Gibt es ein Rezept für den besten Weg in die deutschsprachige Literatur? Begegnungen und Gespräche mit drei arabischen Autoren und einer Autorin, denen ebendies gelungen ist.
Eine arabische Redensart besagt, dass, wer Aboud Saeed nicht kenne, Facebook nicht kenne. Zu einer Zeit, da viele Accounts in den Sozialen Medien begannen, das Umschlagen der friedlichen Proteste in eine gewaltsame Auseinandersetzung in Syrien zu dokumentieren, fing Aboud Saeed an, über die Liebe zu schreiben, darüber, wie er seiner Mutter das Rauchen beibringt. Über den Zustand, dass er kein Bücherregal besitzt, ja, nicht einmal ein eigenes Zimmer.
Zynische, bisweilen provokante, manchmal verletzende Beobachtungen, die Aboud Saeed täglich auf Facebook postete. Der Krieg, die Revolution, die herannahenden Islamisten spielten nur am Rande eine Rolle. Saeed zerrt Konventionen und vertraute Wahrheiten ans Licht und spottet darüber. So postet er am 18. Januar 2012 um 23.41 Uhr: »Ich schreibe keine Lyrik / Ich sage nur die Wahrheit«, und fügt wenige Minuten später hinzu: »So lange haben wir gelogen, dass man unsere Ehrlichkeit schon für Lyrik hält.«
»Wer ist Aboud Saeed?«, fragt sich im Frühjahr 2013 auch Alexander Bühler und macht sich auf die Suche. »Ich fahre aus Aleppo raus. Auf der Suche nach Aboud Saeed. Gibt es ihn wirklich?«, hört man den ZDF-Reporter in dem Fünf-Minuten-Beitrag für das Format »Aspekte« sagen. 80 Kilometer fährt er, an die syrisch-türkische Grenze, nach Manbidsch, und dann noch ein Stückchen weiter. Als er den Gesuchten endlich findet, einen rauchenden jungen Mann in Lederjacke mit lockigem Haar, erklärt dieser dem weitgereisten Journalisten, er habe jetzt keine Zeit zu sprechen.
Aboud Saeed stammt aus einer Familie von Schmieden, er selbst ist ausgebildeter Schweißer. 1983 kam er in Manbidsch zur Welt. Er spürte, erzählt er im Februar 2022, dass das, was er da postete, gut ankam und schrieb weiter, täglich – was auch immer ihm gerade in den Sinn kam. Irgendwann habe er das Gefühl gehabt, dass das richtig gut sei, was er da verfasse. Sein Schreiben war immer auch ein Spiel mit seinen Lesern. Auch sein erfundener Name rührt daher, von einer Überhöhung des Gedankens: »Alle wollten sich auf Facebook so aussehen lassen, als seien sie die Wichtigsten, die Schönsten, die Intelligentesten.« Eines Tages habe er beschlossen, dass er selbst der König sei, oder in seinen Worten: »Der klügste Mensch im Facebook«.
Schon 2012 spielten, wie die Übersetzerin Sandra Hetzl erzählt, »die Facebook-Algorithmen mir immer mehr Posts von Aboud zu. In syrisch-levantinischen Bubbles des arabischsprachigen Facebooks war er schon zu einer Berühmtheit geworden, seine Texte hatten Kultstatus.« Hetzl schien Aboud Saaed zu dem Zeitpunkt die einzige zeitgenössische Stimme Syriens zu sein, die sich für so gar keinen vorhersehbaren Diskurs dienstbar machte. »Er war Punk.« Sie suchte nach Möglichkeiten, ihn zu einer Lesung nach Deutschland einzuladen, nach einem Verlag, der seine Texte veröffentlichen könnte. Der aus Bagdad stammende und seit 2000 in Deutschland lebende Schriftsteller Abbas Khider brachte sie schließlich auf Nikola Richter, die eben in Berlin den microtext-Verlag gründete und in dessen Portfolio die Geschichten von Aboud Saaed passen würden.
Es sind unterschiedliche Stimmen: lyrisch-melancholische, politische und satirisch-überhöhte
Die 1980 in München geborene Übersetzerin Sandra Hetzl, Gründerin des Literaturkollektivs 10/11 für zeitgenössische arabische Literatur, hatte sich überwiegend autodidaktisch die arabische Sprache beigebracht. 2013 erschien »Der klügste Mensch im Facebook«. Im Herbst desselben Jahres reiste Saeed für eine Lesereise nach Deutschland. Sein Antrag auf politisches Asyl wurde bewilligt, seither lebt er in Berlin.
