Im November 2020 beendete der Waffenstillstand zwischen Aserbaidschan und Armenien den zweiten Bergkarabach-Krieg. Konfliktforscher Laurence Broers erklärt im Gespräch, wie weit der Weg zu einem nachhaltigen Frieden noch ist.
zenith: Inwieweit hat das Waffenstillstandsabkommen der Südkaukasus-Region Frieden gebracht?
Laurence Broers: Es geht über ein normales Waffenstillstandsabkommen hinaus, ist aber kein Friedensvertrag. Es hat die aktiven Kriegshandlungen beendet und zeichnet – in sehr vagen Worten – die Grundlage einer neuen Vision für den Südkaukasus, die auf offenen Grenzen, Transportwegen und Konnektivität aufbaut. Nur fehlt dieser Vision die Friedensinfrastruktur.
Wie meinen Sie das?
Die Minsk-Gruppe der OSZE, also das internationale Gremium zur Konfliktlösung im Südkaukasus, bestehend aus den beiden Konfliktparteien, Frankreich, Russland und den Vereinigten Staaten, sowie einiger weiterer Staaten, wurde an den Rand gedrängt. Multilaterale Diplomatie spielt im Konflikt überhaupt nur noch eine marginale Rolle. Statt internationaler Akteure, die an einer Lösung arbeiten, machen nun die Regionalmächte die Angelegenheiten unter sich aus.
Was hat das für Folgen?
Die Verhandlungsstränge laufen parallel, aber getrennt. Da wären die trilateralen Verhandlungen zwischen Russland, Armenien und Aserbaidschan, die auf dem Abkommen vom 10. November 2020 aufbauen und es in unterschiedlichen Arbeitsgruppen weiter vorantreiben. Da geht es um wirtschaftliche Chancen, Grenzöffnungen, aber nicht um die heiklen politischen Themen, etwa den ungeklärten Status von Bergkarabach – die liegen weiter in der Zuständigkeit der Minsk-Gruppe. Das legt nahe, dass die grundlegenden Fragen einfach immer weiter nach hinten geschoben werden und dafür bei den kurzfristig leichter zu lösenden Fragen der Konnektivität oder kleineren Grenzfragen einiger Fortschritt zu erwarten ist.
Will Russland die Minsk-Gruppe überhaupt noch aufrecht halten?
Das denke ich schon, zumindest symbolisch. Russland sieht sich aber unter den Mitgliedstaaten als primus inter pares. Russische Co-Chairs waren im Durschnitt immer viel länger im Amt als ihre amerikanischen und französischen Gegenüber. Und die ganze Aura multilateraler Kooperation gibt Russland ein anderes Image: Man wirkt weniger wie eine post-imperiale Großmacht, die in ihrem Hinterhof die Muskeln spielen lässt.
»Das könnte der Minsk-Gruppe zu einem Comeback verhelfen«
Ist die Minsk-Gruppe also nur noch eine Fassade?
Sie ist schon noch mehr als das. Gerade unter Präsident Dmitri Medwedew (2008-2012) hat Russland einiges an politischem Kapital und persönlichem Einsatz investiert. Und jetzt ist Moskau in einer Situation, in der man durch die Entsendung von Friedenstruppen diesen Einsatz intensiviert und in der Außenwahrnehmung politisch an Gewicht gewonnen hat. Allerdings kommt es mit Aserbaidschan immer wieder zu Reibereien. Es geht da um das genaue Mandat der Friedenstruppen und um den russischen Umgang mit der Bevölkerung vor Ort. Weil Russland mehr Lasten schultert, könnte mit der Zeit also ein Diskurs über die Aufteilung der Verantwortung erwachsen.
Welche Konsequenzen hat das?
Es könnte der Minsk-Gruppe zu einem Comeback verhelfen. Denn Russland ist mit dem Maß an Verantwortung nicht glücklich. Das wiederum öffnet Möglichkeiten für die internationale Gemeinschaft, wieder eine größere Rolle zu spielen. Im Moment bestimmen ja autoritäre Regime den politischen Prozess und halten etwa die OSZE – und damit die EU – effektiv außen vor. Kurzum: Ein Ende des Bergkarabach-Konflikts ist nicht in Sicht. Stattdessen werden die autoritären Herrscher in der Region gestärkt und vieles läuft über die persönlichen Beziehungen zwischen Erdoğan, Putin und Aliyev.
Erdoğan hat durch das Eingreifen auf Seiten Aserbaidschans die türkische Rolle als Regionalmacht im Kaukasus ausbauen können – welches Kalkül steckt eigentlich dahinter?
