Den einen gilt der Nahe Osten als unruhig oder explosiv, den anderen als Inbegriff von Stillstand und verkrusteten Strukturen. Seine Herrschenden haben bemerkenswerte Überlebensstrategien. Und seine Gesellschaften sind noch gut für Überraschungen.
Du kannst noch so viele Milliarden zur Verfügung haben. Dazu noch eine brillante Strategie, um den Nahen Osten zu beherrschen. Und dann kommt ein Dahergelaufener, einer oder mehrere, und vereitelt sie. Und so sehr das Recht des Stärkeren die Geschicke dieser Weltregion bestimmt, so sehr lässt sich ihre Geschichte doch als eine von durchkreuzten Plänen mächtiger Imperien erzählen – und des Triumphs der Underdogs. Meistens, aber nicht immer, waren es Männer. Meistens, aber nicht immer, führten sie Kriege. Und selten hatten sie dabei das Wohl der Menschheit im Sinn.
Schon einmal von Arethas dem Lahmen gehört? Dieser Scheich einer arabisch-christlichen Stammesföderation, der Ghassaniden, verdrosch im Syrien des 6. Jahrhunderts die persischen Sassaniden und ihre Vasallen und ließ sich vom Kaiser von Byzanz mit Ehrungen überhäufen. Nebenbei baute er die syrisch-orthodoxe Kirche auf. Seine Dynastie wechselte später allerdings die Seiten und verhalf so den muslimischen Eroberern zum Sieg. Oder der Prophet des Islams selbst: ein Speditionskaufmann aus der Wüste, der eine Erweckungsbewegung schuf und damit indirekt gleich mehrere Imperien Vergangenheit werden ließ.
Denken wir an Nadir Schah, einen oghusischen Hirtensohn, Waisen und Sklaven, der sich zum »persischen Napoleon« aufschwang und das Mogulreich in Indien zerlegte. Wer hätte es einem gewissen Mustafa Kemal, Sohn eines Zollbeamten und Holzhändlers aus Saloniki, zugetraut, den Diktatfrieden von Sèvres und die Zerschlagung der Türkei zu revidieren und die Geschichte damit rückgängig zu machen.
Chaim Weizmann, der Architekt des Staates Israel, Ibn Saud, Khomeini – alles Typen, die, etwas allgemein gesagt, niemand auf dem Zettel hatte. Und, ohne dies mit einer Würdigung zu verbinden, man muss auch einen gewissen Ibrahim Awad Al-Badri, besser bekannt als Kalif Abu Bakr Al-Baghdadi, in diese Reihe stellen. Ein neues Reich hat er nicht geschaffen, dafür aber die politischen Verhältnisse im Nahen Osten nachhaltig verändert.
Weizmann, Atatürk, Ibn Saud, Khomeini – alles Typen, die niemand auf dem Zettel hatte.
So weit die Nobodys, die es zu Weltruhm brachten. Aber können auch gesellschaftliche Akteure im Nahen Osten, denen man dies allgemein eher nicht zutraut, die Zustände verändern? Der sogenannte Arabische Frühling, der nicht mehr weit vom zehnten Jubiläum seines Beginns entfernt ist, gab allen Anlass, dies zu vermuten. Jugendliche, die einerseits nichts zu verlieren hatten, sich andererseits befähigt zeigten, sich zu organisieren.
Die Wirkung dieser Bewegung war für viele Beobachter so mächtig und vor allem so überraschend, dass sie sich diese nur mit dem Einfluss ausländischer Mächte erklären konnten. Auf der Anklagebank standen hier einerseits der Westen, insbesondere die USA mit ihren Demokratisierungsinstrumenten wie »Freedom House«, andererseits die Golfstaaten. Der Westen habe Ben Ali, Mubarak, Gaddafi, Saleh im Jemen und Baschar Al-Assad das Handwerk legen wollen, und zumindest bei den letzten drei Genannten hätten sich seine Interessen mit denen Saudi-Arabiens, Katars und Kuwaits überschnitten.
