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Israel und die Türkei in Syrien

Syriens neue alte Fronten

Analyse
Israel und die Türkei in Syrien
IDF-Präsenz am Berg Hermon Verteidungsministerium Israel

Während Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes mit den Herausforderungen der Übergangsphase ringt, halten die Kämpfe in den kurdischen Gebieten im Norden an. Zudem rückt auch Israel am Boden vor und besetzt weiteres Areal.

Seit der Machtübernahme durch HTS-Anführer Ahmed Al-Shar’aa ist der Konflikt zwischen den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) und der sogenannten Syrischen Nationalen Armee (SNA) weiter eskaliert: In den vergangenen Wochen wurden über 280 Menschen getötet, ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung in den Kämpfen um den Tischrin-Staudamm im Gouvernement Aleppo. Die strategisch wichtige Staustufe steht seit Mitte 2016 unter der Verwaltung der SDF und gilt sowohl als elementare Verbindungsroute innerhalb der Region als auch als zentrale Wasser- und Energieressource für die Bevölkerung vor Ort.

 

Der Machtkampf zwischen der SDF und der SNA entfaltet sich zwar im Rahmen des länger anhaltenden türkisch-kurdischen Konfliktes, eskalierte jedoch mit Beginn der Offensive gegen das Assad-Regime. Als Hayat Tahrir Al-Sham (HTS) am 27. November unter dem Namen »Rada’a Al-Adwan« (arabisch für »Abschreckung der Aggression«) ihre Militäroperation startete, hatte auch die SNA die Gelegenheit genutzt, um weiter in jene Gebiete vorzurücken, die von der SDF kontrolliert werden.

 

Bei der SNA handelt es sich um ein Bündnis unterschiedlicher Milizen, die unter der Schirmherrschaft der Türkei agieren, darunter »Ahrar Al-Sharqiya« (»Freie des Ostens«) und »Faylaq Al-Sham« (»Legion Syriens«). Sie fungiert derzeit als Stellvertreterstreitkraft der Türkei. Die SDF wiederum setzt sich aus verschiedenen Milizen zusammen, angeführt vom kurdischen PKK-Ableger der »Volksverteidigungseinheiten« (YPG) als stärkste Fraktion innerhalb des Bündnisses.

 

Besonders in der Stadt Tell Rif’aat hat sich über die vergangenen Jahre eine hohe Zahl Geflüchteter aus Afrin angesammelt

 

Unter dem Slogan »Fajr Al-Hurriya« (arabisch für »Morgendämmerung der Freiheit«) starteten Kämpfer der SNA am 30. November eine groß angelegte Militäroffensive gegen die SDF. Sie konzentrierte sich hauptsächlich auf Städte im nördlichen Gouvernement Aleppo und verfolgte das Ziel, sämtliche Verbindungsrouten der SDF zu kappen sowie einen Korridor zu errichten, der die Stadt Al-Bab mit Tell Rif’aat verbinden soll – ganz im Interesse der Türkei, deren Truppen noch immer mehrere Gebiete im Norden des Landes besetzt halten und der die kurdische Selbstverwaltung seit langem ein Dorn im Auge ist.

 

Besonders in der Stadt Tell Rif’aat, die inzwischen unter der Kontrolle der SNA steht, hat sich über die vergangenen Jahre eine hohe Zahl Geflüchteter aus Afrin angesammelt, die infolge des türkischen Einmarsches 2018 und gravierender Menschenrechtsverletzungen geflohen sind – nun droht ihnen erneut die Vertreibung. Mit dem weiteren Vorrücken der SNA flohen auch immer mehr Menschen aus den umkämpften Gebieten, meist in Richtung Tabqa und Raqqa. Die SDF hatte zudem bereits am 2. Dezember erste Pläne bekannt gegeben, die kurdischen Vertriebenen nach Scheich Maqsud und Al-Ashrafiya jene Gebiete zu evakuieren. Doch auch in den beiden Exklaven der kurdischen Selbstverwaltung in Aleppo bleibt die Angst, dass sich ähnliche Vertreibungen wie in Afrin 2018 wiederholen könnten.

 

Ein Zustrom von weiteren Geflüchteten in die beiden Viertel würde die ohnehin schwierigen Lebensbedingungen noch weiter verschlechtern, denn Scheich Maqsud und Al-Ashrafiya hatten seit 2020 immer wieder unter einer von der 4. Division von Maher Al-Assad auferlegten Blockade gestanden. Über einen längeren Zeitraum hinweg wurde so die Einfuhr von lebenswichtigen Gütern unterbunden, um jene Gebiete unter die Kontrolle des Regimes zu bringen.

 

Bislang hatten die USA versucht, die Rolle des Vermittlers einzunehmen und im Dezember eine temporäre Feuerpause in Manbidsch verhandelt

 

Zwar hatte die HTS der kurdischen Bevölkerung zu Beginn ihrer Machtübernahme versichert, sie in den politischen Entscheidungsfindungsprozess mit einzubeziehen, vermied jedoch Aussagen darüber, ob man auch bereit wäre, Kompetenzen mit der derzeit bestehenden »Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien« (AANES) zu teilen. Ferner wurde in einer am 25. Dezember abgehaltenen Sitzung mit zahlreichen oppositionellen Gruppierungen beschlossen, dass alle Milizen aufgelöst und in eine staatliche Armee integriert werden sollen – die SDF hatte weder an dem Treffen in Damaskus teilgenommen, noch ihre Bereitschaft zur Auflösung bekundet.

