Lesezeit: 11 Minuten
Der Gaza-Krieg und die Region

Ein Krieg zur Neuordnung des Nahen Ostens?

Analyse
Der Gaza-Krieg und die Region
US-Präsident Joe Biden im Sommer 2022 zu Besuch beim saudischen Kronprinzen Muhammad Bin Salman (MBS) Saudi Press Agency (SPA)

Viele Kommentatoren sehen den Angriff der Hamas als Versuch, die arabische Welt gegen ihren Willen in einen Krieg mit Israel hineinzuziehen. Die Analyse greift zu kurz und könnte zu einer folgenschweren Fehleinschätzung führen.

Der Angriff der Hamas und der Organisation »Islamischer Dschihad« auf militärische und zivile Ziele in Israel hat nicht nur eine große militärische Operation Israels gegen den Gazastreifen, sondern auch diplomatische Aktivitäten westlicher Staaten ausgelöst. Insbesondere die USA bemühen sich in der arabischen Welt um eine Eingrenzung des Konflikts, der von Israel und Palästina auf den Libanon, Syrien, Iran und seine Nachbarn ausgreifen kann. Aber wo stehen die Araber?

 

Unmittelbar nach dem Angriff ordneten zahlreiche deutsche und andere westliche Experten den Hamas-Angriff als Versuch ein, eine Annäherung zwischen Israel und der arabischen Welt, insbesondere Saudi-Arabien, durch eine Eskalation der Gewalt zu vereiteln. Die saudische Führung, so die landläufige Meinung, habe kurz davor gestanden, einen Friedensvertrag mit Israel zu unterzeichnen und diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Dies hätten Iran und seine verbündeten Kräfte, Hamas und Hizbullah, mit dem Massaker vom 7. Oktober und der zu erwartenden militärischen Antwort Israels erfolgreich konterkariert. Dass ein Zusammenhang zu diesen Verhandlungen besteht, ist offensichtlich. Dennoch greift die Analyse etwas zu kurz. Womöglich liegt ihr sogar eine potenziell folgenschwere Fehleinschätzung des Kalküls Saudi-Arabiens und der grundsätzlichen Lesart des Konflikts im »arabischen Lager« zugrunde.

 

Am Vorabend des Angriffs hatte die Biden-Administration mit Nachdruck versucht, eine Einigung zwischen Saudi-Arabien und Israel herzustellen und das Werk des von ihr ansonsten wenig geschätzten Präsidenten Trump und seines Schwiegersohns Jared Kushner von 2020 fortzusetzen. Über die Motive lässt sich zumindest sagen, dass Biden vor den anstehenden Wahlen im kommenden Jahr einen ebenbürtigen Vermittlungserfolg in Nahost vorweisen wollte. Der Wunsch war Vater des Gedankens, die Realität Nebensache.

 

Selbst israelische Experten, die sich zuvor stark für eine israelisch-arabische Annäherung im Geiste der sogenannten Abraham-Abkommen zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Marokko engagiert hatten, waren zunehmend erstaunt über den amerikanischen Optimismus, der zum Teil schon wie Naivität wirkte. Warum sollte Saudi-Arabien seine wachsende Rolle als Führungsmacht der arabischen und islamischen Welt aufs Spiel setzen und ausgerechnet jetzt einen solchen Deal eingehen, bei dem es die von rechtsextremen und messianischen Kräften dominierte Regierung Netanyahu ohne Gegenleistung stärkt und sämtliche Ansprüche der Palästinenser ignoriert? Und war das von Saudi-Arabien geführte Spektrum, das mitunter als »arabisches Lager« bezeichnet wird, tatsächlich überrascht oder gar erschüttert vom Ausbruch der Gewalt?

 

Saudi-Arabien agiert strategisch und zweigleisig – dazu gehört auch das Spiel mit falschen Erwartungen

 

Dieser Einschätzung liegt womöglich ein Unvermögen zugrunde, die – etwas pauschal gesagt – arabische politische Mentalität zu verstehen. Mit Sicherheit aber die grundlegende Annahme, die Araber seien noch immer träge, unfähig zur strategischen Gestaltung, und ausschließlich von kurzfristigen Interessen und dem Bedürfnis getrieben, ihre Macht im Inland zu erhalten. Diese Annahme preist nicht ein, dass insbesondere Riad seit einiger Zeit eine Strategie verfolgt, große Teile der arabischen und muslimischen Welt hinter sich zu versammeln, den Nahen Osten im eigenen Sinne neu zu ordnen und dabei auch ambivalent bis zweigleisig arbeitet, wozu auch das Spiel mit der Täuschung und falschen Erwartungen anderer Mächte gehören kann.

