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Interview mit Orientexperte Gilles Kepel

»Linke und Islamisten? Ich fand das paradox und spannend«

Interview
Interview mit Orientexperte Gilles Kepel
Im Interview erinnert sich Frankreichs prominentester Orientexperte, wie Marxisten zu Islamisten wurden – und warum er seine eigenen Thesen zum Dschihadismus immer wieder hinterfragt. Foto: Gallimard

Seine akademische Karriere ist eng mit den historischen Wendepunkten im Nahen Osten verbunden: Seit über 40 Jahren verfolgt Gilles Kepel die Entwicklung des politischen Islam. 

zenith: 1979 gewinnen viele Entwicklungen im Nahen Osten eine neue Dynamik. Es ist der Zeitpunkt, an dem Sie Ihre Karriere als Islam-Experte beginnen. Gibt es da einen Zusammenhang? 

Gilles Kepel: Ich habe 1974 aus mehreren Gründen angefangen, Arabisch zu lernen. Einer davon war, dass ich dachte, dass in der Region irgendetwas passieren würde. Wie fast alle Studenten damals war ich ein Linker, ein Atheist und Marxist. Gleichzeitig nutzte die islamische Bewegung an den ägyptischen Universitäten die Religion als Mittel der Mobilisation. Das fand ich äußerst paradox und spannend.

 

Gab es unter den Linken Sympathie für die Islamisten, weil sich beide gegen den Autoritarismus richteten?

Nein, am Anfang wurden die Islamisten als Faschisten wahrgenommen, insbesondere in Ägypten, weil sie von Sadat instrumentalisiert wurden, um die Nasseristen zu zerschlagen. Als ich meine Dissertation schrieb, haben meine ehemaligen Genossen mit mir gebrochen. Sie hielten mich für einen Verräter, weil ich mich mit einer Bewegung beschäftigt habe, die aus ihrer Sicht keine Ziele hatte. Ich wollte wissen, was das bedeutet. Ich war dann auch in Ägypten, als Sadat ermordet wurde, eine spannende Zeit. Mein Buch »Der Prophet und der Pharao« war meines Wissens das erste, das sich intensiv mit dem politischen Islam befasst hat. Inzwischen gibt es viele, aber damals war das noch ziemlich seltsam.

 

Obwohl gleichzeitig die Revolution in Iran bereits begonnen hatte, war der politische Islam noch nicht das große Thema?

Ja, damals konnten wir die Dinge natürlich noch nicht im Rückblick betrachten. 1977 bin ich nach Damaskus gezogen, um Arabisch zu lernen, danach folgten drei Jahre in Ägypten. Erst in den 1980er Jahren kam ich nach Iran. Mir fiel damals schon die Rivalität zwischen Sunniten und Schiiten ins Auge – ein Kampf um die Hegemonie auf dem Feld des politischen Islams. Auf der einen Seite waren die Saudis und die Sunniten, auf der anderen Seite Khomeini und die Iraner.

 

Sie haben die Muslimbrüder und andere islamistische Bewegungen untersucht. Haben die nicht anfangs die Islamische Revolution begrüßt?

Schon 1979 war die salafistische Ausprägung der Saudis dominant – die war sehr stark gegen die Schiiten gerichtet. Von allen Sunniten hassen die Salafisten die Schiiten am meisten. Im Rückblick lässt sich aber schon sagen, dass die Muslimbruderschaft einen großen Einfluss auf den politischen Islam der Schiiten hatte. Im Irak haben mir die Mitglieder der schiitischen Dawa-Partei gesagt, dass sie viel von den Muslimbrüdern gelernt haben. Und umgekehrt wurde das Buch des irakischen Schiiten Mohammad Bakr Al-Sadr über die islamische Wirtschaft zum ökonomischen Manifest der Muslimbrüder.

 

»Die Muslimbruderschaft hatte einen großen Einfluss auf den politischen Islam der Schiiten«

 

Hängt die Wahrnehmung auch von der politischen Ausrichtung der Experten im Westen ab? Die meisten Nahost-Forscher waren und sind ja eher links?

Ja, ich habe ja schon gesagt, dass mich meine früheren Genossen für einen Faschisten hielten, weil ich mich mit den islamistischen Bewegungen befasst habe. Aber dann erschien 1994 das Buch »Der Prophet und das Proletariat « von Chris Harman. Er sagte, »Allahu Akbar « sei in der Dritten Welt das heutige Äquivalent zu »Proletarier aller Länder vereinigt euch«. Das markiert den Beginn der Überschneidungen zwischen Linken und Islamisten. In der Revolution in Iran war das natürlich auch schon angelegt. Die Kommunisten hatten an der Revolution mitgewirkt, bevor es zu den Säuberungen durch die Khomeini-Anhänger kam. Und der Soziologe Ali Shariati, der in Paris studiert hatte, hatte linke und islamistische Ideen verknüpft, als er etwa Frantz Fanons »Die Verdammten dieser Erde« ins Farsi übersetzte. Marxisten begannen, sich mit religiösen Dingen zu befassen. 1979 war aber in jedem Fall eine Wasserscheide. Khomeini ist aus Paris zurückgekehrt, im März wurde der Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten unterzeichnet. Dann gab es die Geiselnahme in der US-Botschaft in Teheran und an Weihnachten den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan.

 

Und in Pakistan wurde Ex-Premier Zulfikar Ali Bhutto hingerichtet. Alles nur Zufall?

