasen der jüngeren iranischen Zeit beginnen. Proteste, die sogenannte Tabakrevolte, erschütterten das Land. Der Schah hatte zu einem lausigen Preis das Monopol auf Tabakhandel an die Briten verkauft. Der Basar tat sich mit mächtigen Klerikern zusammen und lief Sturm. Die städtischen Iraner hörten aus Protest mit dem Rauchen auf. Der Aufruf zum »Dschihad« der Protestnichtraucher kam nach dem Freitagsgebet am 25. Dezember 1891. Ein kadscharenzeitlicher Friday for Future gewissermaßen.

 

Das Aufbegehren mündete in einer Konstitutionellen Revolution. Die städtischen Iraner, die das Geschehen in Europa und im Osmanischen Reich, vor allem aber in Russland aufmerksam verfolgten, erhoben sich gegen Korruption und Feudalismus. Die Lage war schließlich nicht viel anders als im Zarenreich der Romanows: Wer Geld und Kontakte bei Hof hatte, durfte sich alles herausnehmen und Leibeigene halten. Die Massenproteste, die zum Petersburger Blutsonntag und der Revolution von 1905 führten, schwappten auch auf Persien über.

 

Wenig später brach der Erste Weltkrieg aus und Iran geriet ins Kreuzfeuer der Mächte

 

Die Konstitutionelle Bewegung konnte sich für eine Weile durchsetzen: Gegen die Restaurationsversuche der Kadscharen und vor allem gegen die Einmischungen von Briten und Russen, die diese Phase der Instabilität für ihre Interessen nutzen wollten. Die Konstitutionalisten versuchten, den bankrotten Staat aus der Schuldenfalle zu befreien – mithilfe eines US-amerikanischen Finanzexperten namens Morgan Shuster, der 1911 aus New York eintraf. Aus Schweden wiederum berief man Militärexperten zum Aufbau einer Gendarmerie, die dem Staat treu ergeben sein und nicht irgendwelchen Oligarchen folgen sollte.

 

Wenig später brach der Erste Weltkrieg aus und Iran geriet ins Kreuzfeuer der Mächte: Russen und Briten pfiffen auf die Souveränität des Landes, marschierten querfeldein, teilten nach Gutdünken Geld oder Kartätschen aus. Und das deutsche Kaiserreich hoffte, dass man die Iraner zu einem bewaffneten Aufstand gegen die Entente bewegen könnte. In deutschen Akten taucht daher auch ein gewisser Nayeb Hossein auf: Zu diesem Ganoven, der die Straßen der Provinz Isfahan beherrsche, unterhalte man beste Kontakte.

 

Das war notwendig, wenn man Agenten durchzuschleusen hatte, wie etwa die spektakuläre deutsche »Niedermeyer-Hentig-Mission« (1914-1915), welche durch die große Salzwüste nach Afghanistan führte, um den dortigen Monarchen zum Angriff auf Britisch-Indien zu bewegen. Die deutschen Diplomaten lobten Nayeb Hossein für seine Unterstützung: »Räuber« wie die Nayebian in Iran könne man nicht mit denen in Deutschland gleichsetzen. Sie seien Geschäftsleute und als solche Ehrenmänner.

 

Nayeb Hossein und sein Sohn Maschallah Khan verstanden es, die Schwäche des Staates zu nutzen, und leisteten ihm derweil hin und wieder auch nützliche Dienste: Maschallah Khan ließ sich zwischenzeitlich in Kaschan zum Zivilrichter ernennen. Diese praktische Kombination aus staatlicher Verbeamtung und professionellem Gangstertum hat nicht an Attraktivität verloren. Dann suchte die Regierung bei den Nayebian sogar Hilfe, um die nationale Verteidigung gegen das russisch-britische Vordringen zu organisieren. Mit Politik hatten die Nayebian nicht viel am Hut, aber ein wenig Patriotismus stand ihnen doch sehr gut zu Gesicht.

 

Mit den Nayebian ging es der iranischen Regierung wie überall auf der Welt, wo Staaten schwach sind, Systeme im Übergang begriffen, und ausländische Mächte ihre Interessen durchsetzen wollen: Wenn man Ruhe haben will, arrangiert man sich mit ihnen. Ihre Gewehre hat man lieber für sich als gegen sich.