Die Verfechter dieser Theorie, dass alles von langer Hand geplant gewesen und die Protestbewegungen nur ahnungslose, manipulierte Erfüllungsgehilfen gewesen seien, erfreuen sich nach wie vor recht großer Beliebtheit in Teilen der arabischen Republiken, den Entwicklungsländern, aber auch hier in Europa. Ohne infrage zu stellen, dass die genannten Akteure zu einem frühen Zeitpunkt ins Geschehen eingriffen, muss man ihnen doch das Folgende entgegenhalten.
Wenn wir die staatlichen Ressourcen, die zur Unterstützung der Umbrüche eingesetzt wurden, mit denjenigen vergleichen, die man zu ihrer Bekämpfung aufwandte, so fiele die Bilanz wohl recht eindeutig zugunsten der letzteren aus. Weder hatte der Arabische Frühling eine umfassende Agenda, noch, mit Ausnahme Libyens, wo der Westen auf Seiten der Aufständischen militärisch eingriff, die Unterstützung eines sogenannten Game Changers, der jederzeit die Verhältnisse zugunsten der einen oder anderen Seite beeinflussen konnte.
Wer stehen bleibt, wenn Wolken aus Tränengas sich verdichten oder Kampfjets über dem Kopf donnern, der verbringt eine Leistung, die höchste Anerkennung abverlangt.
Insofern ist kein Rückschlag, kein Scheitern, wenn man es so nennen will, überraschend. In der medialen Betrachtung wurde die arabische Welt vor 2011 vor allem als eine Region des Stillstands wahrgenommen: Verliererin der Globalisierung, visionslose Politiker, keine ökonomischen Perspektiven.
Zu ihrer Ehrenrettung müssen wir anmerken, dass die Gesellschaften des Nahen Ostens und Nordafrikas tiefgreifende und zum Teil dramatische Veränderungen erfahren haben: der Kolonialismus, die Bildung neuer Staaten, Modernisierung in den Städten, totalitäre Ideologien wie Kommunismus, Islamismus, Nationalismus, die dort, anders als in Mitteleuropa, nicht mit Dutzenden Millionen Toten endeten.
Mangelnder Anschluss an moderne, globale Entwicklungen sind sicher zu beobachten, allerdings auch Erfolge dabei, traditionelle und hypermoderne Lebensweisen in Einklang zu bringen: Das ist es nicht zuletzt, was die Region so »kontrastreich« für die Medien und interessant für Reisende macht.
Teile der Gesellschaften des Nahen Ostens und Nordafrikas wollten ihr Schicksal nicht länger einer Handvoll Herrschender überlassen. Und sie ernteten dabei international Sympathien. Protestieren an und für sich ist kein Meisterwerk. Gegen etwas zu sein und dies lautstark auszudrücken, hat das Volk zu allen Zeiten getan. Diejenigen, die protestierten, sind also nicht par défaut die Guten in einem Spiel.
Von außen mag es nach Stillstand aussehen, aber in den Systemen wird im Akkord geschuftet, wenn freilich nur zum eigenen Machterhalt.
Wer aber alles einsetzt, was er oder sie besitzt, sein Leben, und sei es nur die körperliche Unversehrtheit oder die Freiheit, wer stehen bleibt, wenn die Sonne brennt, Wolken aus Tränengas sich verdichten oder gar Kampfjets und Helikopter über dem eigenen Kopf donnern, der verbringt schon eine Leistung, die uns höchste Anerkennung abverlangt. Von der Dynamik solcher Bewegungen, wie sie der Arabische Frühling freisetzte, geht eine große Faszination aus.
Man wundert sich, was plötzlich so passieren kann. Nicht rühmenswert, aber durchaus faszinierend, sind aber auch die Überlebenstaktiken der anderen Seite: der arabischen Staaten, ihrer Regime und Herrscher, die zum Teil über Jahrzehnte an der Spitze stehen und permanent Prüfungen bestehen. Von außen mag es nach Stillstand aussehen, aber in den Systemen wird im Akkord geschuftet, wenn freilich nur zum eigenen Machterhalt.