Wenn man der syrischen Revolution und dem Krieg des Assad-Regimes gegen seine eigene Bevölkerung bei all dem Leid und dem Tod, den es gebracht hat, etwas Positives abgewinnen wollen würde, so wären es ganz sicher die literarischen Stimmen, die diese Verwerfungen hervorgebracht oder noch sichtbarer gemacht haben. Stimmen, die sich nicht haben einschüchtern lassen, die oftmals ohne direkte Konfrontation, aber doch klar ihren Standpunkt vertretend, darüber reflektiert haben, was diese Gewalt mit der Gesellschaft gemacht hat. Es sind unterschiedliche Stimmen: lyrisch-melancholische, politische und satirisch-überhöhte. Einige von ihnen sind in den vergangenen Jahren in den deutschsprachigen Raum gelangt. Und haben hier Verleger gefunden, die ihre Werke publizieren – oftmals in arabisch-deutschen Editionen. Manchmal sind es winzige Verlage, so klein, dass man sie nicht einmal im Internet findet, wenn man ihre Namen und die ihrer Autoren nicht kennt.
Bei Nather Henafe Alali – eigentlich lautet der Vorname Nazir – war es der bekannte Frankfurter S. Fischer Verlag, der 2018 seinen ersten Roman »Raum ohne Fenster« herausgab. Eine politische, wütende, zarte und bisweilen pathetische Geschichte der Freunde Hayat, Salim und Aziz, die während der frühen Revolution in Syrien beginnt und dann von ihrer Flucht und ihrem Ankommen in Deutschland erzählt.
Nather selbst war während seines Zahnmedizinstudiums in Latakia an einem Tag im Jahr 2012, nur wenige Monate nach Beginn der Revolution, ohne Vorwarnung von drei Männern an der Universität verhaftet worden. Eine Anklage lag nicht vor, es stand lediglich der Vorwurf im Raum, er sei in politische Aktivitäten verstrickt. Auch wenn er bisweilen unter Pseudonym auf Facebook zur Beteiligung an Demonstrationen aufgerufen hatte, so verstand er sich doch eher als kritischer Beobachter, denn als politischer Aktivist. Eine Familienangehörige mit guten Verbindungen half, ihn nach zehn Tagen wieder freizukaufen.
In Deutschland erfährt er, was es bedeutet, nur noch als Flüchtling wahrgenommen zu werden
Doch diese zehn Tage haben Nather für immer geprägt. Im Gefängnis erlebte er, wie das Assad-Regime Kinder und Frauen folterte. Die Misshandlungen und die Gewalt schockierten ihn und führten dazu, dass er sein Land von einer anderen Seite kennenlernte, die für ihn nichts mehr mit seiner Heimat gemein hat. »Das Land, das man geliebt hat«, sagte er in einem Interview 2018, »offenbart sich plötzlich als Illusion – und man weiß nicht, wie man länger darin leben soll.«
Er kann es nicht. Als er aus dem Gefängnis freikommt, ohne Aussicht darauf, sein Zahnmedizinstudium im achten Semester wieder aufnehmen zu können, verlässt er die Stadt, in der er studiert hat, kehrt nicht in seinen Heimatort Deir ez-Zor im Osten Syriens zurück, sondern gelangt in die türkisch-syrische Grenzregion. Arbeitet zunächst für syrische und internationale Hilfsorganisationen und beginnt 2013 zu schreiben. Erst für syrische Online-Medien und dann, als er dank einer Einladung seiner in Berlin lebenden Schwester 2014 nach Deutschland kommt, auch einige Zeit als Kolumnist für den SPIEGEL.
In Deutschland erfährt er, was es bedeutet, nur noch als Flüchtling wahrgenommen zu werden. Ganz so, als hätte er alle anderen Teile seiner Identität abgestreift. Als sei nur noch dieses eine Merkmal übrig und erkennenswert.