 

Andererseits macht man sie dadurch immer mächtiger und erschwert ihre Entwaffnung. Selbst die schwedischen Offiziere, bis heute Fachleute für »Demobilisierung«, bissen sich an den Nayebian die Zähne aus. Also nutzte man, was auch heute noch zum Instrumentenkasten im Kampf gegen nichtstaatliche Akteure gehört: andere nichtstaatliche Milizen, die gegen sie ins Feld zogen – in diesem Fall die Anführer des mit den Nayebian verfeindeten Bachtiaren-Stamms.

 

Aber erst als der äußere Druck nachließ – mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Sturz des Zaren durch die Russische Revolution –, bot sich die Gelegenheit, die Nayebian zu entmachten. Und es bedurfte eines abgekochten Technokraten, des Premierministers Hassan Vosough. 1919 lud dieser den Maschallah Khan zu Verhandlungen nach Teheran ein und ersuchte das Gefolge, vor den Toren der Stadt abzusteigen – angeblich, um nicht zu viel Aufsehen zu erregen. Maschallah Khan soll nicht auf den Rat seines Vaters gehört haben, als er die Einladung annahm. Jedenfalls wurde er nach kurzen Verhandlungen von den Schweden der Gendarmerie verhaftet. Wenig später baumelte Maschallah Khan am Galgen. Nun begann die Jagd auf den Rest der Nayebian.

 

Dabei wurden sogar gepanzerte Fahrzeuge und Haubitzen eingesetzt, wie man der Burg Karshahi noch heute ansehen kann. Denn während einige der Nayebian im Westen, bei den Loren, Zuflucht suchten, verschanzten sich andere hier, an den Toren zur großen Salzwüste. Nayeb Hossein wird sich gedacht haben: Ein Mann in meinem Alter rennt nicht mehr davon. Jedenfalls wurde er im Gefecht verwundet, nachdem ihm zwei Gefolgsleute noch die Kriegskasse gestohlen hatten. Wie es dann mit ihm zu Ende ging, steht weiter oben.

 

Dass wir so viel über den fast vergessenen Räuberfürsten Nayeb Hossein-e Kaschi wissen, ist zeitgenössischen Chroniken und Gedichten sowie der Doktorarbeit von Abdolhassan Hadjiheidari zu verdanken (Eberhard Karls Universität Tübingen, 2008), der die Details zusammentrug. Ihm geht es unter anderem um die Frage, ob Nayeb Hossein als Gangster oder politische Figur zu sehen sei. Doch die Übergänge sind, wie wir gesehen haben und auch heute noch sehen, fließend.

 

Und so ergeben sich aus der Geschichte der Nayebian einige Lehren, die die Zeiten überdauern:

 

  • Erstens: Wer einmal auf den Geschmack des Gangsterlebens gekommen ist, tritt selten freiwillig in den Ruhestand.
  • Zweitens: Kriminelle werden vom Staat gebraucht, wenn es politisch opportun ist. Man wird sie später nur nicht einfach wieder los. Das gilt besonders, aber nicht nur, für die Region des Nahen Ostens.
  • Drittens: Wer Milizen entwaffnen will, muss entschlossen, aber nicht überstürzt handeln.
  • Viertens: Die Briten sind in Iran aus gutem Grund nicht sehr beliebt. Das gilt, wie man heute oft vergisst, aber ebenso für die Russen.
  • Fünftens: Es gibt auch Iran-Geschichen, in denen die Amerikaner mal die Guten sind. Denken wir an Morgan Shuster.
  • Sechstens: Hin und wieder genießen kriminelle orientalische Großfamilien auch das Ansehen der deutschen Außenpolitik.
  • Siebtens: Das frühe 20. Jahrhunderts ist ein ebenso faszinierender wie dramatischer Abschnitt iranischer Geschichte. Umso bedauerlicher, dass man heute so wenig über die Revolution der Konstitutionalisten lernt, auch in der Islamischen Republik Iran. Das jedenfalls könnte man ja ändern.
Von: 
Daniel Gerlach

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