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Scholl-Latours-Erben: Frank Nordhausen

»Das gab Haue von den Lesern!«

Portrait
Scholl-Latours-Erben: Frank Nordhausen

Jede Woche fragen wir einen Nahost-Korrespondenten: Wie halten Sie es mit Scholl-Latour, dem großen Erklärer der arabischen Welt? Diese Woche antwortet Frank Nordhausen, Türkei-Korrespondent der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau

Ein halbes Jahrhundert lang berichtete der Fernsehjournalist Peter Scholl-Latour von Krisenherden in Afrika und Asien, erzählte vom islamischen Wesen und ärgerte damit Wissenschaftler. Im Sommer 2014 verstarb der Bestsellerautor mit 90 Jahren. Wer erklärt den Deutschen nun den Orient? zenith nimmt Kandidaten unter die Lupe. Diese Woche antwortet Frank Nordhausen, Türkei-Korrespondent der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau.


 

  • Geboren: 5. Juni 1956 in West-Berlin
  • Wohnort: Nikosia, Zypern
  • Ausbildung: Studium der Philosophie, Geschichte und Germanistik an der Freien Universität Berlin. Mein journalistisches Handwerkszeug lernte ich beim Berliner Jugendmagazin Blickpunkt, in der Lokalredaktion der Märkischen Allgemeinen in Königs Wusterhausen und als Berliner Stringer für die japanische Tageszeitung Mainichi Shimbun.
  • Karriere: 1989-1996 freiberuflicher Journalist für zahlreiche Medien wie taz, Zeit, Stern, Spiegel, ARD, zunächst mit Schwerpunkt auf die DDR und diverse Sekten. 1996-2011 Reporter für die Seite 3 der Berliner Zeitung mit zahlreichen Reportage-Reisen auch ins Ausland. 1999 vier Monate Aufenthalt in Albanien und im Kosovo während des Kriegs und danach. 2003-2006 jeweils ein halbes Jahr Aufenthalt in Bukarest. 2008-2010 jeweils ein halbes Jahr Aufenthalt in Kairo. Seit 2011 Korrespondent der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau für die Türkei und angrenzende Länder, zunächst in Istanbul, ab 2017 in Nikosia. Außerdem Autor zahlreicher Bücher im Ch. Links Verlag, unter anderen über den Kosovo-Krieg und den Zweiten Golfkrieg von 1991. Herausgeber einer Textsammlung über den Arabischen Frühling (2011). Autor eines 90-Minuten-Dokumentarfilms für Arte/ARD über den Scientology-Geheimdienst (2012). Mehrere Journalistenpreise, darunter 1. Preis »Der lange Atem« (2007).

 


 

Wie kamen Sie dazu, Nahost-Journalist zu werden?

Den Anstoß gab der Kosovo-Krieg von 1999, als ich vier Monate für die Berliner Zeitung in Kukes (Albanien) und Prizren (Kosovo) lebte und mich mit der Kultur des Balkans und des Nahen Ostens infizierte: die Gastfreundschaft, der Humor, die Gelassenheit und die Taktung des Tages durch den Muezzin. Anschließend ließen zahlreiche Reisen in die Türkei, den Irak, Syrien sowie längere Aufenthalte in Ägypten den Entschluss reifen, als Korrespondent aus der spannendsten Region der Welt zu berichten. 2011 konnte ich den damaligen Chefredakteur der Berliner Zeitung, Uwe Vorkötter, davon überzeugen, mich als Korrespondenten nach Istanbul zu entsenden. Von dort unternahm ich zahlreiche (Reportage-)Reisen auch in den arabischen Raum. 2017 erteilte mir die Türkei keine Presseakkreditierung mehr, weil ich »zu kritisch« berichtete, wie mir ein Regierungsbeamter mitteilte; die regierungsnahe Presse entfesselte eine Diffamierungskampagne gegen mich. Seither lebe ich in Nikosia, wo eine Art »gedämpfter« Orient herrscht.