Der Türkei ist sehr an strategischer Autonomie in einer post-westlichen Weltordnung gelegen. Dabei fällt der politischen Hassfreundschaft mit Russland eine zentrale Rolle zu. Und nach den Erfahrungen auf anderen Konfliktschauplätzen bot der Bergkarabach-Krieg dazu eine weitere Möglichkeit. Man konnte der Weltöffentlichkeit die Effizienz des türkischen Militärs und seiner technologischen Errungenschaften vor Augen führen. Und der türkischen Bevölkerung konnte man eine weitere außenpolitische Erfolgsstory präsentieren, auch wenn es Russland gelungen ist, Ankara aus den formalen Verhandlungen weitgehend rauszuhalten. Durch mögliche Grenzöffnungen und neue Transitrouten gewinnt die Türkei zudem an strategischer Tiefe.
Zu Lasten Russlands?
Moskaus strategisches Ziel wird es langfristig sein, den türkischen Einfluss wieder zurückzudrängen. Ja, Russland hat einiges gewonnen. Man hat nun Bodentruppen in Bergkarabach, dazu neue Einflussmöglichkeiten als Vetomacht auf die armenische und aserbaidschanische Außenpolitik, was wiederum auch innenpolitische Konsequenzen nach sich zieht. Aber ich würde argumentieren, dass der Einfluss des Kremls zugleich stärker auf die Sicherheitspolitik begrenzt ist. Russland ist der Wächter der Nachkriegsordnung. Ob man auch von einer wirtschaftlichen Öffnung profitieren kann, ist dagegen offen. Ich glaube nicht, dass die Russische Föderation unbedingt an strategischer Tiefe gewonnen hat. Vielmehr befindet man sich in einer Position, die man in Moskau nur allzu gut kennt: Man verwaltet einen Zustand der kontrollierten Instabilität, mit ungewissen strategischen Folgen.
»Dann verkommt das schnell zur bloßen PR-Kampagne«
Und Aserbaidschan?
Der Politologe Johannes Gerschewski unterscheidet drei Säulen autoritärer Herrschaft: Legitimität, Zwang und Kooptation. In den letzten zwanzig Jahren hat sich Aserbaidschan immer mehr in Richtung dieses postmodernen Autoritarismus entwickelt, der viel Wert auf Kooptation legt – nicht zuletzt dank der wirtschaftlichen Ressourcen.
Baku macht auch vor europäischen Institutionen keinen Halt, wie die Fälle der sogenannten Kaviar-Diplomatie und der Bestechung europäischer Mandatsträger nahelegen.
Die Regierung hat alle Mittel und Wege genutzt, um ihre eigenen Ideen zu verbreiten. Auch in verschiedenen Institutionen in Europa. Gegenüber einigen Menschrechtsaktivisten und der Opposition übte die Regierung dagegen Zwang aus. Zuletzt mehr in Form eines Herausdrängen aus den Institutionen und Netzwerken des Staates denn in Form klassischer Unterdrückung. Legitimität wurde dagegen zunehmend zum Problem. Der zweite Bergkarabach-Krieg 2020 lässt sich so als Rekalibrierung dieser drei Säulen verstehen, vor dem Hintergrund, dass sich die Rohstoffvorkommen – die Ölreserven schneller als das Gas – langsam dem Ende neigen. Die umfangreichen Patronage-Netzwerke lassen sich nicht mehr ewig aufrechterhalten. Langfristig wird Kooptation zu teuer.
Dem Regime fehlt es also an Legitimität?
Seit der Unabhängigkeit hat kein Thema ein vergleichbar einendes Potential für die aserbaidschanische Gesellschaft wie Bergkarabach. Zumal das Thema traditionell eher von der Opposition besetzt wird. Seit dem vergangenen Jahr ändert sich das. Präsident Ilham Aliyev inszeniert sich in den sozialen Medien und bei seinen öffentlichen Auftritten als Sieger. Die Wiederherstellung der territorialen Integrität und die mögliche Heimkehr hunderttausender Vertriebener in die zurückeroberten Gebiete treffen den Nerv weiter Teile der Gesellschafft.
In welchem Kontext stehen die Wiederaufbaukonferenzen, die die aserbaidschanische Regierung gerade in den wieder unter ihrer Kontrolle stehenden (Geister)städten Aghdam und Schuscha organisiert?
Da muss man differenzieren. Tausende Menschen haben nun mittelfristig die Chance, in ihre angestammten Heimatorte zurückzukehren, wenn sie das wollen. Dabei ist es wichtig, wie das organisiert wird. In der öffentlichen Rhetorik ist viel von grünen Dörfern und smarten Städten die Rede. Das ist erst einmal positiv. Aber wenn die betroffenen Gemeinden gar nicht einbezogen werden, dann verkommt das schnell zur bloßen PR-Kampagne.
