Marokko hat von der Normalisierung mit Israel profitiert. Ändert der Gaza-Krieg Rabats Kalkül?
Die Ankündigung kam überraschend: Am 20. März erteilte Israel die Genehmigung, 40 Tonnen Lebensmittel nach Gaza duchzulassen, während Hunderte Tonnen weiterer Hilfsgüter in Lastwagen an der ägyptischen Grenze vergeblich auf die israelische Einfuhrgenehmigung warteten. Absender der einzigen Lieferung, die passieren durfte: Marokko. Je sichtbarer Tod und Zerstörung im Gaza-Krieg wurden, desto größer wurde der Druck auf das Königreich und seine politische Führung.
Ende 2020 begründete Marokko seinen Beitritt zu den Abraham-Abkommen damit, sich so effektiver für die Belange der Palästinenser einsetzen zu können. Zudem verwies Rabat auf die reiche Geschichte des Judentums in Nordafrika als Argument für eine kulturelle Affinität und damit bessere Verbindung zu Israel. Schließlich kämen viele Mizrahim aus Marokko.
Eine romantisierende Sicht, die die meisten Marokkaner nicht teilen. Sie vermuten vielmehr, dass zwei andere Gründe für die Normalisierung der Beziehungen ausschlaggebend waren: die wirtschaftlichen Vorteile der Zusammenarbeit mit Israel und die Anerkennung der Souveränität Marokkos über die Westsahara durch die US-Regierung. Kurzum: Die Normalisierungspolitik brachte Marokko handfeste Vorteile.
Zum Beispiel im für Marokko so wichtigen Tourismus: Nach dem Beitritt zu den Abraham-Abkommen sorgten Direktflüge aus Israel für einen regelrechten Ansturm. Bilaterale Kooperationsabkommen in Bereichen wie Landwirtschaft, Wasserwirtschaft und – angesichts der Spannungen mit Algerien besonders wichtig – Rüstung und Sicherheit festigten das neue Verhältnis auf beiden Seiten.
Die Verteidigungskooperation mit Israel hatte erhebliche Auswirkungen auf die militärischen Kräfteverhältnisse
Gleichzeitig hielten sich die Fortschritte bei der Einflussnahme auf den Nahostkonflikt in Grenzen. Im Sommer 2022 lobten Washington und Jerusalem die Beteiligung Marokkos an den Verhandlungen über die dauerhafte Öffnung des israelisch-jordanischen Grenzübergangs an der Allenby-Brücke. Es blieb die einzige Erfolgsmeldung. Dies ist weniger ein Beleg für das Scheitern marokkanischer Außenpolitik als vielmehr Ausdruck der dahinterstehenden Interessen: Marokko geht es bei der Normalisierung mit Israel eindeutig und in erster Linie um eigene nationale Projekte.
So hat die Verteidigungskooperation mit Israel die militärischen Kräfteverhältnisse in der Region erheblich verändert und dem Königreich zum Aufbau einer schlagkräftigen Luftwaffe verholfen. In diesem Bereich konnte Rabat bisher nicht mit Algerien mithalten. Die Anschaffung israelischer Drohnen und Flugabwehrsysteme fiel mit einer erneuten Konfrontation mit der Polisario zusammen, nachdem der Westsahara-Konflikt jahrzehntelang eingefroren war. Zuvor hatte Marokko vergeblich versucht, seine Position durch bilaterales Engagement durchzusetzen. Erst die US-Regierung unter Donald Trump eröffnete diese Option; eine regionalpolitische Entscheidung, die Washington unter Joe Biden beibehielt.
Dabei offenbarte der amerikanische Paradigmenwechsel einen Widerspruch: Auf dem Papier erkennt Washington die Souveränität Marokkos über die Westsahara an, bekennt sich aber gleichzeitig zu einer politischen Lösung im Rahmen der Vereinten Nationen. Doch genau dieser politische Prozess läuft angesichts der neuen geopolitischen Realitäten ins Leere. Zudem haben die veränderte US-Politik und vor allem die neue Allianz Marokkos mit Israel einen weiteren Keil zwischen Marokko und Algerien getrieben. All dies sind Begleiterscheinungen, die Marokko in Kauf nimmt.
Auf Regierungsebene beruht Marokkos Haltung im Nahostkonflikt nicht auf dem populistischen Erbe etwa des Panarabismus. Zwar tritt Rabat seit langem für eine Zweistaatenlösung ein. Marokko gehört aber nicht zu jenen Staaten in Nordafrika, die die PLO nennenswert unterstützten. Diese stand ideologisch ohnehin Algerien näher und sympathisierte mit der Polisario. Schon König Hassan II. (regierte von 1961 bis 1999) bemühte sich um positive, wenn auch verdeckte Beziehungen zu Israel.
Die sichtbaren Fortschritte in der Westsahara-Frage nach jahrzehntelangem Stillstand genießen in der Bevölkerung breite Unterstützung
Als die Regierung Ende 2020 beschloss, die Beziehungen zu Israel offiziell zu normalisieren, wähnte sie sich hinsichtlich der öffentlichen Reaktionen auf der sicheren Seite. Dies umso mehr, als sie ein hinreichend überzeugendes Narrativ der besonderen Beziehungen zur jüdischen Gemeinschaft marokkanischer Herkunft entwickelt hatte, das vor allem die zwischenmenschliche Dimension betonte und so verfing.
Auch die sichtbaren Fortschritte in der Westsahara-Frage nach jahrzehntelangem Stillstand fanden breite Unterstützung in der Bevölkerung. Und doch: Die Kluft zwischen Regierung und Bevölkerung wächst seit dem Gaza-Krieg. Auch wenn die Solidarität mit Palästina nicht mehr so zentral ist wie etwa in den 1960er- und 1970er-Jahren, wächst sie zweifellos auch in Marokko. Nicht zuletzt deshalb, weil die Kritik an Israel nicht antisemitisch motiviert ist, sondern sich an konkreten Missständen entzündet, etwa am Umgang mit der arabischen Bevölkerung, an der Blockade des Gazastreifens, an Menschenrechtsverletzungen und immer häufiger an der entmenschlichenden Rhetorik rechtsextremer israelischer Politiker.
Forderungen aus der Bevölkerung, die Beziehungen zu Israel abzubrechen, konnte die Regierung bisher ignorieren. Dabei kann sich Rabat auch darauf berufen, dass bisher kein arabischer Staat, der diplomatische Beziehungen zu Israel unterhält, diesen Schritt vollzogen hat.
Umso wichtiger sind öffentlichkeitswirksame Aktionen wie die Hilfslieferungen nach Gaza. Möglicherweise wird das Königreich auch versuchen, sich in die regionalen Verhandlungen über eine Nachkriegsordnung einzubringen. Da Marokko im Nahostkonflikt ohnehin stets einen pragmatischen Ansatz verfolgt hat, bei dem die eigenen nationalen Interessen im Vordergrund standen, wird das Königreich seine Beziehungen zu Israel auch in Zukunft nicht grundsätzlich in Frage stellen.
Intissar Fakir ist Senior Fellow und Programmdirektorin für Nordafrika und den Sahel beim US-Thinktank »Middle East Institute«.