 

Welche nahöstlichen Sprachen beherrschen Sie?
Englisch. Im Türkischen kam ich trotz Intensiv-Sprachkursen und Privatunterricht leider nicht über »Gastarbeiter-Türkisch« hinaus.

 

Der Orient riecht nach ...
Staub, manchmal nach Kamel, und oft nach Wunderbaum (im Auto). Er riecht nach Grillfleisch, Olivenöl und Knoblauch; nach Rosenwasser, Weihrauch, Shisha, Marihuana und gewürztem Kaffee; nach Diesel, vergammeltem Müll und verbranntem Plastik.

 

Apropos: Wo liegt er eigentlich, dieser Orient?
Der Orient liegt für mich zwischen der gleißenden Sonne und dem tiefen Schatten, zwischen Wüste und Wasser, Hitze und Kühle: in den Extremen und Kontrasten, die es in Deutschland so nicht gibt. In den gewaltigen Menschenmengen. Der Religionsschwere. Den multiethnischen Städten und Regionen. Den unfassbar verschiedenen Moscheen von der Türkei bis zum Oman und nach Marokko, die vom Glanz des Islam künden. In den Yalıs des Bosporus, den Oasen der Sandwüste, den geschäftigen Basaren Arabiens. Leider ist der größte und wundersamste Basar des Orients in Aleppo dem Krieg zum Opfer gefallen.

 

Drei No-Gos für westliche Reporter im Nahen Osten?
Löcher in den Socken, denn man muss dauernd die Schuhe ausziehen; auf der Privatsphäre bestehen, denn eine Privatsphäre gibt es nicht; in Istanbul ein politisches Streitgespräch mit einem Taxifahrer anfangen, denn er könnte Erdoğan-Fan sein. Und viertens: Höchste Vorsicht bei der Wahl der Dolmetscher, denn wenn es der falsche am falschen Ort ist, kann die Atmosphäre sofort gefrieren.

 

Ihr größter journalistischer Fauxpas?
Als West-Berliner leide ich unter einer anerzogenen Ost-West-Orientierungsschwäche, denn für uns war in jeder Himmelsrichtung Osten. Einmal versetzte ich in einer Reportage die Stadt Edirne an der Grenze zu Griechenland in den »Osten der Türkei«. Vorher hatte ich schon mal Togo nach »Ostafrika« befördert. Das gab Haue von den Lesern!

 

Am meisten über den Orient gelernt habe ich ...
… als ich den Arabischen Frühling in Kairo und die Zeit danach miterleben konnte. Es war eine unvergessliche Lektion über nahöstliches Temperament, nahöstliche Liebe und nahöstliche Brutalität.

 

Ein Roman über die Region, den jeder gelesen haben sollte.
»Schnee« von Orhan Pamuk und natürlich »Der Jakubiyān-Bau«von Ala Al-Aswani.

 

Peter Scholl-Latour war für mich ...
… ein exzellenter Kenner der Region, dessen Pessimismus mich zur Verzweiflung treiben konnte – doch haben sich seine Prognosen über Syrien auf furchtbare Weise bewahrheitet. Ich habe ihn nur einmal selbst gesprochen, kurz nach der Revolution von 2011 auf dem Kairoer Flughafen. Er reiste trotz seines hohen Alters allein und ließ sich umstandslos in ein Gespräch verwickeln. Ein freundlicher Mensch.

 

Die Geschichte, die sie schon immer machen wollten, zu der Sie aber nie kamen.
Die Geschichte der hochintelligenten Frauen in der Türkei, die studiert haben und Single bleiben, weil sie aufgrund ihrer Bildung auf die potentiellen Partner einschüchternd wirken oder diese ihnen schlicht zu simpel gestrickt sind. Viele verlassen gerade das Land.

Von: 
zenith-Redaktion

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