Warum schmückten sich die osmanischen Elitekrieger mit schiitischen Insignien und warum beginnt die Konfessionalisierung auf dem Indischen Subkontinent? Ein Gespräch mit Islamwissenschaftler Toby Matthiesen über Feindbilder und wie sie sich überwinden lassen.
zenith: Ihr neues Buch »The Caliph and the Imam« zeichnet die Globalgeschichte von Sunna und Schia nach. Was wollten Sie herausfinden?
Meine Ausgangsfrage lautete: Wie steht es um die Beziehung zwischen Sunniten und Schiiten? Gestaltete sie sich schon immer problematisch und wenn ja, wieso? Die Geschichte rund um Muhammads Vetter Ali wird immer wieder neu erzählt. Die Bedeutung der islamischen Frühzeit als Referenzpunkt kann somit kaum überschätzt werden. Was aber heute daraus folgt, ist selbst an das politische Geschehen gebunden. Mein Buch legt also dar, weshalb die Kategorien Schia und Sunna gar nicht immer so binär abgegrenzt waren, wie es auf den ersten Blick scheint.
Die zentrale Referenzfigur der Schiiten ist Ali – sie sind die »Schiʿat Ali – Alis Parteigänger«. Trotzdem ist gilt er auch den Sunniten als einer der »Raschidun«, also der »rechtgeleiteten« ersten vier Kalifen.
Einerseits ist Ali eine archetypische Figur des Islam, auf den sich alle berufen und der von allen Seiten geachtet wird. Andererseits ist seine Bedeutung umstritten: Während er für Sunniten nur einer unter vielen Gläubigen war, stand Ali gemäß schiitischer Tradition die rechtmäßige Nachfolge Muhammads zu.
Wie standen spätere sunnitische Dynastien zu Ali?
Im Osmanischen Reiches etwa waren die Symbole Alis über Jahrhunderte hinweg sehr stark mit dem sunnitischen Staat assoziiert. So war Alis berühmtes Schwert »Dhu-l-Fiqar« die Insigne der Janitscharen, der Elitearmee des Imperiums. Den Herrschern in Istanbul ging es darum, Sufi-Orden und auch schiitische Gemeinschaften an den Staat zu binden und somit gerade den Safawiden in Iran gegenüber Stärke zu zeigen. Besonders als vereinende Figur hat Ali noch heute Relevanz: Immer wieder wird bei internationalen Konferenzen auf ihn Bezug genommen in der Annahme, durch ihn ließe sich der Islam in gewisser Weise wieder zusammenführen. Während Ali also am Ursprung des konfessionellen Zwists steht, liegt in seiner Figur vielleicht ebenso die Lösung.
An welchen Stellen ist diese Einteilung in Sunniten und Schiiten auch weniger klar, als gemeinhin angenommen?
Die Sufis etwa lassen sich weder per se schiitischen noch sunnitischen Kategorien zuordnen. Zwar haben einige Sufi-Orden sich eindeutig auf einer Seite positioniert und gegen die jeweils andere Konfession polemisiert. Die meisten verorteten sich aber irgendwo dazwischen, manchmal sogar ohne jemals erkennbar Stellung zu beziehen.
Angesichts dieser historischen Ambivalenz: Woher rührt in der Moderne der Drang nach eindeutiger Zuordnung?
Viele der frühen Konfessionalisierungstendenzen sind im Grunde von Indien ausgegangen, zumal hier das britische Kolonialreich schon sehr früh eine große muslimische Bevölkerung verwaltete und auch das muslimische Recht kodifizierte. Die Engländer haben also damals unter anderem festgeschrieben, wie viel ein Sunnit oder ein Schiit jeweils erben kann. Ende des 18. Jahrhunderts entstanden somit im britischen Kolonialreich bereits für Sunniten, Schiiten und auch Ismailiten separate rechtliche Kategorien
Das heißt, dass auf dem indischen Subkontinent erst durch die Britische Krone die religiösen Konfessionen auch als solche definiert und voneinander abgegrenzt wurden?
Ja, das könnte man so sagen. Mein Buch geht eben diesem Konfessionalisierungsprozess nach: Als um 1500 die Osmanen ihre Macht in Westasien und auf dem Balkan sichern, entstehen auch in Indien neue muslimische Dynastien. Große Bevölkerungsgruppen wandern nach Nordindien ein, darunter auch schiitische Gemeinschaften, etwa aus Iran und Afghanistan. Teile der Bevölkerung werden konvertiert und zum ersten Mal stellen schiitische Herrscher in Indien auch Kleriker an. Trotzdem hatten zuvor nie derart eng definierte Rechtskategorien existiert. Das ändert sich im 18. Jahrhundert, als die East India Company große Ländereien in Besitz nimmt und beginnt, die Bevölkerung zu verwalten.
Lassen sich Begriffe wie Konfession oder Konfessionalisierung überhaupt auf die islamische Welt übertragen?
