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Repressionen und die Protestbewegung in Iran

Khamenei muss sich entscheiden

Analyse
Repressionen und die Protestbewegung in Iran
Studierendenprotest an der Teheraner Amir-Kabir-Universität im September 2022 Wikimedia Commons

Wie die Protestbewegung Irans Politiklandschaft auf fünf Arten grundlegend verändert hat – und vor welchen richtungsweisenden Fragen Ali Khamenei am Vorabend des Jahrestags der Islamischen Revolution steht.

Revolutionsführer Ali Khamenei wird am 44. Jahrestag der Islamischen Revolution am 11. Februar wahrscheinlich eine Massenbegnadigung ankündigen. Eine solche Geste ist ebenso üblich wie symbolisch: Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass politische Gefangene freikommen, denn viele, die in den letzten fünf Monaten im Zuge der Massenproteste festgesetzt wurden, haben wahrscheinlich nie an Protesten teilgenommen und sind präventiv inhaftiert worden. Die Begnadigungen sind kein Signal für einen Politikwechsel, sondern zeigen, dass Khamenei die unmittelbare Bedrohung durch die Proteste als gering einschätzt, sich aber bewusst ist, dass die sie ohne Zugeständnisse wieder aufflammen werden.

 

44 Jahre nach dem Abtritt des Schahs findet sich Khamenei in einer politischen Isolation wieder, die er selbst geschaffen hat und aus der es immer schwieriger werden wird, herauszukommen. Einer der Gründe, warum die Islamische Republik den jüngsten Protesten standgehalten hat, ist ihre Zentralisierung um Khamenei herum. Indem er die meisten unabhängigen Machtzentren innerhalb des Nezam, der politischen Insider in Iran, an den Rand gedrängt hat, verringerte er das Risiko, dass seine Herrschaft von innen in Frage gestellt wird, erheblich verringert. Die Proteste zeigten jedoch die Kehrseite dieser erhöhten Überlebensfähigkeit des politischen Systems: Die Unfähigkeit, auf die Herausforderungen der Massen mit etwas anderem als Gewalt zu reagieren. Schon jetzt hat die Protestbewegung die iranische Politik in mindestens fünf wichtigen Punkten grundlegend verändert.

 

Erstens, zeigten die Proteste das Potenzial von Massenbewegungen ohne eindeutige Führungsfigur. Jahrzehntelange Unterdrückung und die brutale Niederschlagung der »Grünen Bewegung« im Jahr 2009 haben dazu geführt, dass es in der iranischen Zivilgesellschaft nur wenige Persönlichkeiten gibt, die in der Lage sind, eine größere Zahl von Menschen zu mobilisieren und zu vereinen. Das Regime ging zwar davon aus, dass dies Massenproteste verhindern würde, doch das war nicht der Fall: Sowohl 2017 als auch 2019 brachen Massenproteste als Reaktion auf die unpopuläre Politik der Regierung aus. Und 2022 nahmen die Proteste in Bezug auf die geografische Ausdehnung und die gesellschaftliche Zusammensetzung eine viel breitere Form an und wurden in kleinerem Maßstab koordiniert.

 

Dies stellt bereits jetzt eine große Herausforderung für ein politisches System dar, das darauf vorbereitet ist, in Zukunft eher auf Repression als auf Kooptation zu setzen: Wenn es keine zentrale Führung gibt, gibt es auch niemanden, auf den man Druck ausüben oder mit dem man verhandeln kann, und die Überwachung jeder einzelnen Gruppe von kleinen, lokal begrenzten Demonstranten erfordert eine Menge Kapazitäten. Außerdem hat die Reaktion auf die Gewalt sehr deutlich die Risiken eines solchen Ansatzes aufgezeigt: Der »Blutfreitag« in Zahedan, an dem an einem Tag über 80 Zivilisten getötet wurden, setzte den Protesten kein Ende, sondern schuf vielmehr eine Brutstätte politischer Aktivität in einer Provinz, die das Regime zuvor kaum herausgefordert hatte. Die Proteste in Irans Südosten halten bis heute an – eine Herausforderung für das Regime, für das es noch keinen wirksamen Ansatz gefunden hat.

 

Zweitens, ist ein »Weiter so« in der Regierungspolitik wie vor 2022 eigentlich nicht mehr denkbar. In der Breite der iranischen Bevölkerung herrscht zwar eine ungefähre Vorstellung darüber, dass die derzeitige Regierung zutiefst unpopulär ist: Schließlich beteiligten sich nach offiziellen Angaben gerade 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler an den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2021. Doch erst die Proteste zeigten das wahre Ausmaß der Unzufriedenheit auf. Die schiere Anzahl von Frauen, die den Schleier ablegten, verwandelte einen zuvor kleinen Akt des Widerstands in eine Massenbewegung. Diese Mobilisierungskraft hat das Potenzial, die Sittenpolizei schlicht de facto zu überlasten.

