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Sicherheit in Nahost

Blühende Risikolandschaften

Analyse
Blühende Risikolandschaften

Auf Krieg und Terrorismus im Nahen Osten hat sich die Sicherheitsbranche eingestellt. Sie ist dadurch zum Wachstumsmarkt geworden. Aber wie geht sie mit paranoiden Regimen um?

Um 1999 kursierte am Seminar für Arabistik und Islamwissenschaften in Göttingen ein Witz. Demnach gab es drei Gruppen von Studenten: Die ersten waren Kinder binationaler Partnerschaften und wollten ihre arabische Identität ergründen, das waren die Biografen. Die zweiten waren die Politiker: Die wollten den Nahostkonflikt lösen. Die dritten schließlich hatten das Fach aus romantischen Gründen gewählt – sie hatten zu viel Karl May gelesen.

 

Der Nahostkonflikt dominierte damals die Berichterstattung über die Region und erhitzte die Gemüter – nicht nur auf der arabischen Straße, sondern auch im Seminar. Der Nahe Osten und Nordafrika ließen sich in weiten Teilen vortrefflich bereisen, von einzelnen Ländern wie dem Irak Saddam Husseins oder dem abgeschotteten Saudi-Arabien einmal abgesehen. Syrien war ein beliebtes Ziel zum Arabischlernen, ebenso der Jemen. In Nordafrika, allen voran im Süden Algeriens, später auch in Libyen und in Mali, zogen Wüstenreisen Touristen an. Vielerorts war noch ein Hauch vom »alten Orient« zu spüren, so zumindest meine Erinnerung.

 

Das größte Risiko stellte 1999 der Straßenverkehr dar – mit weitem Abstand. Terroristische Anschläge kamen eher selten vor, zum Bespiel das Massaker im ägyptischen Luxor 1997. Die Kriminalitätsrate war in der gesamten Region durchweg sehr niedrig – eine Folge der zahlreichen autoritären Polizeistaat-Regime. Soziale Unruhen hat es immer gegeben, aber vereinzelt sowie lokal und zeitlich beschränkt. Als Ausländer aus dem Westen konnte man sich in der Region fast überall frei und ungehindert bewegen, die entsprechenden Sprachkenntnisse vorausgesetzt. In der Rückschau war es eine vergleichsweise ruhige und übersichtliche Zeit, sofern das Wort »übersichtlich« im Zusammenhang mit dem Nahen Osten irgendeinen Sinn ergibt.

 

Zwanzig Jahre später bestimmen Krieg, Terrorismus, konfessionelle Konflikte und soziale Unruhen in weiten Teilen das Bild vom Nahen Osten und Nordafrika. Die Region ist politisch instabil, dabei noch komplexer als schon 1999. In Libyen und Teilen Syriens herrscht Krieg, Saudi-Arabien führt seit 2015 einen ebenso erbitterten wie erfolglosen Krieg gegen die Huthi-Rebellen im Jemen. Der Konflikt hat das ohnehin arme Land in die größte humanitäre Katastrophe des 21. Jahrhunderts gestürzt.

 

Manche Länder sind derzeit ohne intensive Vorbereitung und robuste Sicherheitsmaßnahmen vor Ort praktisch nicht zu bereisen.

 

Wo Staaten fragil werden oder ganz zerfallen, profitieren Dschihadisten. Nicht allein im Jemen, auch im Irak und in Syrien, in Ägypten, Libyen und Tunesien sind Rückzugsräume für Terroristen entstanden, haben sich No-go-Areas gebildet, deren Betreten Lebensgefahr bedeutet. Infolgedessen sind Wüstenreisen in die Sahara heute nur sehr eingeschränkt möglich. Der alte Orient existiert nicht mehr, Karl May und sein Werk verblassen.

 

Zwei Zäsuren waren maßgeblich für diese Entwicklung: die Anschläge vom 11. September 2001 und der Arabische Frühling ab 2011. Der »Krieg gegen den Terror«, den US-Präsident George W. Bush in Reaktion auf die Anschläge von New York und Washington ausrief und der zum Einmarsch in Afghanistan 2001 und im Irak 2003 führte, hatte vor allem ein Ergebnis: Er hat den Aufschwung des islamistischen Terrorismus befördert und die Welt unsicherer gemacht.

 

Die Umbrüche von 2011 wiederum haben dazu geführt, dass Staaten in sich zusammenfallen und Grenzen ihre Bedeutung verlieren. Seither werden lange unterdrückte Konflikte mit Gewalt ausgetragen, wird in einem Prozess einer fundamentalen Neuordnung des Nahen Ostens und Nordafrikas um Macht gekämpft.

