Israels Regierung treibt die Eskalation im Westjordanland voran. Dass in Nablus und Jenin neue militante Gruppen an Zulauf gewinnen, ist aber Resultat des politischen Stillstands auf palästinensischer Seite.
Ibrahim Nabulsi ist 18 Jahre als er vom israelischen Militär getötet wird. Mit den Worten »Ich sterbe gleich, aber ihr: Haltet an den Waffen fest! Kämpft für unser Land!« verabschiedet er sich in einer Sprachnachricht an seine Mutter. Ibrahim Nabulsi war Begründer und Anführer der Gruppierung »Lions’ Den – die Höhle der Löwen«.
In diesem Jahr wurden bereits 170 Palästinenser von israelischen Streitkräften getötet (Stand 20. Juni 2023). Im Vergleich dazu stieg die Zahl 2022 bis zum Ende des Jahres auf 231 und lag damit so hoch wie zuletzt 2006. Neben dem Beschuss des Gazastreifens enden vor allem Razzien in Städten des Westjordanlandes durch die Besatzungsmacht mit neuen Totenzahlen. Israels neue Regierung und ihre teils offen rechtsradikalen Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich haben die Schlagzahl dieser Operationen deutlich erhöht.
Im Zuge des Ringens um Unterstützung für seine umstrittene Justizreform gewährte Benyamin Netanyahu seinem Innenminister gar die Bildung einer separaten »Nationalgarde«. Als Begründung für die Einsätze im Westjordanland dient dabei routinemäßig der »Kampf gegen den Terror«. Die Razzien laufen meist nachts ab und konzentrieren sich auf die Städte Jenin und Nablus. Eine Reaktion: Die Bildung von bewaffneten Widerstandsgruppen wie »Lions’ Den«, die sich zur Aufgabe gemacht haben, israelisches Militär und Siedler zu töten.
Die Abwesenheit der PA-Sicherheitskräfte setzt die Zivilbevölkerung immenser Gefahr seitens gewaltbereiter Siedler aus
Die Radikalisierung junger Palästinenser ist aber nicht nur Antwort auf Razzien des israelischen Militärs im Westjordanland, sondern ist auch Ausdruck der Unzufriedenheit mit der eigenen Regierung. Denn die Fatah verliert an Ansehen und damit an Kontrolle: Einer im März 2023 veröffentlichten Studie des Thinktanks »Palestinian Center for Policy and Survey Research« zufolge befürworten knapp 80 Prozent der palästinensischen Bevölkerung einen Rücktritt von Mahmud Abbas, der als Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) seit 2005 vorsteht. Pogrome jüdischer Siedler etwa gegen das Dorf Huwara südlich von Nablus haben diesen Trend verstärkt. Die Abwesenheit der PA-Sicherheitskräfte setzt die Zivilbevölkerung immenser Gefahr seitens gewaltbereiter Siedler aus. Beim Angriff auf Huwara im Februar wurden mehr als hundert Palästinenser verletzt. Im Juni attackierten Siedler die Ortschaft erneut.
Der Missmut gegenüber der eigenen Regierung staut sich bereits seit Jahren an. Die Fatah als größte Fraktion der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) gilt als verkrustet und korrupt, Vetternwirtschaft in Bezug auf Posten- und Mittelverteilung ist an der Tagesordnung. Dazu kam die wohl schwerste Finanzkrise in der Geschichte der PA, ausgelöst durch die Folgen der Covid-19-Pandemie und fehlender internationaler Spendengelder. Abbas steht nicht nur wegen der zunehmenden Isolation Palästinas in der Kritik, sondern auch, weil er trotz der Radikalisierung der israelischen Politik weiter mit Israels Regierung zusammenarbeitet.
Die Führungskrise in Palästina hat nicht nur die Fatah und das Westjordanland erfasst. Wie bei dem jüngsten Schusswechsel zwischen dem Gazastreifen und Israel im Frühjahr zu beobachten war, nimmt sich die Hamas mehr und mehr zurück. Der »Islamische Jihad« dagegen kann sich als nicht-politische Instanz erlauben, mit weniger Weitblick für Konsequenzen für die Palästinenser im Gazastreifen sich auf Angriffe gegen das Feindbild Israel zu beschränken.