Wer hätte etwa gedacht, dass das Haschemitische Königreich Jordanien mit bislang nur vier Herrschern auskommen und so lange Zeit bestehen würde? Bei allem Schutz und aller Hilfe, die ihm aus dem Westen und den Golfstaaten zuteilwurde, bleibt es immerhin ein schwacher Staat mitten auf den tektonischen Verwerfungen des Nahen Ostens, eine Kompromissgeburt, mit der die Briten dereinst nur einen zu kurz gekommenen Verbündeten aus dem glücklosen Haus der Haschemiten gütlich stimmen wollten.
Einige arabische Staaten erleiden heute Kriege und Konflikte, die ihre politische Geografie und vielleicht auch die Gestalt von Territorium und Staatsform nachhaltig verändern. Das gilt für Libyen, Syrien, Somalia, sofern man es zur arabischen Welt zählen möchte, und zu einem gewissen Grad auch für den Irak. Die meisten Staaten der arabischen Welt aber haben ihre aus dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs und der Kolonialzeit hervorgegangene Gestalt bewahrt.
Die führenden Köpfe der Islamischen Republik glauben womöglich wirklich, dass sie auf der richtigen Seite der Geschichte stehen.
Der Jemen und der Sudan stellen hier Ausnahmen dar: Beide Staatsgebilde sind seitdem – zum Teil mehrfach – zerfallen und wieder zusammengefügt worden. Andere Staatsprojekte, etwa das palästinensische oder das kurdische, sind über die Jahrzehnte erfolgreich vereitelt worden. Auch das lässt sich als Hinweis auf Kontinuität betrachten, womit keineswegs ein Werturteil verbunden ist.
Wenn europäische Politiker und Kommentatoren über die Staaten des Nahen Ostens sprechen – und umgekehrt –, tritt ein bedeutender Unterschied zutage, besonders deutlich wieder, als die Amerikaner im Frühling 2019 Iran mit einem Krieg bedrohten und die Spannungen am Golf zunahmen. Viele fragten sich: Kann das iranische Regime diesem Druck standhalten?
Wer auf solche Fragen eine Antwort finden will, muss eine historische Perspektive einnehmen, was selten geschieht, da die Politikwissenschaft zumeist die Debatten dominiert. Nur dann begreift man einen so entscheidenden Unterschied zwischen den politischen Mentalitäten des Nahen Ostens und westlicher Demokratien. Hier haben wir begrenzte Aufmerksamkeitsspannen, zeitlich befristete politische Interessen und Prioritäten mit Verfallsdaten.
Gestern noch schauten wir auf die europäische Finanzkrise, dann auf den Brexit, auf Rechtspopulismus, Trump, die Erschütterung der amerikanischen Mediendemokratie und den Zerfall der westlichen Allianz. Dann gab es kein wichtigeres Thema als die Migration und ihre Abwehr. Momentan steht die globale Erwärmung auf der Agenda, vielleicht wird es in ein paar Jahren wieder die Angst vor einem Niedergang des deutschen Exportwunders sein. Diese Themen bestimmen nicht nur den Mediendiskurs, sie verbrauchen auch ein Großteil der Energie von Regierungen und ihren ausführenden Organen.
Was die meisten Herrschenden im Nahen Osten eint, ist wohl die erlernte Fähigkeit, Druck von außen als natürliches Habitat zu begreifen.
Die meisten Regierungen des Nahen Ostens zerbrechen sich über solche Dinge nicht den Kopf. Sie setzen ihre Ressourcen vielleicht nicht effizient, gewiss aber zielgerichtet ein: für das eigene politische und militärische Überleben. Und wenn man 30 oder 40 Jahre tagein tagaus dasselbe tut, kann das ermüdend für die Psyche ein. Man kennt aber mit Gewissheit eine Menge Tricks und ist vor allem nicht leicht zu beeindrucken.
