Lesezeit: 12 Minuten
Israel, Palästina, Nahostkonflikt, Antisemitismus

»Viele versuchen nicht einmal, seriös zu berichten«

Interview
Tom Khaled Würdemann.
Foto: Privat.

Nahostforscher Tom Khaled Würdemann über »linken Antisemitismus«, den Umgang mit der Protestbewegung gegen den Gazakrieg und was in der deutschen Debatte zum Nahostkonflikt schief läuft

Herr Würdemann, schon kurz nach 7. Oktober glaubten offenbar einige Studierende, dass es sich bei dem Massaker »nicht um eine Aggression« handelte. Das Zitat stammt von einer Palästina-Demonstration an der Freien Universität Berlin. Wie kommt es dazu?

Das ist relativ simpel: Die zugrundeliegende Idee ist, dass es sich beim Zionismus um eine koloniale Aggression handele – ein einseitiges Auslöschungsprojekt gegen die Palästinenser, das automatische Gegenwehr zur Folge hat. Der 7. Oktober wird in dieser Erzählung zur naturgemäßen Reaktion auf 100 Jahre Völkermord und Unterdrückung. Man beruft sich also auf eine Art Notwehrrecht.

 

Wie wird innerhalb pro-palästinensischer Demos mit Antisemitismus umgegangen und wie positionieren sich verschiedene Akteure?

Eine schwierige Frage: Die aktivsten Kreise befinden sich in der linken, antiimperialen Szene, oder im islamistischen Milieu. Beide Gruppierungen differenzieren wenig: Ihnen zufolge handelt es sich bei den Palästinensern um das Opfer, bei Israel um den Täter. Jeder Widerstand sei daher gerechtfertigt. Manche wollen deshalb eher ewigen Krieg als sofortigen Frieden. Aber, wer genau zu diesen Demonstrationen hingeht, das ist sehr breit gestreut. Die meisten Leute, die ich kenne, wollen echten Frieden. Und: was bei diesen Demonstrationen geschieht, gefordert und skandiert wird, ist für Außenstehende oft schwer einzuschätzen. Viele Medien fokussieren fast fanatisch auf negative Aspekte.

 

Es gibt in Deutschland zu wenig vernünftigen pro-palästinensischen Aktivismus.

 

Gibt es keine moderaten pro-palästinensischen Demonstrationen?

Es gibt in Deutschland zu wenig vernünftigen pro-palästinensischen Aktivismus. Selten geht es um das Ende des Krieges und einen Kompromiss – die lautesten Stimmen fordern meist den Sieg der Palästinenser. Ich habe das selbst oft auf Demonstrationen gesehen.

 

Haben Sie ein Beispiel?

Einst sagte mir jemand von einem der Protest-Camps an einer deutschen Uni: Die Juden, die im Holocaust vernichtet wurden sind, seien ja weiß gewesen. Nur deshalb gelte die Schoah als das schlimmste Verbrechen der Geschichte. Ein Organisator aus der pro-palästinensischen Bewegung erträumte sich Jerusalem als Zentrum des künftigen Kalifats. Erst nach Kritik begann er plötzlich, von Menschenrechten und Kriegszerstörungen zu reden. Oder umgekehrt: Erst geht es bei einer Demonstration um Menschenrechte palästinensischer Zivilisten, später skandierte die Menge »Resistance is justified«: Plötzlich ging es nur noch um den Widerstand.  Da fragte ich einige Teilnehmer, warum nicht auch von israelischen Menschenrechten gesprochen wurde? Ob das angesichts des 7. Oktober nicht erwähnt werden sollte? Alle stimmten mir zu – hatten aber keine Erklärung: Die Demonstration war irgendwie einseitig, aber niemand wusste warum genau.

 

Es geht also eher nicht um einen Waffenstillstand?

Das Problem liegt nicht nur bei den Demonstrierenden. Es gab letztes Jahr Protestzüge, deren klare Mehrheit einen Waffenstillstand einforderte. Oft finden diese Protestzüge keine mediale Aufmerksamkeit; oder sie werden dann von kleinen, aber gut organisierten, extremistischen Kräften doch noch gekapert. Die Causa Palästina ist eine Art Anziehungspunkt für sämtliche radikale Kräfte, und es gibt wenig Versuche, sich nach innen abzugrenzen und zu differenzieren. Hinzukommt die ständige Diffamierung und Dämonisierung der Bewegung. Da kann man so eine Wagenburgmentalität schon mal nachvollziehen – wenngleich sie fatal ist.

 

Wie erklären Sie sich, dass der Antisemitismus in manchen linken Kreisen zwar sicher ein politisches Feindbild war, aber oft nicht wirklich verstanden wurde?