Er verarbeitet diese Beobachtung, wie auch die Fluchtgeschichten vieler Menschen, in jenem ersten Roman, der 2018 erscheint. »Mein Roman heißt ›Raum ohne Fenster‹«, erzählt er in einem Interview im gleichen Jahr, »weil du als Mensch, der vor dem Krieg geflohen ist, immer als solcher sichtbar bist, nie ein Fenster vor dir schließen kannst, Missfallen erregst.«
»Wer sich gegen das Regime positioniert – das war jedem syrischen Bürger bewusst – den erwartet Gefängnis oder Exil«
Nach Stationen in Berlin und Frankfurt, wo er einen Deutschkurs belegte und Philosophie studierte, lebt Nather heute in Göttingen. Er studiert wieder Zahnmedizin. Richtig wohl fühle er sich dort nicht. »Mir fehlt die Kultur und Urbanität einer großen Stadt«, erzählt er im Gespräch an einem Februartag 2022. Aber er wolle hier sein Studium zu Ende bringen.
»Ist der Kampf um Freiheit ein todeswürdiger Akt …?«, fragen sich die Protagonisten in seinem Roman. Heute antwortet Nather, dass sich diese Frage in seinen Augen gar nicht stellen sollte. »Wir waren jung und mutig«, erzählt er, der zu Beginn der Revolution 23 Jahre alt war. Er und seine Mitstreiter hätten die Warnungen der Generation seiner Eltern in den Wind geschlagen. Die hatten ihrerseits in den Siebzigern und Achtzigern Erfahrungen mit dem Regime gemacht, damals noch unter Hafiz Al-Assad.
»Wer sich gegen das Regime positioniert – das war jedem syrischen Bürger bewusst – den erwartet Gefängnis oder Exil.« Dennoch geht die Jugend auf die Straße, für Freiheit, Würde und Gerechtigkeit, gegen Korruption und Straflosigkeit. Ausgehend von der im März 2011 gestarteten friedlichen Revolution gelangte das Land in einen Bürgerkrieg, in dem zunehmend erst regionale und dann auch internationale Mächte mitmischten. Bis heute kostete der Krieg in Syrien rund einer halben Million Syrer ihr Leben und machte 13 Millionen Menschen zu Flüchtlingen, die Hälfte davon im eigenen Land. Heute sagt Nather: »Es ist eine andere Art von Tod, wenn man ohne Freiheit lebt.«
Die Unterstützung, die ihm nach seiner Ankunft als Flüchtling geholfen hatte, so rasch einen Verleger für seinen ersten Roman zu finden, lässt bei seinem zweiten Werk auf sich warten. Sein neuer Roman »Die Kaffeesatzleserin« (2021), der sich um Kunst, Gottlosigkeit und die Liebe dreht, ist bisher nur auf Arabisch bei einem Verlag in Beirut erschienen.
»Nach all dem Erlebten empfand ich mich als eine sich selbst fremde Person«
Auch die in Kobane geborene und in Aleppo aufgewachsene kurdisch-syrische Lyrikerin und Autorin Widad Nabi erzählt im Gespräch, dass sie mit Beginn der Revolution 2011, da war sie 25 Jahre alt, zum ersten Mal über Krieg, Tod und Politik habe schreiben können, ohne jedes einzelne Wort abwägen zu müssen. »Wir fühlten uns frei und furchtlos – und wollten nichts weniger als den Sturz des Regimes«, erzählte sie später in einem Interview. Ihre Berichte über Freunde, die verhaftet wurden, über den Krieg und das Töten erschienen bei einer Oppositionszeitung, die in der Türkei gedruckt wurde.
Und auf Facebook. Sie habe sich gefühlt, als ob ihr die Revolution die Furcht aus ihrem Herzen gelöscht habe. Sie, die sich nicht vorrangig als politische Autorin verstehe, spürte doch, dass die Politik in den Herzen ihrer Texte mitschwinge. Sie wurde zu einer Stimme der Revolution: Zeilen ihrer Gedichte wurden in Aleppo an Wände und auf Plakate gesprüht. 2013 erschien ihr erstes Buch »Zeit für Liebe, Zeit für Krieg« in Aleppo. Doch kurz darauf musste sie das Land verlassen, regimekritische Autoren und Autorinnen gerieten immer mehr in Gefahr. Und als Frau ohne Kopftuch geriet sie zugleich in Konflikt mit den oppositionellen islamistischen Milizen, die den Osten Aleppos eingenommen hatten.