 

Eine deutliche Abkehr von der Rolle, die der Reformismus in der iranischen Politik bisher gespielt hat

 

Denn wie viele Polizeieinheiten wären nötig, um Millionen Frauen tagtäglich zu zwingen, den Schleier anzulegen? Die Entschleierung als Massenpraxis des zivilen Ungehorsams legte den Grundstein für einen solchen Wandel in der iranischen Politik. Das Regime kann die Aufhebung der Schleierpflicht zwar kaum offiziell zulassen – es gehört zu seinem selbstverordneten ideologischen Kern. Es muss die Praxis aber wohl tolerieren und sich auf die Überwachung einiger öffentlicher Orte und religiöser Stätten konzentrieren – nicht aufgrund eines Paradigmenwechsels, sondern aufgrund begrenzter Kapazitäten.

 

Drittens, hat das Regime seine Umwandlung in eine von Khamenei geführte Autokratie ohne legitimierte Opposition abgeschlossen. Das zeigt sich darin, wie die Demonstranten den Status quo wahrnehmen, etwa wenn sich Slogans und Forderungen an Khamenei selbst und nicht an Präsident Ebrahim Raisi richten. Hinzu kommt, dass gemäßigte Kräfte wie der frühere Präsident Hassan Ruhani oder der potenzielle Präsidentschaftskandidat Ali Laridschani ins Abseits gedrängt wurden, während die Reformisten so gut wie aus der politischen Landschaft verschwunden sind. Bis 2021 waren sie gespalten in diejenigen, die wie Fatemeh Rafsandschani zum Wahlboykott und zu Massenprotesten aufriefen, und diejenigen, die wie die meisten ihrer Eliten eine von Ruhani geführte Koalition unterstützten. Die derart eingeschränkten Wahlen 2020 und 2021 haben die verbliebenen Befürworter einer Systemreform durch Wahlen desillusioniert.

 

Es überrascht daher nicht, dass sich 2022 sowohl der ehemalige Präsident Mohammad Khatami als auch der ehemalige Präsidentschaftskandidat Mir-Hossein Mussawi den Forderungen nach Reformen anschlossen und sich für die Massenproteste aussprachen. Beide Politiker stehen seit Jahren unter Hausarrest und haben sich nur selten öffentlich gegen Khamenei direkt positioniert und entweder das Regime unterstützt oder nur versteckt Kritik geäußert. Dass Mussawi das derzeitige System nun als »unhaltbar« bezeichnete und eine neue Verfassung fordert, bedeutet eine deutliche Abkehr von der Rolle, die der Reformismus in der iranischen Politik bisher gespielt hat.

 

Ein Wandel der politischen Landschaft, den Irans Konservative aufmerksam verfolgen. In einer der Revolutionsgarde nahestehenden Zeitung wurden die früheren Führer des reformistischen Lagers schnell beschuldigt, das iranische Regime stürzen zu wollen. Während Mussawi und Co. wahrscheinlich hoffen, wieder eine Möglichkeit zur politischen Betätigung zu erhalten, falls Khamenei Änderungen zulassen sollte, ist das unmittelbare Ergebnis ein System, in dem der Reformismus als politisches Projekt tot ist und die wichtigsten politischen Richtungen eine Fortsetzung der gegenwärtigen Ordnung unter Khamenei oder der Widerstand gegen sie durch revolutionäre Praktiken sind.

 

Die Nachfolgefrage an der Spitze des Staates gewinnt enorm an Bedeutung

 

Dies hat den Nebeneffekt, dass die Nachfolgefrage an der Spitze des Staates enorm an Bedeutung gewinnt. Nach dem Tod Khomeinis 1989 spielten wichtige Akteure wie Ali Akbar Haschemi Rafsandschani eine Rolle bei der Bestimmung seines Nachfolgers und ermöglichten einen vergleichsweise schnellen Übergang. Da sich Khameneis Verbündete auf seinen engsten Kreis beschränken, alternative Machtzentren geschwächt wurden und die Unterstützung für den Revolutionsführer in der Bevölkerung auf einem historischen Tiefpunkt angelangt ist, ist ein ähnlich reibungsloser Prozess unwahrscheinlich. Diejenigen, deren Karriere von Khamenei abhängt, setzen wahrscheinlich darauf, dass er noch solange wie möglich im Amt bleibt, da ihr Schicksal unter einem eventuellen Nachfolger alles andere als sicher erscheint.

 

Viertens, haben die jüngsten Proteste gezeigt, wie wichtig ethnische und religiöse Minderheiten als Gemeinschaften sind, die trotz Repression eine Mobilisierung in Gang setzen und aufrechterhalten können. Maulawi Abdolhamid Ismailzahi nicht als typische Befürworter von Anti-Regime-Protesten. Doch der sunnitische Geistliche, einst mit Präsident Raisi verbündet, hat einen anderen Weg eingeschlagen und ist zu einem Hauptkritiker des Systems avanciert. Der Kleriker fordert nicht nur ein Ende der staatlichen Gewalt, sondern auch die Abhaltung eines Referendums – und dass lange bevor die Reformisten dies taten. Trotz der Einschüchterungskampagnen gegen die Belutschen im Südosten Irans halten die Proteste dort weiter an – und sie werden ein wichtige Rolle spielen, ganz gleich, welches politische System folgen wird; sei es eine Fortsetzung der Islamischen Republik oder eine postrevolutionäre Ordnung.

