Zwischen den Kriegen in Syrien und in Gaza gibt es viele Unterschiede, aber auch einige Gemeinsamkeiten, die man hierzulande gerne übersieht
Es ist etwas mehr als zehn Jahre her, da erreichte der Kampf in Syrien das Ausmaß eines totalen Krieges. Das Regime von Präsident Baschar al-Assad hatte sich entschieden, »all in« zu gehen: die Brücken der Verständigung einzureißen, die Aufständischen, ihre Familien zu vernichten und diejenigen, die im Verdacht standen, nicht loyal zu sein, zu vertreiben oder ihrem Elend zu überlassen.
Was den Krieg in Syrien allerdings befeuerte und so grausam und unerbittlich machte, war auch der leicht entflammbare Brennstoff einer multiethnischen und -religiösen Gesellschaft. Mobilisiert wurde u.a. mit dem Hass der – sunnitischen – Mehrheit auf die Minderheiten, insbesondere der Alawiten. Und auf der anderen Seite mit der Angst dieser Minderheit, die sich durch das Regime in Mithaftung genommen sah. Das Regime hat diese Ängste geschürt und zugleich stets behauptet, der Krieg gelte nicht der Bevölkerung, sondern richte sich ausschließlich gegen »Terroristen«, denen folglich alle zivilen Opfer zuzuschreiben seien. Sie hätten schließlich angefangen.
Das Regime konnte seine Politik der Vertreibung und Vernichtung nur wahrmachen, weil sie wiederum bei einem Teil der Bevölkerung verfing: Wenn man den anderen nur die Gelegenheit gibt, werden sie uns abschlachten. Ein Zusammenleben gibt es nicht, also müssen wir sie zuerst vernichten oder zumindest dafür sorgen, dass sie sich nie wieder erheben – so dachten vielleicht nicht viele, aber doch genug, um den Plan ins Werk zu setzen. Und wer nachfragte, bekam es auch so zu hören.
Viele Menschen in Syrien erkennen das heute ehrlich an. Sie sehen auch, wohin dieses Denken führte. Aus diesem Eingeständnis kann Vertrauen entstehen. Nicht aber aus Propaganda, die – wie es das Assad-Regime und seine Fürsprecher weltweit taten – Kriegsverbrechen und Folter hermetisch leugneten und als vom Ausland oder von »Terroristen« verbreitete fake news diskreditierten. Dies geschah a priori, ohne sich überhaupt mit der Beweislage zu beschäftigen. Und bei denen, die daran glauben wollten, fiel die Propaganda auf fruchtbaren Boden. Nach dem Motto: So etwas tun unsere Leute nicht!
Es ist ebenso banal wie notwendig, darauf hinzuweisen, dass die Konflikte in Syrien und Israel bzw. Palästina sehr unterschiedlich sind. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten, die man hierzulande gerne übersieht. Ethno-konfessionelle Kriege erfassen die gesamte Gesellschaft. Dabei überlagern sich politische, territoriale Konflikte um Land und Ressourcen, traumatische Erfahrungen, zum Teil auch konstruierte Erbfeindschaften zwischen Volks- und Religionsgemeinschaft, und die persönliche Erfahrung von Gewalt. In diesem Klima bieten sich die Extremisten als authentisch an. Sie sind nicht politisch korrekt und stellen keine falsche Scham zur Schau. Ist es wirklich so schwer zu verstehen, dass solche Kräfte nicht nur in einer Diktatur wie Syrien, sondern auch im Israelisch-Palästinensischen Konflikt ihre zerstörerische Wirkung entfalten? Auf beiden Seiten?
Die Ideologie, mit der die Hamas-Führung und die mit ihr verbündeten Täter vom 7. Oktober 2023 ihr Handeln legitimierten, kennt keine Zivilisten. Für sie war jeder Israeli – egal welchen Geschlechts oder Alters – ein potenzieller, aktiver oder ehemaliger Soldat der Besatzung und damit ein legitimes Ziel von Gewalt. Dafür lassen sich hinreichende Belege finden und es gilt auch in der deutschen Diskussion als unstrittig.
Auch nach einem Jahr Krieg verweigern sich deutsche Politiker der Realität in Gaza
Aber wie steht es um die Opfer von Gaza? Nach weit über 40.000 Toten, von denen nach Angaben internationaler Hilfsorganisationen ein großer Teil Kinder sind; auch nach zahlreichen, über ein Jahr dokumentierten Kriegsverbrechen durch Angehörige der israelischen Armee verbreiten deutsche Politiker noch immer das Narrativ, diese Opfer seien bedauerliche Kollateralschäden eines rechtschaffenen Antiterrorkampfes. So als hätten sie sich unglücklicherweise sämtlich in die Schusslinie geworfen, als Israel von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch machte.
Sie stellen öffentlich in Abrede, dass einflussreiche israelische Politiker unter dem Beifall ihrer Anhänger die Palästinenser kollektiv für den 7. Oktober verantwortlich machten oder sogar deren Ausrottung verlangten. Sie besitzen gar die Dreistigkeit zu behaupten, solche Aussagen, wie sie dutzendfach belegt sind, habe es »nie gegeben«. Oder sie unterstellen denjenigen, die versuchen, diese Phänomene zu erklären, die auf Vergeltung als eine Triebfeder des Vorgehens in Gaza hinweisen, sie reproduzierten »antisemitische Klischees«.
Es genügt, mit Israelis ein Gespräch zu führen, die an diesem und an vorherigen Kriegen teilgenommen haben. Es genügt, die einschlägigen Nachrichten und Talkshows im israelischen Fernsehen anzuschauen, oder auch die Debatten im Hohen Haus der israelischen Demokratie, um zu dem Schluss zu gelangen: Wenn Menschen in Gaza in dieser Zahl sterben und vertrieben werden, dann auch, weil ein kritischer Teil der politischen Elite Israels und ihre Anhänger der Überzeugung sind, dass die Palästinenser alles verdient haben, aber gewiss keine Rücksichtnahme.
Wenn Deutschland einen ernsthaften Beitrag zu Befriedung des Nahen Ostens leisten will, dann sollte es sich nicht nur mit den politischen Ursachen befassen, sondern auch mit den gesellschaftlichen Dynamiken, die ein solches Ausmaß von Gewalt und Grausamkeit erst möglich machen. Wenn nicht einmal Deutschland, als verhältnismäßig Unbeteiligter, in der Lage ist, dieser Wirklichkeit ins Auge zu sehen? Was erwartet man dann von denjenigen, die unmittelbar am Krieg beteiligt sind?