Die EU muss sich gegen Trump behaupten – sonst bleiben Sanktionen gegen Israel in Berlin, Rom und Brüssel stecken.
Während die Zerstörung in Gaza von Tag zu Tag unerträglicher wird, befindet sich die Europäische Union in einer Lähmung. Die seit fast zwei Jahren anhaltenden Angriffe Israels auf die Zivilbevölkerung in Gaza haben zu Tod, Verstümmelungen und schlimmen Verletzungen von über 230.000 Palästinensern geführt. Die Bombardierung von Gaza-Stadt im Rahmen der offen erklärten Politik der israelischen Regierung, die Bevölkerung aus dem Stadtbereich zu vertreiben und eineinhalb Millionen Menschen innerhalb oder gar außerhalb Gazas mit Gewalt umzusiedeln, ist nichts anderes als die zutiefst völkerrechtswidrige Aktion einer ethnischen Säuberung. Seit dem Beginn der israelischen Bodenoffensive in Gaza-Stadt wurden über 500.000 Menschen vertrieben. Schlimmer noch, aufgrund des vollkommen unzureichenden, von Israel bewusst blockierten Zugangs zu Nahrungsmitteln und Wasser leiden viele Tausende an schwerer Unterernährung. Mehr als 300 Kinder sind bereits grausam verhungert.
Zerstörte Krankenhäuser, Schulen und Universitäten und eine ganze Generation von Palästinensern, die von Tod, Hunger, Traumata und Vertreibung geprägt ist – das ist das Erbe der unerbittlichen, andauernden israelischen Militäraktion, die die Welt schockiert. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat bereits festgestellt, dass ein plausibles Risiko eines Völkermords besteht. Die meisten Rechtsexperten sagen nun, dass wir längst Zeuge eines anhaltenden Genozids sind.
Und dennoch gibt es in Brüssel keine nennenswerten Schritte in Richtung der Sanktionen und Embargos, die die Situation so eindeutig erfordert. Warum? Weil der Kampf um Gaza nicht nur ein Versagen europäischer Handlungsfähigkeit darstellt, sondern hinter den Kulissen sich auch ein Machtkampf zwischen wichtigen Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission abspielt – und, über allem schwebend, das Gespenst von Donald Trump.
Angesichts des unberechenbaren, illoyalen und bisweilen rachsüchtigen Verhaltens Trumps führt dies zu einer selbst auferlegten Zurückhaltung
Der EU mangelt es nicht an Instrumenten, um Israel zur Rechenschaft zu ziehen. Dazu gehören unter anderem gezielte Sanktionen gegen israelische Politiker und Militärs, denen Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, die Aussetzung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel, die Einstellung von Waffenexporten, das Verbot des Handels mit Siedlungen und der Ausschluss Israels aus EU-Forschungsprogrammen wie »Horizon Europe«. Für jede dieser Maßnahmen gibt es Präzedenzfälle und rechtliche Grundlagen. Im Angesicht der russischen Invasion in der Ukraine hat die EU innerhalb weniger Wochen weitaus drastischere Maßnahmen ergriffen.
Warum also jetzt nicht auch im Falle Israels? Weil im Gegensatz zu Russland die Forderung nach Rechenschaftspflicht gegenüber Israel mit Europas derzeit politisch instabilster Beziehung verflochten ist: der mit den Vereinigten Staaten. Man könnte den natürlich den Finger allein auf die moralische Feigheit oder politische Inkonsequenz Europas zeigen – und beides ist reichlich vorhanden –, doch das tiefere Problem liegt in den USA, wo eine mächtige pro-israelische Lobby und eine Wählerschaft von etwa 90 Millionen bekennenden Evangelikalen eine überdimensionierte Rolle bei der Gestaltung der Politik Washingtons gegenüber Israel spielen. Dieses außenpolitische Präjudiz wird durch Donald Trumps Einfluss auf die transatlantische Diplomatie noch verschärft – eine Beziehung, in der Europa in Trumps Weltbild kein echter Verbündeter, sondern nur ein transaktionaler Spielball ist.
Bereits während seiner ersten Amtszeit hat Trump die langjährige Außenpolitik der USA gegenüber Israel auf den Kopf gestellt – doch nun unterstützt seine Administration die Annexion besetzter palästinensischer Gebiete, erkennt Siedlungen an und schützt Israel aggressiv vor jeglicher internationaler Rechenschaftspflicht. Er hat die Finanzierung von UN-Agenturen eingestellt, Richter und Staatsanwälte des Internationalen Strafgerichtshofs sowie den UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und die Palästinensische Autonomiebehörde mit Sanktionen belegt.