 

Wer die saudische Politik der letzten Jahre genauer verfolgt und sich in den Hauptstädten der arabischen Staaten umhört, kann zu einem anderen Schluss kommen. Arabische Regierungen in Algier, Riad, Doha, Kuwait-Stadt oder Bagdad haben in den letzten Jahren aufmerksam die Erfahrung der Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrains mit der Normalisierung beobachtet – skeptisch, aber ohne diese allzu lautstark zu verurteilen wie seinerzeit in den 1970er Jahren, als Ägyptens Präsident Anwar Al-Sadat Frieden mit Israel schloss und von den Staaten der Arabischen Liga großenteils isoliert wurde. Diese arabischen Regime und Regierungen haben allerdings auch verstanden, dass beide Golfstaaten spezifische Interessen verfolgen, die mit wirtschaftlichen, technologischen Interessen, aber auch ihrer Angst vor Iran und der unzureichenden Verlässlichkeit der USA als Schutzmacht am Golf zu tun haben.

 

Wer allerdings Erwartungen darin gesetzt hat, dass die Annäherung an Israel den arabischen Unterzeichnerstaaten der Abraham-Abkommen auch Hebel zur Lösung der Palästinafrage in die Hand geben oder zumindest eine Deeskalation zur Folge haben würde, wurde aus Gründen enttäuscht, die mit den Vertragswerken zunächst einmal wenig zu tun hatten. Denn in der Zwischenzeit kam Benjamin Netanyahu und mit ihm die rechteste und extremste israelische Regierung aller Zeiten zustande, die einen definitiven, exklusiven Anspruch der Juden auf Palästina propagierte.

 

Das saudische Credo war darüber hinaus immer, dass man erst eine Botschaft in Teheran wiedereröffnen würde, dann irgendwann vielleicht in Tel Aviv. Während man also die amerikanischen Gesprächspartner hinhielt und eine Annäherung an Israel in Aussicht stellte, beeilte sich die saudische Diplomatie, Beziehungen zu Iran wiederherzustellen. Dies aus drei Gründen: Der Kalte Krieg mit Iran band nicht nur Ressourcen, sondern hatte auch negativen Einfluss auf saudische Interessen in der Region – am Persischen Golf, wo die meisten Öl-Vorräte lagern, an der Südgrenze im Jemen, aber auch hinsichtlich der zunehmend nach Asien ausgerichteten saudischen Außen- und Handelspolitik, wo Iran nun einmal dazwischenliegt und ein großer Störfaktor sein kann.

 

Rätselhafter schien vielen Beobachtern hingegen die Motivation Riads für eine Aufwertung des syrischen Regimes, von der saudische Regierungsvertreter auffällig offenherzig sagten, man verfolge gar keine größere Strategie, sondern probiere einfach einen Politikwechsel angesichts früherer Misserfolge in Syrien. Die unter Experten weitverbreitete Erklärung, Saudi-Arabien wolle mit der Wiederaufnahme von Damaskus in die Arabische Liga lediglich den von Syrien ausgehenden Handel mit dem Aufputschmittel Captagon in der Region eindämmen, scheint oberflächlich richtig. Dahinter stand womöglich aber noch ein anderes Kalkül: Man will einen weiteren Zerfall Syriens aufhalten, da dieser nach saudischer Lesart nicht nur Iran, sondern auch Israels Vormachtstellung im Nahen Osten unumkehrbar stärkt. Für eine Lösung des Nahostkonflikts, bei welchem palästinensische Interessen noch berücksichtigt würden, benötigt man den arabischen Frontstaat Syrien. Nicht zu stark, aber auch nicht zu schwach. Ob mit Assad oder ohne ihn.

 

Die Frage, ob sich Saudi-Arabien dabei tatsächlich für das Schicksal Palästinas und der Palästinenser interessiert, ist legitim. In westlichen Analysen und Berichten überwog in den letzten Jahren die Meinung, das Palästinathema diene arabischen Regimen nur als Propagandainstrument, mit welchem sie die »arabische Straße« hinter sich versammeln wollten. Diese Lesart übersieht die ideologische Grundeinstellung, welche nicht nur islamistische, sondern auch jene Kräfte im Nahen Osten hegen, an deren Spitze sich Kronprinz Muhammad Bin Salman (MBS) und sein Projekt des arabischen Neo-Nationalismus zu stellen wollen scheinen.

