Eine Zweistaatenlösung bleibt ein langer Weg, betont der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, der Ende des Monats aus dem Amt scheidet. Ein Gespräch über die Rolle der EU im Nahostkonflikt, Rückschläge und die Zusammenarbeit mit arabischen Staaten – und darüber, was nun besonders drängt.
zenith: Warum verhielten sich die Europäer vor dem 7. Oktober so zurückhaltend in Bezug auf die Zweistaatenlösung?
Josep Borrell: Was mich betrifft, so waren mein Team und ich keineswegs passiv. Wir waren sogar die einzigen, die aktiv über die Notwendigkeit einer Zweistaatenlösung sprachen, obwohl viele in der EU glaubten, dass es sinnlos sei, sich mit der palästinensischen Frage zu befassen, weil die Abraham-Abkommen die Normalisierung mehrerer wichtiger arabischer Länder mit Israel bewirkt hatten. Viele waren nicht bereit, sich aktiv zu engagieren. Nichtsdestotrotz habe ich eine Initiative gestartet, um die Zweistaatenlösung auf der internationalen Agenda zu halten. Mit Unterstützung des EU-Sonderbeauftragten für den Nahost-Friedensprozess, Sven Koopmans, habe ich schließlich gemeinsam mit der Arabischen Liga, Saudi-Arabien, Ägypten und Jordanien am Rande der UN-Generalversammlung im September 2023 in New York den »Peace Day Effort« ins Leben gerufen. Damals sagten einige unserer Partner, dass der Nahe Osten so ruhig wie nie sei, aber mir war bewusst, dass dies gefährliche Illusion ist. In einem am 5. Oktober veröffentlichten Meinungsartikel mit dem Titel »Dreißig Jahre nach Oslo – Wir dürfen den Frieden im Nahen Osten nicht aufgeben« warnte ich davor, den Konflikt zu vernachlässigen. Wir konnten natürlich nicht ahnen, dass sich diese Warnung so schnell und auf so schreckliche Weise bewahrheiten würde. Als sich der Terroranschlag vom 7. Oktober ereignete, war sich die EU einig, ihn auf das Schärfste zu verurteilen; aber wir waren nicht einig genug, um in der Zeit danach eine entscheidende Rolle zu spielen.
Wie können die Europäer nun eine konstruktive Rolle übernehmen?
Mit Blick auf die Zukunft können die Europäer eine sehr wichtige Rolle bei der Friedensstiftung im Nahen Osten spielen – vorausgesetzt, sie sind sich einig. Da unsere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auf Konsens beruht und der Nahostkonflikt eines der am stärksten spaltenden Themen unserer Zeit ist, war es, wie Sie sich vorstellen können, nicht immer möglich, einen Konsens zwischen allen 27 Staaten zu finden. Die Position der einzelnen Mitgliedern ist sowohl von der internen Parteipolitik als auch von den eigenen historischen Erfahrungen geprägt, die sehr unterschiedlich sind. Während Irland beispielsweise seine eigene Geschichte im Schicksal der Palästinenser widergespiegelt sieht, betrachtet Deutschland es als Teil seiner Staatsraison, der Sicherheit Israels Vorrang zu geben. Nichtsdestotrotz hat die EU seit der Venedig-Erklärung von 1980 einen gemeinsamen Standpunkt zur Zweistaatenlösung. Später haben wir sogar detailliertere Parameter dafür entwickelt, wie diese Lösung aussehen sollte – auf der Grundlage der festen Verpflichtung zum Völkerrecht, die in unseren Verträgen verankert ist. Während der letzten UN-Vollversammlung im September in New York habe ich zusammen mit Norwegen und Saudi-Arabien an der Gründung der Globalen Allianz für die Umsetzung der Zweistaatenlösung teilgenommen, der sich bisher fast 90 Länder und internationale Organisationen angeschlossen haben.