Mitte der 1980er-Jahre, als am Persischen Golf ein Vernichtungskrieg zwischen Irak und Iran tobte, saß der heutige Präsident der Islamischen Republik in deren Nationalem Sicherheitsrat. Das politische System, dem er entstammt, tut seit seinem Bestehen nichts anderes, als Krisen zu managen und sich gegen – reale oder empfundene – Angriffe von außen zu verteidigen. Glauben wir tatsächlich, dass Trump solche Köpfe in die Panik treibt?
Baschar Al-Assad, den viele Medien zu Beginn als durchweg zivilen, dem Militärischen abholden Unglücksraben sahen, erwies sich als ein gewiefter Taktiker. Seinem Regime wurde gewissermaßen das Glück des Tüchtigen zuteil: Es griff zu allen Mitteln, um den Aufstand abzuwehren, spielte geschickt die eine gegen die andere Seite aus und überlebte so lange, bis in den USA der Präsidentschaftswahlkampf losging und sich Russland traute, als Kriegsmacht in Syrien auf die Weltbühne zurückzukehren.
Das Haus Assad und seine Getreuen standen nicht erst seit 2011 im Krieg. Für sie war der Arabische Frühling nichts anderes als eine Fortführung des Aufstandes der Muslimbrüder von 1982 und 1966, als ein Teil der sunnitischen Bevölkerung Syriens versuchte, den Baathismus und die alawitische Minderheit von der Macht zu vertreiben. Dieser Kampf wurde zur raison d’être von Assads Sicherheitsregime, das seitdem nichts anderes tat, als sich für den Tag zu wappnen, da die Unterdrückten sich abermals erheben und Rache nehmen wollen.
Die algerische FLN-Oligarchie legitimierte sich durch ihr Mitwirken am Befreiungskrieg gegen Frankreich. Dem iranischen Regime in dieser Frage nicht unähnlich, beruft es sich auf eine große Revolution, die niemals wirklich abgeschlossen ist. Wer da nicht dabei war, soll sich nicht in Politik einmischen.
Zwischen den Mächten im Nahen Osten wird seit Jahren ein Nullsummenspiel ausgetragen.
In Ägypten wiederum scheint sich das Mamlukentum als Form der Herrschaft etabliert zu haben. Wer für die Sicherheit des Volkes bürgt, darf sich darin ein großes Stück vom Kuchen nehmen: Es ist besser, wenn das Brot und Gewehre, die Wirtschaft und das Militär, aus einer Hand verwaltet werden. Das große Vergehen der Muslimbrüder nach Muhammad Mursis Wahlsieg 2012, und der wohl eigentliche Grund ihrer regelrechten Ausrottung durch das Militär, war nicht ihr islamistischer, undemokratischer Herrschaftsstil, sondern ihr Versuch, sich dieses System einzuverleiben und ihre eigenen Oligarchen an die Stelle dieses mamlukischen Systems zu setzen.
Dass Regierungen und Regime der Region ihr Handeln in den Dienst des eigenen Machterhalts stellen, muss nicht bedeuten, dass sie zynisch sind. Sie können dabei durchaus ideologisch motiviert sein oder die Überzeugung in sich tragen: Alles, was sie tun, ist zumindest langfristig zum Wohle jenes Volkes, das ihnen vom Schicksal überantwortet wurde wie einem Scheich ein Stamm in der Wüste.
Muhammad Bin Zayed, der berühmt-berüchtigte Kronprinz der Vereinigten Arabischen Emirate, ist gewiss der Ansicht, dass die freiheitlichen Umtriebe in der arabischen Welt nur den Islamisten Vorschub leisten und man von solchen Experimenten die Finger lassen soll. Sein Nachbar und Rivale, Scheich Tamim Bin Hamad von Katar, meint womöglich das Gegenteil: Islamistische Populisten seien allemal besser als Generäle für die arabische Welt. Nur wenige Ausnahmevölker, etwa das eigene, seien hoch genug zivilisiert, um in einer Premium-Autokratie zu leben.