»Welche Art von Rechten wäre Aserbaidschan bereit, den Armeniern in Bergkarabach einzuräumen?«
Ist die aserbaidschanische Regierung bereit für eine tatsächlich internationale Geberkonferenz zur Unterstützung beim Wiederaufbau?
Für mich ist das offen. Klar ist, dass die Kontrolle ökonomischer Ressourcen beim Wiederaufbau eine wichtige Säule für autoritäre Regime ist. Lassen sich ohne einen partizipatorischen Prozess also wirklich langfristig überlebensfähige Gemeinschaften wiederaufbauen? Das ist das Dilemma einer autokratischen Konfliktlösung. Da muss man ansetzen. Denn sonst resultiert der Wiederaufbau wieder nur in einer hochgesicherten Grenze und einer Wirtschaft, die den Armeniern misstraut. Das kann langfristig niemand wollen.
Aber welche konkreten Angebote macht die aserbaidschanische Regierung in dieser Phase den Armeniern in Bergkarabach?
Es fehlt eine Antwort auf die Frage, welche Art von Rechten Aserbaidschan bereit wäre, den Armeniern in Bergkarabach einzuräumen. Seit den 1990ern gibt es noch nicht einmal eine Gesprächsgrundlage, ein White Paper oder etwas Vergleichbares, das man wenigstens diskutieren könnte. Dafür gibt es Gründe. Einmal geht es in der aserbaidschanischen Konflikterzählung immer nur um den armenischen Irredentismus, der aus der armenischen Diaspora angetrieben würde. Die Armenier in Bergkarabach selbst sind der blinde Fleck dieser Erzählung. Ein anderer Grund ist der hegemoniale, autoritäre Regimetypus, der sich in Aserbaidschan entwickelt hat und keinen Präzedenzfall dafür kennt, Macht tatsächlich abzugeben. Dazu kommt, dass sich das Land für seinen bürgerlichen Nationalismus rühmt, der Minderheiten einschließt, und sich doch vor allem durch die turkstämmige Mehrheit definiert …
... und über die Rivalität zu den Armeniern.
Richtig. Meine Sorge ist, dass diese Art des Nationalismus immer ein ethnisches Gegenüber braucht, um sich zu legitimieren. Das lässt keinen Platz für eine Differenzierung zwischen Bergkarabach-Armeniern und anderen armenischen Gemeinschaften und wird weiterhin für Konflikte sorgen. Die Ironie dabei ist: Je mehr die Beziehung zu den Armeniern in Bergkarabach als Sicherheitsfrage gesehen wird, desto mehr wird die Präsenz russischer Friedenstruppen gerechtfertigt.
Welche Folgen hat der aus Jerewans Sicht verheerende Ausgang des zweiten Karabach-Krieges für Armenien gezeitigt?
In der Vergangenheit konkurrierten unterschiedliche Visionen von Armenien miteinander. Einmal die eines demokratischen Armeniens, das vollends in die Institutionen der internationalen Gemeinschaft eingebettet ist. Die armenische Nationalbewegung um den Präsident Levon Ter-Petrosjan (1991-1998) vertrat diese Vision. Sie war zu Kompromissen bereit, um den Bergkarabach-Konflikt zu lösen. Und sie wollte sich vom ewigen Freund-Feind-Denken befreien, um dafür nationale Souveränität abseits eines geopolitischen Patrons wie Russland zu erlangen.
»Szenario einer imperfekten und halb konsolidierten Demokratie mit heftigen internen Grabenkämpfen«
Und die zweite Vision?
Die basiert auf einem um Bergkarabach und die umliegenden Gebiete vergrößerten Armenien und verfing nach dem ersten siegreichen Bergkarabach-Krieg (1992-1994). Eine eher stillschweigend implizierte Vision zwar, offizielle Regierungslinie war sie nie, aber eine, die sich nichtsdestotrotz auf Karten und in der öffentlichen Wahrnehmung durchsetzte. Im zweiten Bergkarabach-Krieg 2020 erlitten beide Visionen Armeniens eine Niederlage.
Was hat das für Auswirkungen?
Armenien investiert fast reflexartig wieder mehr in Aufrüstung und Militärtechnologie – so weit, bis das Land einem Garnisonsstaat ähnelt. Die Alternative wäre, auf dem eingeschlagenen Demokratisierungskurs zu bleiben und die Lehren des Krieges dabei miteinzukalkulieren. Ich glaube, dass sich keiner dieser beiden Trends vollkommen durchsetzen wird.
Und stattdessen?