Die Spitzen der EU-Institutionen und vieler Regierungen befürchten, dass jede entschlossene Maßnahme der EU in Bezug auf Gaza und das Westjordanland eine Gegenreaktion des Weißen Hauses unter Trump hervorrufen könnte, einschließlich Handelsvergeltungsmaßnahmen, Spannungen innerhalb der NATO und verstärktem politischen Druck. Trumps Hin-und-Her-lavieren gegenüber Wladimir Putin und das fehlende Bekenntnis zu harten Sanktionen gegenüber dem russischen Aggressor im Krieg um die Ukraine sowie seine Androhungen, die EU mit horrenden Zöllen zu belegen, haben viele Regierungschefs, unter ihnen in Deutschland, Italien, Polen und Frankreich, verunsichert. Angesichts des unberechenbaren, illoyalen und bisweilen rachsüchtigen Verhaltens Trumps führt dies zu einer selbst auferlegten Zurückhaltung: Viele Mitgliedstaaten zögern, strenge Sanktionen zu unterstützen, und die Kommission scheut sich, umfassende, wirksame Strafmaßnahmen gegen Israel vorzuschlagen.
Berlins Politik ist leider viel zu kurzsichtig, wenn sie durchaus nachvollziehbare nationale Befindlichkeiten über das gesamteuropäische Interesse stellt
Vor kurzem hat Präsidentin Ursula von der Leyen jedoch beschlossen, sich proaktiver zu zeigen. Angesichts der Tatsache, dass eine klare Mehrheit der Europäer, insbesondere unter den jüngeren Generationen, Israels Krieg gegen Gaza kritisiert (in Deutschland sogar mehr als 80 Prozent laut den letzten Umfragen), und angesichts des wachsenden Drucks von Mitgliedsstaaten, in denen fragile Regierungskoalitionen ein Umdenken gegenüber Israel erzwingen, schlug die Kommissionspräsidentin am 10. September moderate Handels- und außenpolitische Sanktionen vor. Die mächtigen Mitgliedstaaten bleiben jedoch gespalten.
Deutschland und Italien lehnen unter Berufung auf historische Verpflichtungen und unter Abwägung geopolitischer Kalküle jede größere Eskalation mit Israel und den USA ab, was eine Entscheidung selbst mit qualifizierter Mehrheit zumindest vorerst unmöglich macht. Frankreich, das eine sehr sichtbare, aber weitgehend symbolische UN-Initiative zur Anerkennung Palästinas anführt, scheint aus innen- und außenpolitischen Gründen auf beiden Seiten zu spielen. Unterdessen haben insbesondere Spanien, Irland, Belgien und Slowenien begonnen, unabhängig davon voranzuschreiten, indem sie nicht nur Palästina anerkannten, sondern auch den Handel mit Siedlungen verbieten, Waffenverkäufe stoppen und rechtliche Rechenschaftspflicht angesichts der horrenden Kriegsverbrechen in Gaza fordern.
Diese Zersplitterung unter den Mitgliedstaaten ist nicht nur ein politisches Versagen – sie ist auch eine Bewährungsprobe für den Zusammenhalt und die kollektive Schlagkraft der EU. Wenn sowohl die Kommission als auch mehrere Mitgliedstaaten aus Angst vor Gegenreaktionen der Trump-Regierung zögern zu handeln, und wenn wichtige Länder wie Deutschland aus innenpolitischen Gründen, die auf koalitionsinterne Dissonanzen zurückzuführen sind, Sanktionen blockieren, wirkt die viel gepriesene »geopolitische Union« der EU eher wie eine Kollektion von Vetos als eine kollektive Kraft. Berlins Politik ist leider viel zu kurzsichtig, wenn sie durchaus nachvollziehbare nationale Befindlichkeiten über das gesamteuropäische Interesse stellt.
Letztendlich wird sich an der EU-Politik gegenüber Gaza nichts Wesentliches ändern, solange Europa nicht bereit ist, sich gegen Trumps absurde und überholte Doktrin der US-Dominanz zu stellen
Gaza ist zu einem Fallbeispiel dafür geworden, wie die Außenpolitik der EU weniger von Werten als vielmehr von Machtverhältnissen zwischen den Mitgliedstaaten, der Kommission und Washington geprägt ist. Jede Verzögerung bei der Verhängung von Sanktionen gegen israelische Beamte, jede Verschiebung einer Abstimmung über die Aussetzung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel zeugt nicht nur von Unentschlossenheit, sondern ist Teil eines unausgesprochenen Spiels interner Interessenskämpfe und diplomatischer Beschwichtigungspolitik mit Blick auf Washington.