 

Bislang hatten die USA versucht, die Rolle des Vermittlers in dem eskalierenden Konflikt einzunehmen und bereits letzten Dezember eine temporäre Feuerpause in Manbidsch verhandelt, woraufhin sich die SDF aus dem Gebiet zurückzog. Sollte die SDF aus weiteren Gebieten zurückgedrängt werden und diese unter die Kontrolle der SNA gebracht werden, könnten größere Vertreibungs- und Fluchtwellen der kurdischen Bevölkerung folgen.

 

Eine Auflösung sämtlicher Milizen würde zudem die Frage nach der Bewachung der im Verwaltungsbereich der AANES gelegenen Gefängnisse aufwerfen: Seit der militärischen Zerschlagung des »Islamischen Staats« (IS) im Jahre 2019 beherbergen diese Gefängnisse, allen voran das berüchtigte Straflager Al-Hol in Hassaka, mehr als 50.000 Gefangene, darunter IS-Kämpfer sowie deren Familien. Bereits im Januar 2022 hatte ein Ausbruchsversuch von IS-Kämpfern aus dem von der SDF bewachten Gefängnis Al-Ghweiran in Hassaka zu blutigen Auseinandersetzungen und einer hohen Anzahl an Todesopfern geführt.

 

Im Januar dieses Jahres schlug die Türkei vor, die Gefängnisverwaltung künftig der HTS-Regierung zu überlassen – was bei den Amerikanern weiterhin auf Ablehnung stoßen wird. Für die Kurden wird es somit nun darauf ankommen, ob die neue US-Administration weiterhin das militärische Anti-Terror-Bündnis aufrechterhalten wird oder ob sie sich dafür entscheiden wird, die noch stationierten US-Truppen aus dem Land abzuziehen.

 

Am 15. Dezember billigte das Kabinett einen Plan, die israelische Bevölkerung innerhalb der Golanhöhen zu verdoppeln

 

Auch in anderen Teilen des Landes bahnen sich weitere Konflikte an: So ergriff Israel infolge des Regimesturzes die Gelegenheit, eigene Ziele voranzutreiben. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte hat Israel seit Dezember mehr als 800 Luftangriffe auf verschiedene Ziele geflogen – darunter den Militärflughafen in Maseh bei Aleppo. Zudem rückte das israelische Militär am Boden vor. In der 1974 von der UN eingerichteten Pufferzone zwischen den 1967 eroberten Gebieten und dem verbliebenen Teil des Golans übernahm die IDF die Kontrolle. Das israelische Militär hatte davor mitgeteilt, dass man »angesichts der Entwicklung in Syrien und auf der Grundlage (...) der Möglichkeit, dass bewaffnete Gruppen in die Pufferzone eindringen könnten«, Truppen dort positionieren würde.

 

Tatsächlich weitete Israel die Pufferzone viel weiter aus als zuvor festgelegt und rückte bis nach Beqaasem und damit 25 Kilometer vor die Stadtgrenzen von Damaskus vor – und verstieß so gegen das Truppentrennungsabkommens von 1974, an das sich die Regierung Netanyahu nicht mehr gebunden sieht. Im Zuge des Vorstoßes nahmen israelische Truppen den Berg Hermon ein, der für Israel sowohl strategische wie ideologisch-religiöse Bedeutung hat. Am 15. Dezember billigte das Kabinett einen Plan, die israelische Bevölkerung innerhalb der Golanhöhen zu verdoppeln.

 

Seit dem 2. Januar steht auch der Staudamm Al-Mantara unter israelischer Kontrolle – und damit mehr als 30 Prozent der syrischen Wasserversorgung. Innerhalb der Bevölkerung wächst die Sorge vor weiteren Interventionen, da Israel bisher keine Anstalten gemacht hat, sich zurückzuziehen. Ein Faktor sorgte hierbei besonders für Verwunderung: HTS-Anführer Al-Shar’a hatte zwar im Dezember bekannt gegeben, dass Israel »keine Ausreden mehr habe, Angriffe in Syrien durchzuführen«, sich danach aber kaum mehr zum weiteren militärischen Vorrücken der IDF geäußert. Zuvor hatte Israel Angriffe stets mit der Präsenz der von Iran unterstützten Milizen begründet, allen voran der Hizbullah.

 

Dennoch macht es den Anschein, als stünde der Konflikt im Süden derzeit nicht ganz oben auf der Liste der Prioritäten der neuen Machthaber in Syrien – aus gutem Grund: Das Land durchlebt momentan eine historische Übergangsphase und hat mit der desaströsen wirtschaftlichen Situation zu kämpfen. Neben der Aufhebung der Sanktionen steht die neue Regierung vor allem vor der Mammutaufgabe, sämtliche bewaffnete Gruppen zu integrieren, um zumindest ein gewisses Maß an Sicherheit zu etablieren. 

Von: 
Riannah da Silva und Lara Farag

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