Ein schwacher Pluralismus, der einer Demokratie ähnelt – und zugleich die Gefahr erhöht, dass sich wieder ein hybrides Regime oder gar ein kompetitiver Autoritarismus etablieren kann. Ich sehe aber keine Basis in der armenischen Gesellschaft für einen stabilen hegemonialen Autoritarismus. Zum einen fehlen Armenien die Ressourcen dafür, zum anderen ist die Gesellschaft viel zu vielfältig. Die politische Kultur ist vielleicht nicht demokratisch, aber sie ist pluralistisch. Aber ich befürchte, dass mehr Zwangsmaßnahmen folgen könnten. Dafür gibt es in der jüngeren armenischen Geschichte einige Beispiele. Nikol Paschinjans Vorgänger Robert Kotscharjan war ein kompetitiver autoritärer Herrscher, der immer wieder massiven Zwang anwendete, um politische Widersacher zu unterdrücken. Für die Zukunft halte ich ein Szenario einer imperfekten und halb konsolidierten Demokratie mit heftigen internen Grabenkämpfen am wahrscheinlichsten.
Kann sich Armenien auf Russlands Unterstützung verlassen?
Man muss Russlands Rolle in Armenien im Kontext der breiteren russischen Strategie im Südkaukasus betrachten. Moskau lehnt das transatlantische Modell ab. Es setzt seine eigenen Regionalorganisationen dagegen. Armenien ist Mitglied in der Eurasischen Union und damit ein Partner. Moskau unterstützt Jerewan innerhalb dieses Rahmens, aber das heißt noch lange nicht, dass man auch bereit ist, für Armenien in den Krieg zu ziehen.
»Diesen Preis ist Putin bereit zu bezahlen«
Armenien ist ein Partner, der einen demokratischen Transformationsprozess durchläuft. Was heißt das für Russland?
Vielleicht ist das ein Preis, den Russland bereit ist zu zahlen. Und Putin kann nach dem Kriegsausgang auch darauf verweisen, dass Straßenrevolutionen nicht unbedingt zu etwas Gutem führen. Was im Geiste ja dem russischen Blick auf den Euromaidan in der Ukraine oder die Rosenrevolution in Georgien entspricht. Aber anders als dort ist Russland in Armenien nun in der Lage, die Auswirkungen der Revolution in Schach zu halten. Und Russland ist natürlich an Klientelstaaten interessiert, auf die man sich verlassen kann. Vor dem Krieg herrschte in Moskau eine gewisse Frustration darüber, dass sich die armenische Regierung eben nicht immer als verlässlicher Partner erwiesen hatte. Nun scheint die Gefahr, die aus der Demokratisierung entspringen könnte, aus Sicht Moskau erst einmal gebannt.
Wie wirkt sich die neu entstehende multipolare Weltordnung auf Regionalkonflikte wie den um Bergkarabach aus?
Sie sorgt für Bruchlinien, auch innerhalb der EU. Deswegen gewinnt die Diskussion um strategische Autonomie an Bedeutung. Die beschränkten Möglichkeiten des illiberalen Friedens in Bergkarabach könnten die EU aber wieder ins Spiel bringen. Letztlich hängt das aber an den Konfliktpartien und daran, was sie wollen. Ich kann mir echte regionale Konnektivität nicht vorstellen, ohne dass der Kreis der Investoren ausgeweitet wird.
Wie stehen die Chancen für einen nachhaltigen und tragfähigen Frieden in Bergkarabach?
Der Friedensdiskurs wird von autoritären Herrschern inner- und außerhalb der Region dominiert und eignet sich Floskeln des Peace Building lediglich an. Die offene Frage lautet doch: Wie werden die Menschen wieder Vertrauen zueinander aufbauen? Diese ganze Diskussion um Transportkorridore ist noch sehr von sicherheitspolitischem Denken geprägt, nach dem Motto: Das ist Feindesgebiet und wir müssen unsere Transitrouten sichern. Es geht um Dominanz, aber so baut man keine regionale Kooperation auf.
Welchen Paradigmenwechsel haben Sie im Sinn?
Zukünftige Friedensinitiativen sollten sich auf Stimmen von vor Ort konzentrieren, aus Gemeinschaften, die tatsächlich mit den Realitäten des Konflikts leben müssen. Von diesen Menschen hören wir nichts. Das war schon immer ein Problem. Ein Problem der Monopolisierung des Konfliktdiskurses von oben. Wir müssen den Diskurs aufbrechen und diversifizieren. Aber das überschreitet den Rahmen herkömmlicher Friedensprozesse.
Laurence Broers ist Programmdirektor für den Südkaukasus bei der Londoner Konfliktberatung Reconciliation Ressources sowie Senior Associate an der SOAS, Universität London. Außerdem ist er Senior Fellow der Denkfabrik Chatham House. Zum Bergkarabach-Konflikt erschien von ihm 2019 »Armenia and Azerbaijan: Anatomy of a Rivalry«.