Sie flüchtete zunächst in die Türkei. 2016 erschien ihr Buch »Syrien und die Sinnlosigkeit des Todes« in Beirut. Zur gleichen Zeit machte sie sich auf abenteuerlichen und gefährlichen Routen auf den Weg nach Deutschland, wo sie sich eines Tages in einer Schlange vor dem Lageso in Berlin wiederfand, dem zu diesem Zeitpunkt heillos überforderten Landesamt für Gesundheit und Soziales, das bis Mitte 2016 für die Aufnahme Geflüchteter in der Hauptstadt zuständig war. »Nach all dem Erlebten empfand ich mich als eine sich selbst fremde Person.«
Sie fand ihren Zufluchtsort am Grimm-Zentrum, der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität Berlin. Und knüpfte dort an, wo sie den Faden verloren hatte: in der Lyrik. Schon als Jugendliche hatte sie Dichtung für sich entdeckt. Erschlossen sich dadurch doch Welten, die ihr in ihrer konservativen Familie verwehrt geblieben waren. »Welten«, wie sie im Februar 2022 erzählt, »von denen ich nicht wusste, dass es sie gibt.«
Vor allem über Lesungen hat Nabi rasch Anschluss an die deutsche Literaturszene gefunden
Sie betrat einen Pfad, den sie bis heute beschreitet. Besonders die Gedichte des chilenischen Dichters Pablo Neruda, des Österreichers Rainer Maria Rilke und des palästinensischen Lyrikers Mahmud Darwisch beeinflussten sie. Am meisten bewegt aber hat sie die Arbeit des libanesisch-amerikanischen Dichters und Malers Khalil Gibran. »Er hat meinen Charakter stark beeinflusst.« Über das berühmteste Werk Gibrans »Der Prophet«, welches 1923 erschien, sagte Abbas Khider einst: »Es gibt einen Menschen, der kann besser schreiben als Gott.«
Widad begann die Schriftstellerei zunächst als Imitation und begann, daraus ihre eigene Stimme zu entwickeln. Diese Stimme, nun beeinflusst von den Erfahrungen des Krieges in Syrien, der Flucht und dem Ankommen in Deutschland, hat sie in Berlin wiedergefunden. Auch heute noch denke sie viel an ihre Heimatstadt Aleppo. »Ich vermisse vor allem den alten Markt mit seiner Vielzahl von Gerüchen: Kardamom, Parfum, Stoff und Gewürze.« Manchmal fühle es sich so an, sagt sie, als sei ihr Unterbewusstsein noch in Syrien.
Vor allem über Lesungen hat Nabi rasch Anschluss an die deutsche Literaturszene gefunden, vielleicht auch, weil sie keine Unbekannte war. Sie schrieb für verschiedene deutsche Zeitungen, zunächst über ihre Erfahrungen als Geflüchtete, dann bei dem Berliner Projekt »Weiter Schreiben«. Ein Online-Portal für geflüchtete Autoren, dass zugleich Tandempartnerschaften vermittelt und ihr Annett Gröschner zur Seite stellte, eine aus der ehemaligen DDR stammende Schriftstellerin, die mit ihr die Diktaturerfahrung teilt. Nabi war die erste Autorin, die über das Projekt ein Stipendium erhielt. Ihre Lyrik erschien in Anthologien und dann auch in eigenen Gedichtbänden im Bremer Sujet Verlag.
Zuletzt im vergangenen Jahr etwa der Lyrikband »Unsichtbare Brüche«, in dem sie sich auch mit der Pandemie beschäftigt, und mit der Vergangenheit: »Zu Hause / ziehe ich meine Schuhe aus / meinen Mantel / meine Unterwäsche / und die lackierten Nägel. / Vergeblich versuche ich, die Vergangenheit abzulegen. / Aber sie ist wie die Haut eines ausgestorbenen Tieres als Fossil verwoben.«
Heute spricht Widad gut Deutsch, sie kann sich auch vorstellen, journalistische Beiträge auf Deutsch zu verfassen
Heute spricht Widad gut Deutsch, sie kann sich auch vorstellen, journalistische Beiträge auf Deutsch zu verfassen. Unsicher ist sie aber, ob sie ihre Lyrik auf Deutsch zu Papier bringen könnte. Zum einen, weil sie das Deutsche als eine »realistische, harte und starke Sprache« empfindet, die mit ihrer emotionalen Art fremdelt und in der sie sich nicht wiederfindet. Zum anderen, da die Anknüpfungspunkte an die Tradition der arabischen Poesie dadurch wegfallen. An jahrhundertealte arabische Lyrik, wie die von Al-Muttanabi, der in der Abbasidenzeit vor rund 1.100 Jahren einen rasanten Aufstieg erfuhr und noch heute rezipiert wird, oder die des beduinischen Dichters Imru’l-Qays, der vor rund 1.500 Jahren im Gebiet des heutigen Jemen lebte und, wie die Legende besagt, von seinem Vater, dem König von Kinda, wegen seiner erotischen Gedichte aus dem Palast verjagt wurde.