Auf dem Spiel stehen nicht nur das Leben der Palästinenser und die Zukunft des palästinensischen Volkes, sondern auch die Glaubwürdigkeit der EU. Nach Putins Angriff auf die Ukraine hat Brüssel gezeigt, dass man in der Lage ist, entschlossen zu handeln, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist. Die Reaktion auf Russland hat gezeigt, dass Europa Sanktionen verhängen kann – Sanktionen, die vielen europäischen Staaten hohe ökonomische Kosten aufgebürdet haben, und dies unmittelbar im Anschluss an zwei Jahre Rezession aufgrund der Covid-Krise. Darüber hinaus hat Europa gezeigt, dass es sich gegen eine Atommacht behaupten kann, wenn es sich dazu entschließt. Aber Gaza hat das andere Gesicht der EU offenbart – zaghaft, zersplittert und unterwürfig.
Letztendlich wird sich an der EU-Politik gegenüber Gaza nichts Wesentliches ändern, solange Europa nicht bereit ist, sich gegen Trumps absurde und überholte Doktrin der US-Dominanz zu stellen. Das bedeutet für die EU, ihre Autonomie zu behaupten und sich nicht von amerikanischen Politikzyklen die europäische Außen- und Menschenrechtspolitik diktieren zu lassen.
Die EU kann ihr wirtschaftliches Gewicht als größter Handelsblock der Welt nutzen, um den Zugang Israels zum Binnenmarkt an Bedingungen zu knüpfen
Wir wissen doch: Die Instrumente dafür sind vorhanden. Die EU kann das »Blocking Statute« wiederbeleben und verschärfen, um ihre Institutionen, Unternehmen und Bürger vor extraterritorialen Sanktionen der USA zu schützen. Sie kann ihr wirtschaftliches Gewicht als größter Handelsblock der Welt nutzen, um den Zugang Israels zum Binnenmarkt an Bedingungen zu knüpfen. Sie kann sich mit den Golfstaaten abstimmen, um sicherzustellen, dass die Normalisierung der Beziehungen zu Israel an die Beendigung der militärischen Besatzung und der eklatanten Menschenrechtsverletzungen sowie die Anerkennung des unveräußerlichen Rechts der Palästinenser auf Selbstbestimmung geknüpft wird. Und ja, sie kann Trump signalisieren, dass seine Drohungen mit einem Handelskrieg auf Gegenmaßnahmen stoßen würden – insbesondere, wenn sie die europäische Rechtshoheit untergraben.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs müssen erkennen, dass Unterwürfigkeit, auch wenn Trump sich daran zu ergötzen scheint, letztendlich nur Verachtung nicht nur in den USA, sondern auch im Globalen Süden einbringt. Weit weniger mächtige internationale Akteure wie Südafrika, Brasilien, Kolumbien und die Türkei haben demonstriert, dass sie sich nicht vom US-Präsidenten herumkommandieren lassen. Und wenn die EU weiterhin vor ihren eigenen Interessen und Werten zurückschreckt, wird sie weder in Washington respektiert werden noch das Vertrauen ihrer eigenen Bürger ausgesprochen bekommen. Präsident Jacques Chirac und Kanzler Gerhard Schröder haben US-Präsident George W. Bush 2003 unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht an der von den Vereinten Nationen nicht-sanktionierten und vollkommen fehlgeleiteten Irak-Invasion beteiligen werden. Dies hat beiden Politikern damals hohe und parteiübergreifende Anerkennung innerhalb ihrer Länder beschert.
Wenn die EU als Verteidigerin des Völkerrechts glaubwürdig sein will, muss sie aufhören, sich Trump in Bezug auf Gaza zu beugen. Insbesondere für Deutschland und Italien bedeutet dies, die Kommission zu ermächtigen, auch angesichts interner Widerstände mutige, koordinierte Schritte zu unternehmen – wie im Fall der Sanktionspakete gegen Russland, wo die permanenten Störenfriede Ungarn und Slowakei im Rat immer wieder überstimmt wurden und werden. Und es bedeutet anzuerkennen, dass echte Souveränität nicht dadurch entsteht, dass man Risiken vermeidet, sondern dass man sie unter Einhaltung von festen Prinzipien akzeptiert. Bis dahin wird Gaza nicht nur eine humanitäre Tragödie unbeschreiblichen Ausmaßes bleiben, sondern auch ein Symbol für das moralische und strategische Versagen Europas.
Dr. Sven Kühn von Burgsdorff ist Diplomat und seit 1992 im Feld der EU-Außenbeziehungen tätig. Er war Offizieller Repräsentant der Europäischen Union an verschiedenen Standorten, darunter Jerusalem. Zudem war er leitender Berater für Mediation im Auswärtigen Dienst der Europäischen Union.