Die Kunst der Nomadinnen gehört zu den Wegbereitern der Moderne – und kann uns heute noch einiges lehren.
Als Kind bin ich auf funkelnden Nomadenkelims und Teppichen gekrabbelt. Sie waren die Spielwiese meiner Kindheit und erster Berührungspunkt mit dem besonderen Kunsthandwerk meiner Vorfahren. Mein Vater, der Künstler, Galerist und Sammler Hamid S. Neiriz führte mich ein in die Welt der Nomadenkunst.
Mein Urgroßvater Abdolmajid Sadighi Khane Neiriz war Nomadenfürst eines Stammes mit dem Namen Neiriz, benannt nach der gleichnamigen Gegend im Südwesten Persiens, nahe der Stadt Schiraz, Heimat der Dichter Saadi und Hafez und der antiken Achämenidenstadt Persepolis. Mit der Ausstellung »S*HEROES – die Nomadinnen Persiens« habe ich mich auf Spurensuche in meiner Familiengeschichte begeben. Diese künstlerische und persönliche Auseinandersetzung mit meinen Wurzeln hat für mich eine ganz besondere Bedeutung.
Als Nachfahrin einer persischen Nomadenfamilie – ich wurde in Iran geboren und wuchs in Berlin auf – empfinde ich es als Verantwortung und Bedürfnis, die faszinierenden Arbeiten und reiche Kultur persischer Nomadinnen neu erfahrbar zu machen und den Menschen näher zu bringen. In der Tat begab sich mein Vater ebenfalls in seinen Dreißigern auf Spurensuche. 1980 lebte er sogar ein Jahr mit Qaschqai-Nomaden im Südwesten des Landes zusammen, begleitete sie vom Sommer- zum Winterlager und erlebte ihre nomadische Lebensweise auf sehr persönliche Weise.
Dahinter steckt die Idee von Schutztieren: Bären, Wölfe und Löwen haben die Fantasie der in der Natur lebenden Völker beeinflusst
Seit nun mehr als zehn Jahren beschäftige ich mich mit antiker Kunst vorder- und ostasiatischer Kulturen. Parallel dazu auch mit zeitgenössischer Kunst. Denn ich habe auch eine besondere Neigung, mich mit meinen Zeitgenossen zu befassen, um immer wieder mit großer Freude auf Verbindungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu stoßen.
Die Verbindung dieser verschiedenen und vermeintlich gegensätzlichen Themenwelten schafft für meine Tätigkeit als Galeristin und Kulturschaffende vermutlich den größten Anreiz.
»S*HEROES« ist der Auftakt einer Ausstellungsserie, die die unbekannten Schöpferinnen außereuropäischer Kulturen innerhalb multimedialer, zeitgenössischer Ausstellungen in den Vordergrund rückt und ihr künstlerisches Schaffen zelebriert. Antikes Handwerk und zeitgenössische Kunst treten dabei in einen neuen und bisher unbekannten Dialog. Der Einfluss des außereuropäischen Kunsthandwerks auf die künstlerische Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa und die kulturellen Transfers im globalen Zeitalter kann nicht genug betont werden. Die vielseitigen Beziehungen der Kunst und des Kunsthandwerks zwischen Ost und West und ihrer gegenseitigen Einflüsse reichen von der Antike bis ins 21. Jahrhundert und wirken auf europäische Künstlerinnen und Künstler bis in die Gegenwart.
Kelims und Teppiche waren von großer Bedeutung für das nomadische Leben. Die Gabbeh, Knüpfarbeiten mit flachem Flor und keiner so engen Knotendichte, dienten anfänglich als Kleidungsstücke oder Decken, die über den Nutzen für den täglichen Gebrauch hinausgehend den Nomadinnen Superkräfte verleihen sollten. Dahinter steckt die Idee von Schutztieren: Bären, Wölfe und Löwen haben die Fantasie der in der Natur lebenden Völker beeinflusst. Sich mit dieser mythischen Welt zu beschäftigen und sich vorzustellen, wie diese Frauen diese »Superkräfte« verleihenden Textilien produziert haben, finde ich faszinierend. Ein Gedanke, der tief in die Vergangenheit zurückreicht und sich über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende entwickelt.
Zudem befähigten die gut transportablen Arbeiten die Stämme zu ihrer mobilen und flexiblen Lebensweise. Denn bekanntermaßen waren Nomaden nicht sesshaft und häufige Ortswechsel prägten ihren Lebensstil. Sie waren daher auf transportable Alltagsgegenstände angewiesen, die zu dieser Lebensweise passten. Die Textilen atmen diesen nomadischen Lifestyle und das fühlt man.
Produziert wurden die Textilien autark und nachhaltig. Dank ihrer Tierherden waren die Nomadinnen in der Lage, Schafswolle sowie Ziegen- und Kamelhaar zu verwenden. Sie spannen das Garn und sammelten Pflanzen, die zur Färbung der Garne dienten. Anschließend webten sie die Kelims und knüpften die Teppiche. Was für Multitalente!