Den politischen Vertretern der Palästinenser gelang es nicht, neue Bündnisse zu schmieden oder bestehende Allianzen zu stärken
Die Hamas hat außerdem mit internen Konflikten zu kämpfen, die ihrem Ansehen schaden. So kollidiert die Regierung in Gaza unter Ismael Haniyeh immer wieder mit der Exil-Führung um Khaled Meshal: Während Haniyeh enge Verbindungen zu Iran unterhält und die Hizbullah als wichtigen Verbündeten im Kampf gegen Israel sieht, setzt Meshal auf bessere Beziehungen zu anderen arabischen Staaten.
Was die beiden führenden Parteien Palästinas gemein haben: die gegenseitige Abneigung. Offiziell legten sie ihren Streit 2017 in Kairo bei. In der Praxis gestaltet sich die Koordination zwischen Fatah und Hamas aber schwierig – nicht zuletzt, weil auf beiden Seiten noch Rechnungen offen sind. Nach den Wahlen 2006, aus denen die Hamas als Sieger hervorgegangen war, hatte die Fatah mit westlicher Unterstützung das Wahlergebnis schlichtweg abgelehnt. Die Hamas reagierte mit der gewaltsamen Übernahme des Gazastreifens.
Eine weitere Gemeinsamkeit von Fatah und Hamas: die wachsende Isolation in der Region. Während Israel sein Einflussgebiet 2020 durch die Unterzeichnung der »Abraham-Abkommen« erweiterte, gelang es den politischen Vertretern der Palästinenser nicht, neue Bündnisse zu schmieden oder bestehende Allianzen zu stärken. Immerhin reiste nach zehn Jahren im April dieses Jahr erstmals wieder eine offizielle Hamas-Delegation nach Riad – wenngleich Saudi-Arabien ohnehin Bedenken pflegt, die Beziehungen zu Israel zu normalisieren und damit dem Druck aus Washington nachzugeben. So blieb als einziges Ergebnis, dass Haniyeh und Meshal zumindest nach außen hin ihr Kriegsbeil begraben haben.
Klar ist mittlerweile auch: Die palästinensische Regierung scheint bereit zu sein, bittere Pillen zu schlucken, um auf diplomatischem Parkett wieder Anschluss zu finden. In diesem Zusammenhang ist auch die öffentlichkeitswirksame Annäherung an China zu verstehen – zum Preis, sich hinter die Uiguren- und Taiwan-Politik des chinesischen Regimes zu stellen. Doch auch hier geriet die PA schnell ins Hintertreffen: Nur wenige Tage nach dem Treffen von Mahmud Abbas und Xi Jinping machte Benyamin Netanyahu seine Einladung nach Beijing publik.
Neben »Lions’ Den«, die um die 100 Mitglieder umfasst, kämpfen um die 200 Palästinenser für die Jenin-Brigaden
Auch das hohe Alter der Entscheidungsträger steht im Kontrast zu einer Gesellschaft, in der mehr als zwei Drittel 30 Jahre oder jünger sind. Mahmud Abbas ist 87 Jahre alt, Ismail Haniyeh gehört mit seinen 61 Jahren schon zu den jüngeren Vertretern der Führungsriege. Dem »Palestinian Center for Policy and Survey Research« zufolge trauen mehr als 40 Prozent der Palästinenser sowohl der Fatah als auch der Hamas keine Führungsrolle mehr zu. Der naheliegendste Weg aus der Stagnation nimmt aber einen zunehmend utopischen Charakter an.
Zuletzt hatte Israels Weigerung, palästinensische Bürger in Ostjerusalem an den für 2021 angesetzten Wahlen teilnehmen zu lassen, den ersten Urnengang nach anderthalb Jahrzehnten verhindert. Die Intensivierung des Siedlungsbaus und die De-Facto-Annexion des Westjordanlandes würden die Durchführung von Wahlen ohnehin enorm erschweren. Nicht zuletzt legen die Vertreter von Fatah und Hamas wenig Interesse an den Tag, sich den unzufriedenen Bürgern an der Urne zu stellen und so möglicherweise ihre Posten und Pfründe zu verlieren.
Dieses zerrüttete Bild hinterlässt sowohl im Westjordanland als auch in Gaza eine junge Gesellschaft auf Sinnsuche. Viele verfallen in Politikverdrossenheit, andere schließen sich dagegen dem bewaffneten Widerstand an. Im Vakuum des Westjordanlandes sind so Gruppen wie Lions’ Den entstanden, die sich zur Aufgabe machen »für ihr Land zu kämpfen«, wie es Nabulsi in seiner Abschiedsbotschaft formulierte.