Hinzu kommt ein gewisser historischer Determinismus, den der Erfolg verstärkt: Die führenden Köpfe der Islamischen Republik glauben womöglich wirklich, dass sie auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, das amerikanische Imperium demnächst untergehen und die Fürstentümer am Golf fallen werden.
Wer, wie Assad, einen neunjährigen Krieg überstanden hat, einen Großteil der Zeugen seiner Taten in den Gefängnissen vernichten ließ, keinem Attentat zum Opfer fällt, ja nicht einmal einen Schlaganfall erleidet, kommt wohl irgendwann zu dem Schluss: Die Vorsehung ist mit mir und ich habe eine Mission zu erfüllen. Schwer vorstellbar, dass so jemand sagt: Freunde, meine Zeit ist vorüber, ich bin müde und trete ab. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass der Präsident, wie jüngste Berichte aus Syrien bestätigen, seinen 17-jährigen Sohn auf die Militärakademie schickt und langsam aber sicher auf die Herrschaft eines dritten Assad vorbereitet.
Die Gesellschaften im Nahen Osten können uns überraschen: dadurch, dass aus ihnen wieder einmal ein Underdog hervorgeht, der die Pläne der Großen durchkreuzt.
Wer nach Israel schaut, mag sich wundern, mit welchem Erfolg Ministerpräsident Benyamin Netanyahu ein Projekt umsetzt, von dem sein rechtsgerichteter, dem revisionistischen Lager anhängender Vater Benzion nur träumen konnte: Er beendet, was vom palästinensischen Staatsprojekt noch übrig war, wird von Trump mit der Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem und der Anerkennung der Annexion der Golanhöhen belohnt.
Und trotz allem gelingt es ihm, die Beziehungen zu einigen mächtigen arabischen Staaten zu verbessern. Auch Netanyahu wurde das Glück des Tüchtigen zuteil. Dass der Arabische Frühling die Machtverhältnisse im Nahen Osten verändern, ein gewisser Muhammad Bin Salman die Herrschaft in Riad übernehmen, dies die saudisch-iranische Rivalität in dieser Form befeuern und einige Golfstaaten zur Annäherung an Israel bewegen würde – das alles war nicht sein Verdienst.
Vergessen wir gleichwohl nicht, dass Netanyahu im Jahr 1996 erstmalig Israels Ministerpräsident wurde, also drei Jahre bevor der »ewige« Präsident Abdelaziz Bouteflika in Algerien übernahm. Zwischendurch haben zwar noch drei andere den jüdischen Staat regiert, dennoch könnte man Netanyahu als dienstältesten Herrscher des Nahen Ostens titulieren, übertroffen nur vom omanischen Sultan Qabus und Irans Ali Khamenei. Netanyahu kennt die Tricks und Taktiken der orientalischen Despoten und scheint von ihnen zu lernen.
Während sich andere arabische Staaten wie etwa der Irak zu zwar defizitären, aber immerhin zu Demokratien entwickeln, lässt die israelische Demokratie ihrerseits große Defizite sichtbar werden. Sie orientalisiert sich gewissermaßen und nähert sich ganz allmählich den Verhältnissen in der Region an. Man könnte sagen, unter Netanyahu ist Israel endgültig im Nahen Osten angekommen (Für das Thema Korruption in der Politik gilt das schon etwas länger, wobei da noch sehr viel Luft nach unten ist, wenn man den arabischen Staaten ebenbürtig werden will).
Was die meisten Herrschenden im Nahen Osten eint, ist wohl die erlernte Fähigkeit, Druck von außen als natürliches Habitat zu begreifen. Die meisten Staaten des Nahen Ostens stehen unter permanenter Stressbelastung. Die gesellschaftlichen Fliehkräfte sind enorm, und dennoch schaffen sie es, zu bestehen: unter Zuhilfenahme von Gewalt, Manipulation, Ablenkungsmanövern, Zugeständnissen und eben auch Verhandlungen.