Die Linke ist nicht inhärent antisemitisch, aber man kann sehr wohl von einer historisch bedingten mangelnden Aufmerksamkeit und Anfälligkeit für Antisemitismus in der globalen Linken sprechen. Antisemitisches Denken funktioniert auf der abstrakten Ebene ähnlich wie eine oberflächliche, linke Analyse: Man erklärt, wer die finstere Macht »da oben« ist. Die Linke als solche hatte sich diese Verschwörungstheorie zwar nie zu eigen gemacht. Und doch sind mit dem Sechstagekrieg 1967 Hemmungen, antijüdische Stereotype zu gebrauchen, mehr und mehr weggefallen.

 

Warum?

Nach Israels militärischem Sieg 1967 und der Besatzung Gazas und des Westjordanlandes waren Juden und Jüdinnen für Linke nicht länger auf der Seite der Unterdrückten, sondern wurden zu Unterdrückern. Auch Israel als Staat war zur Zeit des Kalten Krieges Teil des »westlich-imperialen« Lagers. Schließlich gibt es im 20. Jahrhundert eine komplexe Rezeptionsgeschichte und Enwicklung von Antisemitismus: Die globale Linke erlebte unter dem Einfluss von Stalinismus und Maoismus eine Abwendung vom Klassenbegriff – gerade durch die antikoloniale Befreiungsbewegung wurden stattdessen Völker zum Träger des Fortschritts. Arabische Intellektuelle haben diese Theorie auf den Staat Israel angewandt. So fand die Idee weltweiten Anklang, dass die Juden durch ihren »Siedler-Kolonialismus« in Palästina eine regressive Rolle in der Weltgeschichte einnehmen. Diese Vorstellung wurde auch im Westen rezipiert, und bildete  die ideologische Grundlage dafür, dass linke Kritik an Israel so oft über das Ziel hinausgeschossen ist. Das hat die Abwehrkräfte der Linken gegen Antisemitismus noch einmal entscheidend geschwächt. Die Kernidee des Antisemitismus war plötzlich konvergent mit der linken Analyse jüdischer Staatlichkeit. Gruppierungen wie die Rote Armee Fraktion (RAF) sahen Terror gegen Israel dann als zeitgemäßen Antifaschismus.

 

Wie zeigt sich das heute?

Wir werden zurzeit Zeuge von einer bisher so noch nie dagewesenen Querfront der Linken mit Teilen der extremen Rechten zum Thema Israel. Der Kerngedanke aus Sicht dieser Linken dabei ist, dass der Skandal um die Unterstützung Israels bei der Zerstörung von Gaza so schwerwiegend erscheint, dass selbst Nazis einem ideologisch näher erscheinen als solche, die auf zivile Opfer in Gaza mit Schulterzucken reagieren. So erklärt sich, dass Organisationen wie »Palästina Spricht« des Öfteren auch amerikanische Neonazis retweeten.

 

Das marxistische Blatt »Der Funke« ruft in einer neusten Ausgabe zur »Intifada bis zum Sieg« auf. In einer Stellungnahme fordert die Redaktion unter anderem den Sturz des zionistischen Staates, feiert die Intifada als erste demokratische Bewegung und spricht von dem Osloer Abkommen von 1993 als eine Demütigung. Es fehlen ein paar Koranverweise – sonst könnte die Rhetorik auch von Hamas-Sprecher Abu Ubaida stammen.

Ja und Nein: Die Ansicht, dass jeglicher Kompromiss gegenüber Israel Zustimmung zu Unrecht wäre, ist relativ verbreitet unter Palästinensern, ob man dabei für oder gegen die Hamas ist. Das kann man historisch auch gut nachvollziehen, wenngleich man es nicht teilen muss. Auch den Begriff »Intifada« würde ich gerne historisch differenzieren. So hat beispielsweise der jüdische Philosoph Michael Walzer die erste Intifada als »gerechten Aufstand« eingestuft, da sie maßgeblich mit zur Aufnahme des Friedensprozesses um die Zweistaatenlösung führte. Anders als die mit Terror auf Zerstörung Israels zielende zweite Intifada, bei der Dschihadisten die Führungsrolle hatten. Bei »der Funke« identifiziert man sich wohl eher mit letzterer – und Abu Ubaida. 

 

Ist das Antisemitismus?

Theoretisch nicht unbedingt, aber praktisch ja. Auch beim Slogan »from the river to the sea« stellt sich diese Frage. Ich nehme den meisten Linken ab, dass sie Juden und Jüdinnen nicht vernichten wollen. Aber die Implikationen dieses Spruchs in der politischen Realität werden selten ausgesprochen oder debattiert.

 

Welche Rolle spielt der Antisemitismus überhaupt im Nahostkonflikt?

Der Antisemitismus ist nicht der Auslöser für den Nahostkonflikt. Dazu ist gerade in Deutschland viel Unsinn geschrieben worden – übrigens fast immer von Leuten, die auf Arabisch nicht einmal »Guten Morgen« sagen können. In Israel und Palästina geht es um einen territorialen Konflikt, bei dem zwei Nationalbewegungen einander gegenüberstehen. Aber: Antisemitismus diente für die arabisch-palästinensische Seite oft als eine Deutungsschablone. Eine Linse, mit der auf den Konflikt geschaut wird.