Die Inspiration für die Gestaltung der Textilien speiste sich aus einer jahrtausendealten Tradition und Lebensweise sowie einer von Magie bestimmten Gedankenwelt. Bis in das 20. Jahrhundert hinein tradierten die Nomadinnen eine lebendige Farbsymbolik, deren Kompositionen das Ergebnis komplexer Überlieferungen und Gedankengängen war. Schriftliche Quellen gehörten nicht zur nomadischen Tradition, die mündliche Überlieferung war üblich. Bis heute gibt es kaum Forschung zur Geschichte der Nomadenkunst. Eine wichtige Informationsquelle für die Bedeutung von Mustern und Farben sind jedoch die alten Weberinnen der Stämme, die heute noch eine nomadische Lebensweise pflegen.
Wer sich eingehend mit nomadischer Kunst beschäftigt, wird bemerken, dass die Arbeiten durchaus Vorreiter der Moderne waren. Und ihre Werke sind aktuell. In ihrer Expressivität, Individualität und ästhetischen Ausdruckskraft stehen sie den großen Werken der modernen Kunst kaum nach.
Die faszinierenden und überraschend modern anmutenden antiken Textilarbeiten weisen starke Parallelen zu Bauhaus-Webereien und Malereien der New Yorker Schule des 20. Jahrhunderts auf. Gerade die die archaische visuelle Einfachheit der Kelims hatte erheblichen Einfluss auf die formalen Experimente der Kunst der Moderne.
Ich bin davon überzeugt, dass die Geschichte der Nomadinnen auch aktuelle Debatten bei uns in Deutschland bereichern kann
Die Gemeinsamkeiten sind oft verblüffend. Die westlichen Künstlerinnen und Künstler suchten aber nicht nur formale Anregungen, sondern auch neue Inhalte. Das Streben nach archaischer Reinheit der Formen reflektierte eine Besinnung auf Urgedanken, von denen sich die westliche Gesellschaft aus ihrer Sicht weit entfernt hatte. Das künstlerische Erbe fremder Kulturkreise wurde sich angeeignet, um eine neue Formsprache zu entwickeln. Das gilt natürlich nicht nur für die Kunst der Nomadinnen – auch Kunst aus Afrika und Asien dienten als große Inspirationsquelle der Moderne.
Kunst aus Afrika hat viele moderne Theorien künstlerischer Kreativität und Techniken antizipiert. Die Entstehung des Kubismus und der klassischen Moderne sind auf diesen Transfer zurückzuführen. Künstler wie Pablo Picasso, Amedeo Modigliani, Georges Braque, Ludwig Kirchner, Henri Matisse und Emil Nolde ließen sich davon inspirieren.
Über die Bedeutung außereuropäischer Kunst und Kultur als Inspirationsquelle der westlichen Moderne wird viel zu wenig gesprochen. Außereuropäische (Stammes-)Kunst wurde lange Zeit als »primitiv« marginalisiert, obwohl man sich deren Errungenschaften vielfach zu eigen machte. Verwunderlich ist diese stark euro- beziehungsweise anglozentrische Sichtweise natürlich nicht. Die Überheblichkeit des Westens gegenüber fremden Kulturen hat eine lange Tradition. Die gute Nachricht ist, dass hier langsam ein Umdenken stattfindet. Diversität und kulturelles (Verantwortungs-)Bewusstsein sind inzwischen Bausteine gesellschaftlicher Debatten. Es ist Zeit, dass diese Debatte auch im Kunstmarkt geführt wird.
Ich bin davon überzeugt, dass die Geschichte der Nomadinnen auch aktuelle Debatten bei uns in Deutschland bereichern kann. Die Geschichte der Nomadenkunst ist auch eine Geschichte der starken Frauen. Denn nomadische Textilkunst wurde ausschließlich von Frauen hergestellt. Allein die Weberinnen galten mittels ihrer Empfänglichkeit für übersinnliche Kräfte als Bewahrerinnen des Kultus. Weiblichkeit und weibliche Spiritualität hatten einen hohen Stellenwert in den matriarchalisch geprägten Stammesgesellschaften.
So sollten wir uns im Hinblick auf die feministische Bewegung mehr auf solche Kulturen zurückbesinnen, in denen Weiblichkeit als hohes Gut betrachtet wurde. Wir leben nach wie vor in einer stark männerdominierten Welt, in der Weiblichkeit lange Zeit als Zeichen von Schwäche galt. Es muss unser Ziel sein, matriarchalische Gesellschaften mehr in den Vordergrund und das Bewusstsein der Menschen zu rücken.
So erhält die feministische Bewegung über ihren humanistischen Grundgedanken hinaus einen historischen Kontext, aus dem wir lernen können und der weitere Identifikationsmöglichkeiten bietet. Es macht doch einen Unterschied für das Selbstverständnis der Frauenbewegung, wenn man die Gleichberechtigung nicht als neueres Phänomen, sondern als Prinzip begreift, das sich über Jahrtausende bewährt hat.