»Eine gemeinsame Faktenbasis ist die Grundlage für eine konstruktive Debatte«
Welche europäischen Länder haben Sie unterstützt, und von welchen wurden Sie enttäuscht? Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich hoffe, dass mich alle EU-Mitgliedstaaten dabei unterstützen, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im Nahen Osten aufzubauen. Als Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik ist es meine Aufgabe, die Konsenspolitik aller 27 Mitgliedstaaten umzusetzen und sie durch meine Vorschläge weiterzuentwickeln. Im Zuge meines Mandats habe ich zahlreiche Vorschläge zum Nahen Osten vorgelegt: von gemeinsamen Erklärungen über militärische Operationen wie ASPIDES zum Schutz von Schiffen im Roten Meer oder die Reaktivierung von EUBAM Rafah am Grenzübergang zwischen Ägypten und Gaza – die leider immer noch aussteht – bis hin zu »restriktiven Maßnahmen«, also Sanktionen, zum Beispiel gegen das iranische Raketenprogramm, gegen die Hamas und den Palästinensischen Islamischen Dschihad, gegen gewalttätige israelische Siedler. Die meisten dieser Vorschläge wurden von allen Mitgliedstaaten unterstützt, einige nicht. Eine gemeinsame Außenpolitik zu einem der meisten polarisierenden Fragen unserer Zeit war ohne Zweifel eine der größten Herausforderungen meiner Mandatszeit.
Welches Anliegen verfolgte die EuroMed-Konferenz der Zivilgesellschaft, die Ende Oktober unter dem Titel »Die Wiedergewinnung unserer gemeinsamen Menschlichkeit« in Barcelona stattfand?
Ziel dieser Konferenz war es, wie der Titel schon sagt, unsere gemeinsame Menschlichkeit »zurückzugewinnen«, denn wenn man sich den weit verbreiteten Mangel an Empathie für das Leid des anderen ansieht, scheinen wir den Sinn dafür verloren zu haben. Wenn man sich die extreme Polarisierung, insbesondere in den sozialen Medien, ansieht, findet man überall die Entmenschlichung des »Anderen« – ganz zu schweigen von dem Grauen, der sich seit dem 7. Oktober 2023 vor Ort ereignen, in Südisrael, dann in Gaza und jetzt auch im Libanon. Wie ich schon oft gesagt habe, kann ein Horror nicht einen weiteren rechtfertigen. Bei der Veranstaltung ging es jedoch nicht um den Konflikt selbst, sondern vielmehr um die Auswirkungen, die er auf unsere Gesellschaften im gesamten Euro-Mediterranen Raum hat. Die Teilnehmer kamen aus allen Ländern des Mittelmeers und Europas, auch aus Israel und Palästina. Dabei ging es zuallererst darum, die Menschlichkeit der anderen anzuerkennen, mit all ihrem Leid und ihren Ängsten, aber auch ihren Hoffnungen und Sehnsüchten – und darüber zu diskutieren, wie das Problem der zunehmenden Polarisierung, Entmenschlichung und Radikalisierung, das wir beobachten, angegangen werden kann. Angesichts der grauenhaften Berichte und Bilder aus dem nördlichen Gazastreifen und der gesamten Situation vor Ort war dies nicht immer einfach.
Inwiefern kann die Zivilgesellschaft dazu beitragen, drängende politische Fragen aufzugreifen?
Dazu möchte ich drei wesentliche Erkenntnisse der Konferenz hervorheben. Erstens: Die Tatsache, dass wir nicht mehr dieselbe Realität sehen, ist ein Problem, das sich in dieser Krise dramatisch verschärft hat. Vieles davon hat mit den Algorithmen zu tun, die das filtern, was wir sehen, um uns mehr von dem zu zeigen, was wir ohnehin schon glauben, zum Teil durch bewusste Auslassungen und zum Teil durch regelrechte Desinformation. Ich sehe die Medienkonzerne und die Regulierungsbehörden in der Verantwortung, dieses Problem anzugehen, ohne unsere Freiheiten zu beschneiden. Eine gemeinsame Faktenbasis ist die Grundlage für eine konstruktive Debatte. Zweitens, wie ich auch in meiner Abschlussrede gesagt habe, müssen wir uns alle fragen: Wo sind wir falsch abgebogen? Wie konnte unser gemeinsamer Sinn für Menschlichkeit verloren gehen, dass wir uns ansehen müssen, wie so viele unschuldige Menschen getötet werden, und wie andere Menschen das sogar feiern? Wir haben es am 7. Oktober in den Straßen von Gaza gesehen und wir sehen es seit vielen Monaten auf der israelischen Seite der Grenze: Menschen, die zusehen, wie andere Menschen getötet werden, und sich darüber freuen; Menschen, die humanitäre Hilfe für eine hungernde Bevölkerung blockieren und zerstören. All dies hat etwas zutiefst Beunruhigendes. Drittens: wenn wir uns mit konfliktbedingter Polarisierung und Hassrede befassen, müssen wir beide Seiten betrachten, unabhängig davon, ob es sich um Feindseligkeit gegenüber Juden, Israelis, Muslimen, Arabern oder Palästinensern handelt. Das bedeutet nicht, dass wir so tun, als ob die Probleme alle identisch wären. Im Gegenteil, wir werden viele Unterschiede feststellen. Es geht darum, das Gesamtbild zu betrachten. Und es geht auch darum, die bereits bestehende Polarisierung nicht noch zu verstärken, indem man einen einseitigen Blickpunkt anstatt einer 360-Grad-Perspektive einnimmt.