 

Das Interesse der handelnden arabischen Akteure an Palästina mag propagandistisch nützlich, dabei aber trotzdem genuin und eine Motivation politischen Handelns sein. In der arabischen Welt ist man, ob auf der Straße oder in den Palästen, darüber hinaus in weiten Teilen davon überzeugt, dass in der Besatzung, der Unterdrückung der Palästinenser und dem ungelösten Nahostkonflikt der Schlüssel für die regionale Instabilität zu suchen ist. Ausnahmen bestätigen hier die Regel und natürlich ist das politische Verhalten der arabischen Staaten in der Palästinafrage auch widersprüchlich (wie so oft in der internationalen Politik).

 

Eine weitere kurzsichtige Lageanalyse in europäischen und insbesondere deutschen Medien ist die Analogie zum Jom-Kippur-Krieg von 1973, an dessen 50. Jahrestag die Hamas ihren Angriff auf Israel startete – beziehungsweise genau einen Tag, nachdem das »Jubiläum«, der 6. Oktober trügerisch ereignislos verstrichen war. Wie damals, 1973, wurde Israel an einem jüdischen Feiertag überfallen und wie damals reagierte die israelische Führung mit »Tsaz Schmoneh – Order Nr. 8«, der höchsten Alarmstufe und zeitlich unbegrenzten Einberufung von Reservisten, was man etwa in Doha oder Riad stärker registrierte als in europäischen Hauptstädten. Die Wahl des Datums seitens der Hamas wurde in Europa vielfach als Versuch interpretiert, nicht nur Israel zu demütigen und seine Verwundbarkeit zur Schau zu stellen, sondern auch die arabische Welt – gegen deren Willen – in einen großen, regionalen Krieg zu ziehen.

 

Der arabische Blick auf 1973

 

Die Jom-Kippur-Analogie geht allerdings deutlich weiter, was sich nur verstehen lässt, wenn man die bis heute weit verbreitete Sicht der Araber auf 1973 würdigt: Wer schon einmal die Nationalmuseen in Kairo und Damaskus besucht hat, wird erstaunt feststellen, dass der Oktoberkrieg (Harb Tishreen) dort im offiziellen historischen Narrativ als heroischer Akt begangen wird. Obwohl Israel den Krieg damals für sich entschied, hatten die arabischen Staaten den Israelis herbe Verluste beigebracht und – so zumindest die ägyptische Interpretation – einen Bewusstseinswandel herbeigeführt: Infolge dieses Krieges trat Israel in Verhandlungen mit Ägypten, infolge derer Sadat den gesamten Sinai zurückgewinnen konnte: als Preis für Frieden.

 

In der arabischen Welt ist die Ansicht weit verbreitet, dass nur ein Krieg mit großen Verlusten für Israel eine Ausgangslage für Verhandlungen sein kann, bei denen die israelische Seite auch bereit zu Konzessionen ist. Der Status Quo hingegen habe es Israel erlaubt, Schritt für Schritt Tatsachen zum eigenen Vorteil zu schaffen. Hinzu kommt, dass eine Mehrheit der Araber nicht nur in Palästina, sondern auch in anderen Ländern der Region, davon überzeugt ist, Israel wolle in nächster Zeit das Westjordanland annektieren, die palästinensische Bevölkerung vertreiben, das Al-Aqsa-Heiligtum abreißen und schließlich einen neuen jüdischen Tempel errichten.

 

Die in letzter Zeit zunehmende Siedlergewalt unter den Augen der israelischen Armee, die hohen palästinensischen Opferzahlen im Westjordanland, die neue Regierung Netanyahu und die empörenden Aussagen ihrer rechtsextremen Mitglieder Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich zu diesem Thema – all das trug nicht gerade dazu bei, derlei Befürchtungen zu zerstreuen. Es war vielmehr Wasser auf die Mühlen der Extremisten, die einem Showdown entgegenfieberten.