An diese Tradition knüpft auch die Arbeit des kurdisch-syrischen Lyrikers Hussein Bin Hamza an. Zur Welt kam er in Hassakeh, in der kargen Steppenlandschaft östlich des Euphrats. Und auch für ihn waren die Bücher, die vorwiegend sein älterer Bruder, zum damaligen Zeitpunkt schon ein Dichter, nach Hause brachte, ein Fluchtort, hinter dem sich, wie er in dem Nachwort seines Gedichtbandes schreibt, »eine reiche und aufregende Welt auftat«, die ihn für die »Kargheit der Schulbücher und der Landschaft ringsum « entschädigte.
Nach einem Wirtschaftsstudium in Aleppo zog es Bin Hamza 1995, im Alter von 33 Jahren, nach Beirut, wo die Verlagslandschaft blühte und sich Schriftstellern und Journalisten zahlreiche Möglichkeiten boten. 1997 erschien sein erster Gedichtband »Ein Mann, der in Sonntagskleidung schläft«, als Redakteur und Kritiker arbeitete er für zahlreiche libanesische Zeitungen und veröffentlichte Artikel über Lyrik, Prosa, Theater und Kunst, sowie Porträts über zahlreiche arabische Autoren. 2014 gründete er die wöchentlich erscheinende Literaturbeilage »Kalimat« und war dort bis 2016 Redaktionsleiter. »In Beirut verbrachte ich die besten Jahre meines Lebens«, erzählt er im Februar rückblickend. »Es ist eine Stadt, die sich von allen arabischen Hauptstädten unterscheidet. Sie ist weltoffen und bereit für neue Ideen und Projekte.«
Doch seit Jahren ist die einst leuchtende Metropole des Libanons ins Straucheln geraten, verschärft sich die politische Lage, grassiert die Armut, verliert das Geld an Wert und nimmt die Gewalt in einigen Stadtvierteln weiter zu. Hussein Bin Hamza suchte nach einem Ausweg. Da eine Rückkehr ins bürgerkriegsgeschüttelte Syrien ausgeschlossen war, geriet immer mehr erst Europa, dort dann Deutschland ins Blickfeld. 2017 gelangte Bin Hamza mit seiner Familie ins Land, heute lebt er in Hannover. »Ich vermisse Beirut immer noch, aber ich empfinde die Entscheidung zu gehen als notwendig.«
»Die neue Gemeinde. Die neue Sprache, all dies öffnete die Tür für eine Rückkehr zur Poesie«
Mit dem Neubeginn in Deutschland geschah noch etwas anderes. Seine lyrische Stimme erwachte zu neuem Leben. Neben seiner Arbeit als Journalist hatte er zunächst auch in internationalen Publikationen und Anthologien Gedichte veröffentlicht, doch in den vergangenen Jahren hatte er immer weniger gedichtet. Schon in seiner Kindheit und Jugend, erzählt er, habe er für sich selbst ganz klar umrissen, was für eine Art Dichter er sein wollte. »Einer, der die Macht der Verknappung besitzt. Der mit möglichst wenigen Worten möglichst viel auszudrücken vermag.« Gerade diese Beschränkung auf wenige Worten, diese Wortkargheit war es, die schließlich dazu führte, dass er beinahe verstummte, mit dem Dichten fast gänzlich aufhörte und sich schließlich einbildete, »ein ehemaliger Dichter« zu sein.