 

Haben Sie ein Beispiel?

In den 1920er Jahren schrieb Boulos Abboud, ein politischer Aktivist, in einer veröffentlichten Rede, »die Zionisten wollen ganz Palästina beherrschen«. Der Satz stimmte, doch Abboud meint weiter: »So sind sie eben, die Juden«. Schon früh bildete sich die Vorstellung, dass der Konflikt um Palästina mit der jüdischen Nationalbewegung auf den niederträchtigen Nationalcharakter der Juden zurückzuführen sei. Und siehe da: Wer glaubt, man könne mit jemandem keinen Kompromiss eingehen, weil es sich um einen Betrüger handelt, geht keine Kompromisse ein.

 

Erfüllen Medien und Politik die selben Maßstäbe an Differenzierung, die von pro-palästinensischen Demonstrierenden eingefordert wird? 

In vielen Fällen sicherlich nicht. Wir erleben in Deutschland seit dem 7. Oktober einen unglaublichen Ausbruch an öffentlich akzeptiertem Rassismus. Israel wird zum Symbol des bedrohten Westens und die israelische Kriegsführung zur Metapher für die Härte, die wir angeblich gegen Migranten, Muslime brauchen. Palästina repräsentiert dann den niedrigen, wertlosen Feind des Westens. Das ist meiner Ansicht nicht nur falsch, sondern auch eine bedrohliche Entwicklung. Gerade im Israel-Palästina-Konflikt geht Haltung leider über Analyse und der Verstand wird gerne, so scheint mir, bewusst ausgeschaltet.

 

Es geht um Emotionen?

Ja, um das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Aber auch das möchte ich sagen: Seit dem 7. Oktober habe ich Dutzende Vorträge gehalten – mehrfach auch vor einem dezidiert muslimischen Publikum. Dabei habe ich immer wieder auch die positive Erfahrung gemacht: Viele Menschen erleben den Nahostkonflikt in erster Linie als unglaubliches Leid, das eine Friedenslösung erfordert.

 

Der Mangel an Expertise zum Thema ist seit dem 7. Oktober klarer denn je.

 

Wie findet die deutsche Gesellschaft zu einem konstruktiven Diskurs und einem gegenseitigen Zuhören?

Ich sehe die deutschen Medien in der Pflicht: Viele Medienhäuser versuchen nicht einmal, über das Thema Israel-Palästina seriös zu berichten. Das Thema wird von deutschen Medienhäusern oft zu einer innenpolitischen Debatte, in der Analyse und Geschichtskenntnisse nichts wert sind. Wir brauchen Sachlichkeit. Gerade in Deutschland sind übrigens auch wissenschaftliche Kreise stark polarisiert. Zudem hat es in Deutschland nie ein großes Feld der Israel-Palästina-Studien gegeben. Ich hoffe das ändert sich: Der Mangel an Expertise zum Thema ist seit dem 7. Oktober klarer denn je. Das dürfte inzwischen auch in der Forschungspolitik angekommen sein. 

 

Wann haben Sie sich zuletzt richtig geärgert über deutsche Medien und den Nahostkonflikt?

Ein Beispiel ist die von Unterstützern eines Waffenstillstandes verwendete »rote Hand«, die angeblich ein heimliches Symbol des Blutbades von Juden und Jüdinnen sei. Eine bizarre Verschwörungstheorie! Die Ähnlichkeit der blutroten Hand zu einem historischen Foto aus der ersten Intifada ist nachweislich zufällig – eine Symbolik hatte sich daraus nie gebildet. Vielmehr handelt es sich um ein altes Symbol der amerikanischen Antikriegsbewegung. Sie wird inzwischen auch von Familien der Hamas-Geiseln in Israel verwendet. Ein weiterer Tiefpunkt der Debatte war, als Gesundheitsminister Karl Lauterbach sowie andere ein Video des rechten britischen Publizisten Douglas Murray teilten, in dem dieser kundtut, die Hamas sei noch schlimmer als die Nazis. Dies mit der Begründung, dass die SS immerhin ein schlechtes Gewissen gehabt habe. Ein Argument, das man so auch von Heinrich Himmler kannte, der in den »Posener Reden« behauptete, die SS sei durch emotionale Distanz beim Morden »anständig« geblieben. 

Oder andersrum, oft ausserhalb von Deutschland: Erst kürzlich, nach der Tötung von Ismail Haniyyeh in Teheran, bezeichneten manche westliche Medien den Leiter des Hamas-Büros in Katar als »moderat«. Auch das ist völlig hirnrissig und zeigt wie verzerrt berichtet wird.

 


Tom Khaled Würdemann ist Historiker und Nahostwissenschaftler und forscht an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Er befasst sich vor allem mit der palästinensischen Nationalbewegung und arbeitet u.a. zu Antisemitismus, Extremismus und Rassismus in Deutschland.

Von: 
Pascal Bernhard

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