 

In diesem Klima konnte die Hamas das Unbehagen der arabischen Welt davor schüren, dass man tatenlos daneben stehe, während Israel auf allen Seiten siegt. Aus diesem Kontext erklärt sich auch die bemerkenswerte Empathielosigkeit, mit welcher das arabische Lager, mit wenigen Ausnahmen, auf das Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung reagierte.

 

Angesichts der gefährlichen Lage gehen nun Europäer und Amerikaner auf Shuttle-Diplomatie und versuchen, arabische Regierungen zur Mithilfe bei der Eindämmung des Konflikts zu animieren. Diese verhalten und äußern sich ambivalent – vor allem aber üben sie wenig Kritik an dem Vorgehen der Hamas, was nicht gerade darauf hindeutet, dass sie sich durch die Eskalation verraten fühlen.

 

Womöglich kann eine Ausweitung des Krieges – etwa im saudischen Kalkül – durchaus strategische Vorteile mit sich bringen, welche über einen in solchen Fällen üblichen sprunghaften Anstieg des Ölpreises auf dem Weltmarkt hinausgehen: Die Hamas in Gaza, die einer regionalen pax saudica im Weg stünde, wäre eliminiert. Greift die Hizbullah nun aber mit ihrem großen Raketenarsenal in die Kämpfe ein, bestünde die Chance, dass sie durch israelische – und möglicherweise amerikanische – Bombardements an den Rand ihrer Existenz gedrängt wird. Für den Libanon wäre ein solcher Krieg ein Schrecken. Für die Gegner der Hizbullah in der Region aber eine vielversprechende Gelegenheit, das Land aus dem Klammergriff der schiitisch-revolutionären Organisation zu winden.

 

Saudi-Arabien wäre damit zumindest perspektivisch einen weiteren Spoiler seiner Führungsansprüche los oder könnte diesen mindestens entscheidend schwächen. Diese Überlegungen ließen sich auch auf Iran ausdehnen, sollte sich die Islamische Republik ebenfalls direkt in den Krieg verwickeln lassen. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass man in Teheran die negativen Folgen einer solchen Eskalation durchgespielt hat, das saudische Kalkül richtig einschätzt und – im Gegensatz zu Hizbullah und Hamas – Krieg grundsätzlich als strategische Option, aber nicht als Frage von Sein oder Nichtsein betrachtet.

 

Schon jetzt ist wahrscheinlich – gleich, wie der Krieg in Gaza ausgeht und welche Opfer er zeitigt – dass Netanyahu sich politisch nicht mehr von dem Debakel des 7. Oktober erholen wird, was für eine »Friedenslösung« nach saudischer Vorstellung von großem Vorteil wäre. Denn auch Netanyahus rechtsextreme Koalitionspartner, die Israels Sicherheit für ihre politischen Ziele aufs Spiel setzten, sind diskreditiert. Ein regionaler Krieg würde Tausende israelische Opfer kosten, auch wenn Israel diesen militärisch gewinnt. Im arabischen Lager besteht eine gewisse Hoffnung, dass Israel daraufhin von seiner bisherigen Logik abrückt, wonach man dank einer haushohen militärischen Überlegenheit langfristig jedes politische Ziel in der Region durchsetzen kann.

 

1973 geriet der Nahe Osten durch das drohende Eingreifen der Supermächte USA und UdSSR an den Rand eines Weltkriegs, was den Leidensdruck hinsichtlich einer international verhandelten Konfliktbeilegung stärkte. Israel erlitt dramatische Verluste, infolge derer die Likud-Regierung Golda Meir stürzte. Der jüdische Staat ging danach Kompromisse ein. »Jom Kippur« wurde der letzte große Krieg Israels mit seinen arabischen Nachbarn: Hier liegt aus Sicht des arabischen Lagers die wahre Analogie zu 1973.

 

Wenn also europäische und amerikanische Regierungschefs nun durch den Nahen Osten reisen, um für Frieden und Deeskalation zu werben, und gleichzeitig erklären, sie wollten Israel mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen, so kann es sein, dass sie freundliche Worte zu hören bekommen. Sie sollten allerdings im Kopf behalten, dass manche ihre Counterparts nicht nur im Frieden, sondern auch im Krieg eine Gelegenheit sehen, die Region neu zu ordnen. Vor allem wenn es ein Krieg ist, an dem sie selbst nicht teilnehmen müssen, sondern lediglich diejenigen Mächte, an deren wechselseitiger Schwächung sie ein gewisses Interesse haben.

Von: 
Daniel Gerlach

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.