Doch die neuen Eindrücke, die Erlebnisse des Umbruchs und des Neuanfangs sowie auch der Wegfall seiner stressigen journalistischen Tätigkeit öffneten neue Räume. »Ich hatte eine entspannte Zeit. Der neue Ort. Die neue Gemeinde. Die neue Sprache, all dies öffnete die Tür für eine Rückkehr zur Poesie«, erinnert er sich. »Ich kehrte zum Schreiben von Gedichten zurück, aber mit dem Gefühl, dass ich zum ersten Mal schreibe, ein neuer Dichter bin.«
2018 trifft er bei den Heidelberger Literaturtagen, als er Gedichte aus seiner Serie »Der deutsche Nachbar« vorträgt, auf Michael Krüger, den ehemaligen Chef des Hanser Verlags. Die beiden bleiben im Dialog. 2019 gewinnt Hussein Bin Hamza das erstmalig vergebene Chamisso-Publikationsstipendium und hat damit für drei Jahre lange den Mentor Michael Krüger an seiner Seite. 2020 erscheint sein Lyrikband »Ich spreche von Blau, nicht vom Meer« in arabisch-deutscher Ausgabe in der Edition Converso, dessen Verlegerin er ebenfalls bei den Heidelberger Literaturtagen kennengelernt hat.
Dem Band vorangestellt ist ein kurzes Gedicht: »Ich lebte so fremd / wie ein übersetztes Gedicht.« Danach gefragt, ob man auch in der Übersetzung authentisch sein kann, als Gedicht, aber auch als Mensch, antwortet er: »Bei der Übersetzung besteht immer die Möglichkeit, dass der poetische Originaltext nicht vollständig in die andere Sprache übertragen wird. Dieser Mangel kann eine Art Entfremdung darstellen.« Das gleiche gelte auch für die Bewegung eines Menschen durch den Raum, von einem Land in ein anderes. Auch dieser Übergang sei nicht vollständig. Es bleibe immer etwas zurück und es gebe, wie Bin Hamza sagt, »einen Raum, der von der Idee der Entfremdung, des Exils und der Entwurzelung erfüllt ist.«
»Ich finde Berlin herrlich - alle Leute sind faul«
Doch schon vor seinem Umzug nach Deutschland habe er sich fremd gefühlt. Eine Empfindung, die bis in die karge Landschaft seiner Kindheit zurückreicht und der Zustand sei, aus dem er Inspiration ziehe. »Es ist ein ständiges Gefühl: Dass ich ein Fremder bin, wo immer ich bin und wohin ich gehe. Die echten Dichter sind immer Fremde.«
Wenn man den Worten des Facebook-Künstlers Aboud Saeed Glauben schenken möchte, dann fühlt er sich nicht fremd in Berlin. Obwohl er kaum Deutsch spricht, hat er seinen Platz in der Hauptstadt gefunden. »Ich finde Berlin herrlich«, erzählt er, »alle Leute sind faul.« Selten sei er an einen Ort gelangt, dessen Bewohner so wenig Ambitionen hätten wie die Berliner. Weil es denen nicht darum ginge, wer das größte Auto oder das schönste Haus sein Eigen nenne, sondern nur um die Frage, wo es das nächste Gras zu kaufen gibt. Saeed hat für sich erkannt, dass er nicht vom Schreiben leben möchte, auch wenn er sich darüber freut, wenn er ein wenig Geld damit verdient. »Aber ich fände es befremdlich, auf einer Bühne zu hocken, über das Leid der Menschen in Syrien zu sprechen und dafür ein Honorar zu erhalten.«
Für sich selbst hat er entschieden, zu seinen handwerklichen Wurzeln zurückzukehren. Seit 2018 arbeitet er als Metallarbeiter im Atelier des Künstlers Olafur Eliasson. Weitergeschrieben hat er trotzdem und Ende 2021 erschien »Die ganze Geschichte« im mikrotext-Verlag, eine Auswahl und Zusammenstellung seiner Facebook-Texte aus den Jahren 2012 bis 2021, die vom Beginn seines Schreibens erzählen, seinem Weggang aus Syrien und seinem Ankommen in Deutschland.
»Ausländer sind die«, schreibt er im Vorwort, »die früher manchmal als Touristen in unseren Ländern vorbeischneiten«. Jetzt lebe er »mitten unter ihnen. Alle um mich herum sind Ausländer.«