Im Urteil des israelischen Obersten Gerichtshofs geht es um das große Ganze: Wer darf im Staat Israel als Jude gelten? Die Fronten sind verhärtet.
Was ist geschehen?
Das jüngste Urteil des Obersten Gerichtshofs in Israel ist von epochaler Bedeutung: Danach muss der israelische Staat auch nichtorthodoxe Konversionen zum Judentum im Land offiziell anerkennen. De facto bedeutet das, dass Menschen, die innerhalb Israels in liberalen oder konservativen Gemeinden zum Judentum übertreten, seit Anfang März ein Recht auf die israelische Staatsbürgerschaft haben.
16 Jahre hatte der Gerichtshof zur ursprünglichen Petition von Konvertiten geschwiegen, die schon 2005 und 2006 die israelische Staatsbürgerschaft eingefordert hatten. Man wollte sich nicht in eine potenzielle Gesetzgebung einmischen. Doch die blieb aus, die Politik hielt sich vorsichtshalber zurück – zu groß schien das Konfliktpotenzial. Am Ende hat also das Gericht entschieden.
Worum geht es eigentlich?
Die Bedeutung liegt in der Symbolkraft des Urteils. Der Richterspruch öffnet aus Sicht der Kritiker die Büchse der Pandora, denn es geht um eine fundamentale Frage: Wer ist eigentlich Jude? Und wer entscheidet, wer als Jude gilt? Während liberale Kräfte das Urteil als Sieg der innerjüdischen Pluralität feiern, bangen religiöse Parteien um die Identität des jüdischen Staates – denn seit Staatsgründung haben ultraorthodoxe Institutionen das Sagen im Land, wenn es um die Religion geht.
Die Furcht, dieses Machtmonopol zu verlieren, entlud sich in einer Welle der Entrüstung: »Was Reformierte und Konservative als Konversion bezeichnen, ist nichts anderes als eine Fälschung des Judentums«, wetterte der sephardische Oberrabbiner Yitzhak Yosef. David Lau, Oberrabbiner der aschkenasischen Juden, erklärte, Konvertiten dieser Art seien für ihn »keine Juden«.
Betroffen von dem Urteil sind nach Angaben israelischer Medien allerdings nur einige Dutzend Menschen. Entscheidend ist der Richterspruch für diejenigen, die in Israel konvertierten und deren Antrag auf Staatsbürgerschaft abgelehnt wurde. Konversionen im Ausland sind dagegen
gemäß des »Rückkehrrechts« als Voraussetzung für eine Einbürgerung anerkannt: Danach dürfen Konvertiten aller jüdischen Strömungen nach Israel einwandern sowie Menschen, bei denen eine Großmutter oder ein Großvater jüdisch ist oder war.
Wie geht es nun weiter?
Langfristig könnte der Richterspruch der Anfang vom Ende einer ultraorthodoxen Dominanz im Land sein, die auch zu Themen wie Heirat, Scheidung und Beerdigung Entscheidungskompetenz hat. Kurzfristig machten die orthodoxen Parteien das Urteil zum Teil des Wahlkampfs um den 23. März herum. Sie schürten die Angst, durch Massenkonversionen von »Ungläubigen« könne Israel seinen jüdischen Charakter verlieren.
Ein Wahlplakat der orthodoxen Schas-Partei zeigte etwa afrikanische Geflüchtete mit dem zynischen Aufdruck: »Juden, die vom Obersten Gericht für koscher erklärt wurden«. Darunter stand: »Gefahr! Tausende Eindringlinge und ausländische Arbeiter werden durch die reformierte Konversion zu Juden!« Ob Premierminister Netanyahu angesichts des Patts nach den Wahlen eine Regierung bilden kann, ist unklar.
Mit ihrer Forderung nach einer Rückkehr zur alten Regelung bringen die orthodoxen Parteien ihn aber in eine Zwickmühle, denn zur Sicherung seines Machterhalts braucht er sie als Koalitionspartner.
Dass Netanyahu dem Druck der orthodoxen Parteien nachgebend darauf hinwirken wird, das Urteil anzufechten, gilt als unwahrscheinlich. Das liegt auch am Verhältnis zum amerikanischen Judentum. In den USA, der größten jüdischen Diaspora weltweit, verstehen sich nur rund fünf Prozent aller Juden als orthodox. Der Rest bekennt sich zum Reform- oder konservativen Judentum.
Dort wurde das Urteil euphorisch aufgenommen, denn es bedeutet eine Bestätigung ihres Verständnisses von Judentum. Würde es rückgängig gemacht werden, käme dies laut der israelischen Zeitung Haaretz einer »Trennung vom amerikanischen Judentum« gleich.
Marina Klimchuk ist freie Journalistin und Soziologiestudentin an der Central European University in Wien. Bis zur Corona-Pandemie leitete sie politische Studienreisen in Israel und Palästina.