Aber während sie beim Projekt Machterhalt durchaus erfolgreich wirken, sieht es, mit wenigen Ausnahmen, bei der Verwirklichung außenpolitischer Projekte eher bescheiden aus. Denn dabei trifft jeder nahöstliche Potentat ja zwingend irgendwann auf einen anderen. Sei es einen Underdog, so wie der Huthi-Clan im Jemen, oder einen mächtigen Rivalen wie Iran.
Saudi-Arabien und seine Verbündeten haben Teile des Jemen durch einen Bombenkrieg in Schutt und Asche gelegt, ohne nennenswerte Erfolge zu erzielen. Den Vereinigten Arabischen Emiraten ist es zwar gelungen, befreundete Herrscher im Nahen Osten zu stabilisieren oder ihnen sogar zur Macht zu verhelfen. In einem Rekordtempo büßten sie dabei aber das Image einer weithin bewunderten, auf Soft Power fußenden Macht zugunsten einer für ihre Aggressivität verhassten ein.
Ähnlich widerfuhr es Katar während des Arabischen Frühlings: erst Champion der Medienfreiheit und Entwicklung, dann Sponsor islamistischer Umtriebe. Saudi-Arabiens Muhammad Bin Salman: Hoffnungsträger der Jugend, der dem in Familienbesitz befindlichen Land Saudi-Arabien so etwas wie eine nationale Identität verleihen will. Wenig später: mutmaßlicher Drahtzieher eines ebenso überflüssigen wie widerwärtigen Attentats.
Was auch immer sie investierten, es sieht aus, als verzockten sie sich allenthalben, um sich am Ende in den eigenen Fuß zu schießen. Ägyptens Sisi verfolgt jeden, der nur das Stauchaos in Kairo öffentlich kritisiert, und schafft es trotzdem nicht, im Kampf gegen dschihadistische Räuberbanden auf dem Sinai zu triumphieren. Ganz zu schweigen von dem, was von Präsident Erdoğans erträumter Führungsrolle übrigblieb.
Den Kurden im Nordirak und in Nordostsyrien gelang es, je auf ihre Weise, aus den Wirren des Arabischen Frühlings Kapital zu schlagen und ihre eigene Position zu stärken. Aber in dem Moment, da sie das Projekt eines eigenen Staates vollenden wollen, fliegt es ihnen buchstäblich um die Ohren.
Kein Wunder, dass zwischen den Mächten im Nahen Osten seit Jahren ein Nullsummenspiel ausgetragen wird: Es geht einher mit einem Mangel an Gestaltungswillen einerseits und der Priorisierung des eigenen Machterhalts auf der anderen Seite. Es zielt darauf ab, potenzielle Bedrohungen für den letzteren zu neutralisieren sowie Mächte aufzubauen, die eher dem anderen als mir selbst schaden.
Man kann die jüngere Geschichte dieser Region also anhand dieses Nullsummenspiels erzählen. Oder aber sie von ihren Veränderungsprozessen her denken. Geopolitische Interessenkämpfe sollte man dabei nicht außer Acht lassen. Allein aber erklären sie diese Geschichte nicht.
Es empfiehlt sich dabei, auf beides zu schauen: einerseits auf die Taktiken und Strategien der Herrschenden im Nahen Osten. Man sollte sie nicht gutheißen, kann aber doch von ihnen lernen. Andererseits auf die Gesellschaften. Im Gegensatz zu den Regierungen können sie uns nämlich überraschen: dadurch, dass sie, wie kürzlich in Algerien und im Sudan geschehen, Umbrüche bewirken. Oder dadurch, dass aus ihnen wieder einmal ein Underdog hervorgeht, der die Pläne der Großen nachhaltig durchkreuzt.
Daniel Gerlach ist Mitgründer, Herausgeber und Chefredakteur von zenith. Im Frühjahr 2019 erschien von ihm das Buch »Der Nahe Osten geht nicht unter – die arabische Welt vor ihrer historischen Chance« in der Edition Körber.