Es ist nicht so, dass eine »unsichtbare Hand« das inszeniert hätte, aber die Ereignisse sind schon verknüpft, weil sie alle Teil einer größeren Entwicklung waren.

 

Wann haben Sie zum ersten Mal festgestellt, dass diese einzelnen Ereignisse ein Gesamtbild abgeben?

Darüber habe ich geschrieben. (Deutscher Titel: »Schwarzbuch des Dschihad«, Anm. d. Red.) Das Jahr 2000 markierte das Ende der ersten Generation der Dschihadisten. In Afghanistan waren sie erfolgreich, aber danach sind sie in Algerien, in Ägypten, in Bosnien und Tschetschenien gescheitert. Bin Laden hatte seine Erklärung gegen Juden und die Amerikaner im Jahr 1989 veröffentlicht, aber damals war es noch nicht möglich, dies als Beginn einer neuen Ära und der zweiten Phase des Dschihadismus zu verstehen. Sie haben den Fokus auf den »fernen Feind« gelegt, weil sie die Lehren aus dem Scheitern der ersten Phase gezogen hatten.

 

Das heißt, für den Dschihadismus war eher 1989 der zentrale Wendepunkt?

Viele Dinge werden im Rückblick deutlicher. Mir war schnell klar, dass mit dem Dschihad in Afghanistan zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen wurden. Die Dschihadisten waren die sogenannten Freiheitskämpfer, ausgebildet und ausgerüstet durch die CIA, bezahlt von den Ölmonarchien. Natürlich war es das oberste Ziel, die Sowjets zu besiegen, aber es ging den Saudis und den sunnitischen Salafisten auch schon damals darum, den Kampf um die Deutungshoheit über den politischen Islam zu gewinnen – gegen die Anhänger von Khomeini. Meinen Studenten sage ich immer, das wichtige Datum ist der 15. Februar 1989. An dem Tag sind die sowjetischen Truppen aus Afghanistan abgezogen. Wenig später ist die Berliner Mauer gefallen, das war eine indirekte Folge.

 

»Die Kommunisten hatten an der Revolution mitgewirkt, bevor es zu den Säuberungen durch die Khomeini-Anhänger kam«

 

War der sowjetische Abzug aus Ihrer Sicht der größte Erfolg, den Dschihadisten jemals feiern konnten?

Damals vielleicht, aber niemand hat das so wahrgenommen. Einen Tag vorher, am 14. Februar, hatte Khomeini seine Fatwa gegen Salman Rushdie ausgesprochen. Alle, auch ich, haben uns obsessiv mit dieser Fatwa beschäftigt, ein islamisches Todesurteil, das auch für einen britischen Staatsbürger in Großbritannien und auf der ganzen Welt gelten sollte. Was ich damals noch nicht verstanden habe, war, dass auch dies zum Ende der ersten Phase und zum Beginn der zweiten Phase des Dschihadismus beigetragen hat. Bin Laden hatte es analysiert – das Ziel war fortan der »ferne Feind«. Die Dschihadisten haben gesehen, dass der Westen nicht unbesiegbar ist. Auch wenn ihnen natürlich klar war, dass sie Amerika nicht durch Anschläge an einem Tag zerstören würden.

 

1979 hatten sich militante Islamisten um Juhayman Al-Otaibi mit der Besetzung der Großen Moschee direkt gegen die saudische Königsfamilie gerichtet. Glauben Sie, dass die saudische Führung der 40 Jahre währenden Paranoia ein Ende setzen kann, die durch die Botschaftsbesetzung ausgelöst wurde?

Das kann niemand sagen, weil die Herausforderungen enorm sind. Das Ziel ist eine Form der Modernisierung ohne Demokratisierung. Aber wenn sie es anders als bisher ernst meinen, den Anführern der Dschihadisten das Handwerk zu legen, dann kann es gelingen. Ironischerweise könnte er derjenige sein, der wirklich eine Arabische Revolution umsetzt, weil er sie von oben durchsetzt. Mit Blick ins Jahr 1973 zeigt sich, dass das wahre Problem war, dass sich die Ölindustrie und der Salafismus gleichzeitig entwickelt haben. Der Salafismus hätte ohne die Unterstützung des saudischen Systems und der königlichen Familie nicht überlebt.

 

Die Bedeutung des Öls geht zurück – gilt das auch für den politischen Islam?

Das Öl wird weniger wichtig, das ist richtig. Der Ölpreis ist wegen der saudisch-russischen Annäherung zwar wieder gestiegen. Aber mittelfristig sinkt die Bedeutung des Öls. Grundsätzlich lassen sich durchaus Aussichten für einen Wandel ausmachen. Aber wo wir da genau stehen, weiß ich nicht. Vieles hängt davon ab, wie der Konflikt in Syrien endet.


Gilles Kepel (63) ist Senior Fellow am »Institut Universitaire de France« und lehrt an der »École normale supérieure« in Paris. Während seiner akademischen Laufbahn standen der politische Islam sowie der Islam in Frankreich im Mittelpunkt seiner Forschung. Er verfasste ein Dutzend Bücher, von denen viele ins Englische und Deutsche übersetzt wurden. Im Oktober erschien im französischen Verlag Gallimard sein neustes Buch »Sortir du chaos: Les crises en Méditerranée et au Moyen-Orient« (528 Seiten, 22 Euro).

Von: 
Daniel Gerlach

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