 

In ähnlicher Weise halten die Proteste in den kurdischen Gebieten im Westen Irans angesichts der hochmilitarisierten Reaktion des Staates an. Jina Amini, die gezwungen war, den persischen Namen Mahsa anzunehmen, wurde hier, in Saqqez, geboren. Die Massenproteste begannen in ihrer Heimatstadt und breiteten sich unter dem kurdischen Slogan »Jin, Jiyan, Azadi«, der ins Persische mit »Zan, Zendegi, Azadi« übertragen wurde, auf andere Landesteile aus. Die iranische Zivilgesellschaft war lange Zeit von persischen Akteuren aus der städtischen Mittelschicht dominiert worden, die nur wenige Verbindungen zu den Kurden hatten, die es mit einem viel stärker militarisierten Staat zu tun hatten, und zu den Belutschen, die von den meisten Protesten gegen das Regime abgekoppelt schienen.

 

Diese neue Einigkeit in Anbetracht der staatlichen Gewalt stellt eine Herausforderung für eine Regierung dar, die lange Zeit davon ausging, dass Massenproteste eine Angelegenheit der städtischen Zentren seien und dass politische Missstände in der Peripherie eher ethnischen Charakter annehmen und leicht von anderen Akteuren und Bewegungen abgekoppelt werden könnten. Das Dilemma für die Regierung lautet, entweder die Konflikte in der Peripherie zu befrieden oder neue Wege zu finden, um die verschiedenen Komponenten des Landes gegeneinander auszuspielen.

 

Wie lange kann die Repression den politischen Wandel hinauszögern, bevor die Kosten zu hoch werden?

 

Schließlich scheint die Diaspora weniger denn je in der Lage zu sein, die Führung der Proteste im Iran zu übernehmen. Fünf Monate nach der scheinbar größten Herausforderung für die Islamische Republik hat sich keine größere Koalition oder ein Akteur im Ausland herauskristallisiert, der in der Lage wäre, den Widerstand gegen das Regime zu organisieren und zu mobilisieren. Stattdessen gehen die Proteste in Iran weiter, während Diaspora-Gruppen über die Rolle von Monarchie, der Linken, des Feminismus oder der Minderheitenrechte streiten.

 

Die Diaspora spielte eine wichtige Rolle als Verstärker, sie machte auf Menschenrechtsverletzungen und staatliche Gewalt in Iran aufmerksam und hielt die Kritik von außerhalb Irans am Leben. Aber sie scheint nach wie vor nicht in der Lage zu sein, eine einheitliche Plattform zu schaffen, um politische Forderungen zu bündeln. Stattdessen scheint die politische Führung aus dem Inneren Irans zu kommen, und verschiedene Akteure haben begonnen, lose Koalitionen zu bilden, die Jugend-, Gewerkschafts- und Menschenrechtsgruppen umfassen.

 

Der Staub hat sich vorerst gelegt, aber die iranischen Eliten sind sich durchaus bewusst, dass ohne größere Veränderungen die Missstände fortbestehen und die Proteste wahrscheinlich wieder aufflammen werden. Werden sie ihre repressiven Maßnahmen verstärken, um mit der nächsten Protestwelle fertig zu werden, die wahrscheinlich noch größere Ausmaße annehmen wird? Oder werden sie Zugeständnisse machen, möglicherweise zur Befriedung von Konflikten mit einigen Gruppen, um den Umfang künftiger Proteste einzuhegen?

 

Einige Regimevertreter könnten auf eine gewaltsame Eskalation drängen und dabei die politischen Kosten selbst einer erfolgreichen Unterdrückung nicht bedenken. Sie täten gut daran, auf Syrien zu schauen, wo sich Baschar Al-Assad gegen eine drohende Revolution durchsetzte, allerdings um den Preis, dass das Land in mindestens drei Kontrollbereiche zerrissen wurde und etwa die Hälfte der Bevölkerung entweder innerhalb des Landes vertrieben wurde oder ins Ausland flüchtete.

 

Wie lange kann die Repression den politischen Wandel hinauszögern, bevor die Kosten zu hoch werden oder die Nachfolge Khameneis geregelt ist? Da Khamenei den Jahrestag einer Revolution feiert, die seinesgleichen an die Macht gebracht hat, täte er gut daran, sich daran zu erinnern, wie unberechenbar Revolutionen ausfallen können.


Dr. Tareq Sydiq ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg. Vor kurzen erschien seine Promotionsschrift »Autoritäre Interessenaushandlung. Wie Iraner*innen Politik innerhalb autoritärer Rahmenbedingungen gestalten« bei Springer.

Von: 
Tareq Sydiq

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