Neben »Lions’ Den«, die um die 100 Mitglieder umfasst und erst letztes Jahr gegründet wurde, kämpfen um die 200 Palästinenser für die Jenin-Brigaden. Weitere noch kleinere Gruppierungen haben sich in Flüchtlingscamps in Tulkarem, Hebron, Jericho und Tubas gegründet. »Lion’s Den« ging aus Mitgliedern des sogenannten Nablus-Bataillons hervor, das als Dachverband lokale Mitglieder der Al-Quds-Brigaden des »Islamischen Jihads«, der »Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden« der Fatah sowie der »Izz al-Din al-Qassam-Brigaden« der Hamas zusammenhält. Die Jenin-Brigaden formten sich 2021 aus ehemaligen Mitgliedern der Fatah und des »Islamischen Jihads«. Den Gruppen fällt es leicht, an Waffen zu gelangen, denn die Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde über die Städte des Westjordanlandes schrumpft. Nach Israels Einbehalt palästinensischer Steuergelder leidet auch der Sicherheitssektor, in den kaum noch Gelder fließen.
So bilden sich isolierte Inseln, welche beinahe kleinen Abbildern des Gazastreifens gleichen
Die bewaffneten Mitglieder sind meist Jugendliche und bilden damit ein Spiegelbild der palästinensischen Demografie. Sie nutzen Tik Tok und Telegram, teilen Videos und Bilder und werden so quer über das Westjordanland immer beliebter. In Anbetracht der Abgrenzung zur etablierten Politelite stellen sie Verbindungen her, die auf den ersten Blick überraschen. Gruppen wie »Lions’ Den« definieren sich zwar als säkulare Widerstandsgruppen, doch die Fäden ziehen teilweise Gruppen wie der »Islamische Jihad« und auch die Hamas, vor allem, wenn es um die Finanzierung und (para)militärische Ausbildung geht. Die Gelder dafür fließen unter anderem aus Iran. Das Vertrauen, das den zwischen 15- und 30-Jährigen damit seitens fundamentalistischer Gruppierungen entgegengebracht wird, ist eine vergleichsweise neue Entwicklung.
Die Militarisierung und Fragmentierung des palästinensischen Widerstands leistet aber auf lange Sicht der zunehmenden Abschottung der Städte des Westjordanlandes durch Israel Vorschub. So bilden sich isolierte Inseln, welche beinahe kleinen Abbildern des Gazastreifens gleichen. Die Razzia in Jenin am 19. Juni kostete 6 Palästinensern das Leben und endete mit über 90 Verwundeten. Israel setzte dabei zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten Kampfhubschrauber ein. Finanzminister Smotrich twitterte während der stundenlangen Auseinandersetzung: »Es ist an der Zeit, die Operationen mit der Pinzette durch eine breit angelegte Kampagne zu ersetzen, um die Terrornester auszumerzen«.
Innenminister Itamar Ben Gvir setzte noch einen drauf und forderte das israelische Militär dazu auf, »Hunderte oder, wenn nötig, Tausende« Palästinenser zu töten. Und wenige Tage nach der Operation in Jenin bewerten Ex-UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Mary Robinson die aktuellen Geschehnisse in Israel und Palästina als Anzeichen für die »Errichtung eines Apartheid-Systems«. Der Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen, der österreichische Jurist Volker Türk, warnte, dass die Situation im Westjordanland »außer Kontrolle« zu geraten droht.
Der so ritualisiert wirkende Einsatz, zeigt auf, wie Israel konsequent und radikal seine Schirme über sogenannte Krisenherde wie Jenin spannt, sogar die internationale Gemeinschaft in Besorgnis versetzt, und sich die PA bei all dem die Rolle des teilnahmslosen Zuschauers aneignet. Denn eine selbstbewusste Haltung kann Abbas angesichts seiner politischen Bedeutungslosigkeit auch nicht mehr einnehmen. Unbewusst oder nicht leistet die Palästinensische Autonomiebehörde so einer Verschärfung der Lage Vorschub und nimmt dabei in Kauf, dass junge Palästinenser wie Anhänger Nabulsis schlichtweg mit in die Spirale der Gewalt gerissen werden.