 

Heute gelten in der Region daher andere Spielregeln als Ende des vergangenen Jahrhunderts. Es gibt mehr Risiken, und sie sind größer als früher. Zwar bleibt der Straßenverkehr unangefochten das Risiko Nummer eins in vielen Ländern. Doch heute existieren weitere Bedrohungen wie Terroranschläge, eine steigende Zahl von Entführungen, soziale Unruhen und Kriminalität. Nicht zu vergessen Überwachung und Spionage: In vielen Ländern sind die repressiven Regime dank neuer Technologien in der Lage, Bürger und Oppositionelle in einem bislang unbekannten Ausmaß zu überwachen und zu gängeln.

 

Ein Risiko wird bei der Vorbereitung auf Reisen in diesen neuen Nahen Osten immer wieder übersehen.

 

Für Reisende und Expats bedeutet das: Aufenthalte in der Region erfordern heute eine intensivere Vorbereitung. Das betrifft insbesondere Unternehmen und internationale Organisationen, die Mitarbeiter in Krisengebiete und fragile Staaten entsenden. Manche Länder sind derzeit ohne intensive Vorbereitung und robuste Sicherheitsmaßnahmen vor Ort, wie bewaffneten Personenschutz und gepanzerte Fahrzeuge, praktisch nicht zu bereisen. Dazu gehören Kriegsgebiete wie Libyen, Syrien und der Jemen, in Teilen auch der Irak.

 

Eine professionelle Vorbereitung umfasst dreierlei: Sicherheitstrainings, Risikoanalysen und die Krisen- und Notfallplanung. Sicherheitstrainings sind heute ein fester Bestandteil der Vorbereitung von Mitarbeitern auf Entsendungen und Auslandsreisen. Darin lernen sie grundlegende Verhaltensweisen, um die eigene Sicherheit auf Reisen zu erhöhen: etwa wie man sich vor Ort unauffällig bewegt oder wie man Gefahren frühzeitig erkennt.

 

Wichtige Themen sind das Verhalten im Falle von Unruhen, bei Terroranschlägen oder Entführungen. Risikoanalysen erfassen und bewerten das Risiko für Reisende. Solche Analysen erfordern indes eine präzise Kenntnis des jeweiligen lokalen Kontexts und der Akteure und Dynamiken vor Ort. Im Idealfall sind Berater vorab vor Ort unterwegs, suchen geeignete Hotels und Quartiere, legen sichere Routen fest und identifizieren eventuelle No-go-Areas. Hinzu kommen Krisen- und Notfallpläne, die festlegen, welche Protokolle zum Beispiel im Falle einer Entführung oder einer notwendigen Evakuierung greifen.

 

Derartige Aufgaben übernehmen spezialisierte Sicherheitsberater. Diese Berufsgruppe boomt seit 2001. Diese Berater kommen ganz überwiegend aus dem Militär, von der Polizei oder den Nachrichtendiensten. Die Informationen für ihre Analysen beziehen sie aus einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen, im Idealfall auch aus eigenen, verlässlichen Netzwerken vor Ort.

 

Ein Risiko wird bei der Vorbereitung auf Reisen in diesen neuen Nahen Osten immer wieder übersehen: das der Überwachung. Allen voran Ägypten und Saudi-Arabien instrumentalisieren Antiterrorgesetze, um sich unliebsamer Kritiker, Oppositioneller und sonstiger Feinde zu entledigen. Die Überwachung betrifft indes auch Reisende und Expats. Besonders gefährdet sind Berufsgruppen, zu deren Aufgaben auch das (vermeintliche) Sammeln von Informationen gehört. Dazu zählen Forscher und Wissenschaftler, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und politischen Stiftungen sowie Journalisten.

 

In den von zunehmender Paranoia beherrschten Überwachungsstaaten gilt jeder als potenziell der Spionage verdächtig, der Informationen sammelt oder sich zu sehr für das Innenleben von Ministerien und anderen staatlichen Einrichtungen interessiert. Die Ermordung des italienischen Studenten Giulio Regeni 2016 in Ägypten illustriert, wie weit diese Regimes gehen können. Regeni hatte zum Thema Gewerkschaften geforscht, verschwand dann spurlos und wurde später tot aufgefunden. Sein Körper war von zahlreichen Folterspuren gezeichnet.

 

Das ist der neue Nahe Osten: instabil und volatil und befreit von den letzten Spuren des »alten Orients«, dem der Reisende vor zwanzig Jahren hier und da noch begegnen konnte. Es ist eine Welt voller Risiken und voller Unwägbarkeiten, was aber auch bedeutet: voller möglicher Zukunftsszenarien. Das bietet viel Stoff für neue Bücher. Karl May wäre vermutlich begeistert, wäre er noch am Leben.


Florian Peil ist Sicherheitsberater mit dem Fokus Nahost und Nordafrika und seit 20 Jahren in der Region unterwegs. Zuvor arbeitete der Islamwissenschaftler bei einer deutschen Sicherheitsbehörde im Bereich der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus. Er ist Autor des Buches »Terrorismus – wie wir uns schützen können« (2016).

Von: 
Florian Peil

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