Ein Begriff, den ich prinzipiell vermeide, ist der der »Sekte«, der vor allem in der Vergangenheit eine Rolle gespielt hat: Bis Anfang des 20. Jahrhunderts stammten die Quellen zur islamischen Geschichte nämlich in der Regel aus sunnitischer Hand – Quellen also, die die Schiiten als Häretiker abwerteten. Hielt man vor 100 Jahren eine islamwissenschaftliche Abhandlung der Religionsgeschichte in der Hand, bekam man ganz einfach sunnitische Historiographie zu lesen. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten radikal geändert. Den Begriff »Konfessionalisierung« verwende ich allerdings schon. Denn obwohl im Islam in der Form keine neuen »Konfessionen« Sinne entstanden sind, so hat sich zumindest das Verhältnis von Staat und Religion neu formiert – ähnlich wie im Christentum.
Hat diese Konfessionalisierung politische Gründe?
Während ich meiner Forschung zu Saudi-Arabien und dessen schiitischen Minderheiten stellte ich schnell fest, dass die Feindschaften nicht nur politisch begründet sind. Klar – der geopolitische Gegner Iran genießt in den schiitisch bevölkerten Gebieten im Osten viel Ansehen und dass die meisten saudischen Ölfelder hier liegen, spielt da auch mit rein. Aber bereits seit der Gründung des saudischen Staates waren wahhabitische Kleriker an der Macht, und lange sprach die offizielle Position den Schiiten jegliche Zugehörigkeit zum Islam praktisch ab. Diese extremen Sichtweisen wurden öffentlich kundgetan, etwa auch in Büchern, die die Schiiten als Häretiker bezeichneten oder manchmal sogar zum Mord an ihnen aufriefen. Das hat sich geändert und relativ schnell wurde mir während meiner Forschung bewusst, dass die Konfliktlage sowohl politisch und ökonomisch als auch dennoch theologisch begründet war. Mein Buch stellt den Versuch dar, diese Spannungen jeweils über die verschiedenen Epochen hinweg zu kontextualisieren. So zeigt die Geschichte beispielsweise, dass diese extreme Diskriminierung der Schiiten in Saudi-Arabien vor allem auch ein Resultat der Islamischen Revolution in Iran war.
Muhammad bin Salman (MSB) hat die Wahhabiten regelrecht entmachtet. Hat sich das auch auf die schiitisch-sunnitischen Beziehungen ausgewirkt und diese gar verbessert?
Tatsächlich hat sich dieses Verhältnis in den letzten Jahren stark verbessert. Repressionen gegenüber Schiiten sind nicht vollends verschwunden. Gegenüber der schiitischen Opposition ist der Staat sehr hart, aber das gilt ja für jegliche Opposition im Königreich. Es trifft jetzt also nicht mehr die Schiiten als religiös definierte Gruppe. Viele, vor allem junge, Schiiten begrüßen diese Entwicklung und unterstützen den Staat deshalb. Inzwischen versucht Saudi-Arabien auch, im Irak mit schiitischen Klerikern Kontakt aufzunehmen – eine ziemlich interessante Entwicklung, mit der ich so nicht gerechnet hätte.
Scheinbar tiefsitzende Beziehungen sind also wandlungsfähig, wenn sich die politischen Interessen ändern.
Der Sender MBC, der den Saudis gehört, hatte in diesem Frühjahr eine Ramadan- Fernsehserie über Muawiya (603-680) gedreht, also eine wichtige Figur im ersten Bürgerkrieg und eine klar anti-schiitische Figur. Das war anscheinend die höchstdotierte arabische Fernsehserie die je gedreht wurde. Aber viele Menschen waren besorgt darüber, dass sie während des Ramadan ausgestrahlt würde und man dann jeden Abend dabei zugucken könnte, wie Schiiten getötet würden. Persönlichkeiten wie Muqtada Al-Sadr aus dem Irak und andere schiitische Kleriker wandten sich an Riad, die Serie nicht auszustrahlen – und die Saudis sind der Forderung tatsächlich nachgekommen. Was wohl auch damit zusammenhing, dass man zur selben Zeit wieder diplomatische Beziehungen mit Teheran aufgenommen hatte. Das zeigt: Beide Seiten können, wenn sie wollen, solche Serien drehen – sie können dann aber auch entscheiden, sie einfach nicht zu zeigen, weil gerade andere Prioritäten bestehen.
Toby Matthiesen ist Historiker und Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt auf dem Nahen Osten und lehrt derzeit als Senior Lecturer für Globalen Islam an der Universität von Bristol. Promoviert wurde der gebürtige Schweizer im Jahr 2011 an der SOAS über schiitische Minderheiten in Saudi-Arabien. 2023 erschien sein Buch »The Caliph and the Imam: The Making of Sunnism and Shiism« (Oxford University Press).