»Es handelt sich um die längste Nachrichtensperre, die je von einer Demokratie verhängt wurde«
Der israelische Außen- und nun Verteidigungsminister Israel Katz hat Ihnen Antisemitismus vorgeworfen. Was sagen Sie dazu?
Ich möchte nicht sagen: »Wer ist nicht von Israel Katz des Antisemitismus beschuldigt worden?«, denn dies ist ein sehr ernstes Thema. Der Antisemitismus hat zur Schoa geführt, den Massenmord an 6 Millionen europäischen Juden durch die Nazis. Deshalb dürfen wir den Vorwurf des Antisemitismus niemals auf die leichte Schulter nehmen. Wenn der Generalsekretär der Vereinten Nationen, die Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), die Richter des Internationalen Gerichtshofs (IGH), die Staats- und Regierungschefs vieler Länder, einschließlich einiger EU-Mitgliedstaaten, des Antisemitismus bezichtigt werden, sollte dies für uns alle ein Grund sein, alarmiert zu sein. Wenn sie tatsächlich alle Antisemiten wären, wäre dies untragbar. Wenn sie es nicht sind, bedeutet es, dass jemand eine sehr schwerwiegende Anschuldigung missbraucht und herabwürdigt. »Der Wolf ist da!« zu rufen, wo keiner ist, das ist alles andere als ein Kavaliersdelikt, insbesondere in einer Situation, in der wir weltweit einen echten Anstieg von Feindseligkeit gegenüber Juden, wie auch gegen Muslime und Araber, zu beklagen haben.
Es trifft Sie also nicht persönlich?
Was mich betrifft, ist der Vorwurf jenseits von grotesk. Als ich 1969 während der Franco-Zeit als Freiwilliger in den Kibbuz Gal On ging, fühlte sich das fast wie ein Akt der Rebellion an. Erst viel später, unter dem ersten sozialistischen Premierminister Felipe Gónzalez im Jahr 1986, hat Spanien überhaupt diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen. Am Tag vor dem Terroranschlag vom 7. Oktober habe ich in Kiew die Synagoge an der Gedenkstätte Babyn Jar besucht, wo 35.000 Juden während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis brutal abgeschlachtet worden waren. Als ich wieder zu Hause ankam, hatte gerade ein neues Grauen begonnen. Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass sich das politische Leben in Israel – und die Politik Israels – seit meiner Zeit im Kibbuz erheblich verändert haben. Darauf hinzuweisen und die Politik einer Regierung zu kritisieren, bedeutet keineswegs, gegen die Menschen in diesem Land zu sein. Das macht mich nicht antiisraelisch und schon gar nicht antisemitisch. Solche falschen Anschuldigungen sagen mehr über die Ankläger aus als über diejenigen, gegen die sie sich richten. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung, uns einer solchen Trivialisierung entgegenzustellen. Willkürlich falsche Anschuldigungen zu verbreiten, führt dazu, dass sich echte Antisemiten wieder in guter Gesellschaft fühlen. Das dürfen wir nicht zulassen.
Angesichts der aktuellen Situation in Gaza, in der kaum Journalisten vor Ort sind, stellt sich die Frage, wie wir die Informationslage verbessern können. Da externe Journalisten nur in Begleitung der israelischen Armee Zugang erhalten, ist eine unabhängige Berichterstattung kaum möglich.
Es handelt sich um die längste Nachrichtensperre, die je von einer Demokratie verhängt wurde. Gemeinsam mit der Kommission habe ich anlässlich des Internationalen Gedenktages zur Beendigung der Straflosigkeit von Verbrechen gegen Journalisten am 2. November eine Erklärung veröffentlicht, die sich ebenfalls mit dieser Frage befasst. Wenn mehr Journalisten getötet werden als in jedem anderen bewaffneten Konflikt, jüngsten Berichten zufolge 188 lokale Journalisten – nicht zu vergessen Hunderte von UN-Mitarbeitern und humanitären Helfern – ist dies alarmierend. Wenn die Regierung Netanyahu versucht, jede Form der unabhängigen Überprüfung von Fakten zu verhindern, indem sie internationale Journalisten über ein Jahr lang ausschließt und sich weigert, mit den Anklägern des Internationalen Strafgerichtshofs und den von den Vereinten Nationen beauftragten Ermittlern zusammenzuarbeiten, und sich damit über rechtsverbindliche Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs hinwegsetzt, sollte uns das alle sehr misstrauisch machen, was dort gerade passiert.
»Die Taten der Regierung Netanyahu sprechen für sich«
Welche Schritte gedenken Sie zu unternehmen?
Die Verhinderung einer unabhängigen Überprüfung ist kein Kavaliersdelikt. In den Anordnungen des IGH für vorläufige Maßnahmen wird die Verpflichtung erwähnt, die Ermittlungen nicht zu behindern und Beweise zu sichern. Im Strafrecht kann ein begründeter Verdacht auf Verschleierung von Beweisen ein ausreichender Grund für eine vorläufige Festnahme sein. Die Situation hat sich verschärft, als die IDF kürzlich den nördlichen Gazastreifen vom Mobilfunknetz abschnitten. Einige Tage lang gab es aus diesem Gebiet nur die Bilder und Aufnahmen, die vom israelischen Militär oder von einzelnen Soldaten in sozialen Medien veröffentlicht wurden. Es ist kurzsichtig zu glauben, dass der Ausschluss von Journalisten und Ermittlern verhindern kann, dass die Wahrheit ans Licht kommt.
Wie können die EU und die arabischen Staaten gemeinsam an einer Lösung für Gaza arbeiten?
Wie bereits erwähnt, setzen wir uns seit langem gemeinsam mit unseren arabischen Partnern für den Frieden in der Region ein und haben unsere Zusammenarbeit intensiviert. Ich habe schon oft gesagt, dass wir seit mehr als 30 Jahren über die Zweistaatenlösung reden und dass wir uns jetzt ernsthaft an die Umsetzung machen müssen. Da die Regierung Netanyahu und eine Mehrheit in der Knesset die Zweistaatenlösung inzwischen ganz offen ablehnen, müssen sie auch sagen, wie ihre Alternative aussehen soll. Sie sagen es nicht offen, aber sie setzen es in die Tat um. Und ihre Taten sprechen für sich. Wenn wir es mit dem langjährigen Bekenntnis der EU zum Frieden im Nahen Osten und zur Zweistaatenlösung ernst meinen, müssen wir weiter darauf hinarbeiten. Die Arbeitsgruppen der Globalen Allianz sind vergangene Woche in Riad zu ihrer ersten Sitzung zusammengekommen. Es wird die Aufgabe der neuen EU-Führung sein, diesen Weg beizubehalten.
Wie sieht dieser Weg für Gaza aus?
Der Gazastreifen ist Teil der Palästinensischen Gebiete und muss selbstverständlich in diese Bemühungen einbezogen werden. Die EU ist bereit, sich am Wiederaufbau zu beteiligen und eine palästinensisch geführte Verwaltung unter derselben Palästinensischen Behörde zu unterstützen, die nicht die Hamas sein wird. Sie wird internationale Unterstützung benötigen, die die EU bereits leistet und bereit ist, sie zu verstärken. Und sie wird einige ernsthafte Reformen durchführen müssen, um den Palästinensern sowohl im Westjordanland wie auch im Gazastreifen effizienter Dienstleistungen erbringen zu können. Nicht zuletzt – besser gesagt: zuallererst – braucht Gaza einen Waffenstillstand. Der Krieg muss beendet werden. Millionen von Zivilisten in Gaza können nicht länger warten, ebenso wenig wie die mehr als 100 israelischen Geiseln. Sie müssen freigelassen werden; die hungernde Bevölkerung muss ausreichend Hilfe erhalten. Das unerträgliche menschliche Leid muss endlich ein Ende haben. Dann müssen wir uns ernsthaft um eine politische Lösung bemühen. Ohne diese wird der Teufelskreis der Gewalt niemals enden, und niemand, der Israelis oder Palästinenser wirklich unterstützt und sich für sie interessiert, kann dies wollen.
Josep Borrell, (77), ist spanischer Politiker und seit 2019 Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Sein Mandat endet am 30. November 2024.