Nach fast einem Jahr produktiver Verhandlungen gerät die türkisch-griechische Annäherung ins Stocken. Der Grund dafür liegt nicht nur in den heiklen Hoheitsfragen in der Ägäis.
Am Ende blieb Griechenlands Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis keine andere Wahl, als seinen aufmüpfigen Parteifreund – und ehemaligen Regierungschef – Antonis Samaras vor die Tür zu setzen. Der Parteiausschluss eines Ex-Ministerpräsidenten ist beispiellos in Griechenland und sorgt entsprechend für erheblichen politischen Wirbel. Im Mittelpunkt des Aufruhrs in der konservativen Partei Nea Dimokratia steht die Außenpolitik. Vor allem geht es um die seit Menschengedenken in Hellas hochemotionale – und kontroverse – Frage des Verhaltens gegenüber der Türkei.
Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht und Antonis Samaras die Parteimitgliedschaft gekostet hat, ist ein Interview des Ex-Regierungschefs in einer Athener Sonntags-Zeitung. Dort zieht der 73-Jährige mit spitzer Zunge gegen die Athener Türkei-Politik vom Leder und verlangt den Rücktritt des Außenministers: »Welcher Strategie dient es, wenn Du einen Dialog mit der Türkei anfängst und gleich zu Beginn Zugeständnisse machst?«, lautet eine der Unterstellungen.
Der innenpolitische Streit kommt zu einem Zeitpunkt ungewohnter Harmonie im Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei. Offenkundig haben die Regierungen in Athen und Ankara den politischen Willen, die Spannungen der Vergangenheit hinter sich zu lassen und am Verhandlungstisch nach Lösungen für ihre teilweise jahrzehntealten bilateralen Probleme zu suchen.
Bisheriger Höhepunkt der transägäischen Entspannungspolitik war das Gipfeltreffen des griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan im vergangenen Dezember und die Unterzeichnung der »Athener Deklaration über freundschaftliche Beziehungen und gute Nachbarschaft«. In seltener Eintracht vereinbarten die beiden Seiten am Fuße der Akropolis einen detaillierten Fahrplan für einen Verhandlungsprozess. Dieser sollte – so die vor allem vom türkischen Präsidenten mehrmals wiederholte Zielsetzung – die Ägäis in ein Meer des Friedens und der Zusammenarbeit verwandeln.
Freundliches aus Anatolien
Nicht nur Erdoğans Rhetorik hat sich gewandelt: Seit Monaten vernehmen die Griechen allerlei Freundlichkeiten aus Anatolien. Vergessen scheinen die kriegerischen Drohgebärden, mit denen der türkische Präsident in großer Regelmäßigkeit die Menschen in Hellas gegen sich und sein Land aufbrachte. Zum Stillstand gekommen sind auch die häufigen Flugmanöver der türkischen Luftwaffe über der Ägäis. Nicht selten verletzten Ankaras Jets dabei griechische Hoheitszonen, was wiederum gefährliche Abfangmanöver der Griechen auslöste und in der griechischen Öffentlichkeit zu aufgebrachten, bisweilen hysterischen Reaktionen führte.
Seit über einem Jahr ist eine neuartige Ruhe eingekehrt. Von einem transägäischen Moratorium ist die Rede, welches – schenkt man den Beteuerungen beider Regierungen Glauben – die bisweilen als Erbfeindschaft bezeichneten Beziehungen in eine neue Phase des Friedens führen soll.
Mit der Umsetzung dieses ehrgeizigen, potenziell historischen Projektes haben die Regierungschefs ihre Außenminister betraut. Für ihr letztes Treffen Anfang November in Athen hatten Georgios Gerapetritis und Hakan Fidan von ihren Vorgesetzten einen konkreten Arbeitsauftrag bekommen. Sie sollten prüfen, ob die Bedingungen reif sind, dass die beiden Seiten Gespräche zu den Modalitäten der Abgrenzung des Festlandssockels und der Ausschließlichen Wirtschaftszone in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer beginnen.
Die Formulierung klingt nach juristischer Haarspalterei. Die Worte sind mit Bedacht gewählt, geht es hier doch um das politische Herz des bilateralen Konflikts über Hoheitsrechte in der Ägäis und im angrenzenden östlichen Mittelmeer – ein Konflikt, der erstmals in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auftauchte und seither in eine Reihe von zusätzlichen Teilkonflikten metastasierte.
Und an genau diesem Punkt beginnen schon die Probleme. Während für Athen die Abgrenzung des Festlandsockels und der Ausschließlichen Wirtschaftszone der einzig zu lösende Streitpunkt ist, führt Ankara gleich eine ganz Serie von Differenzen an, die mit den Griechen geklärt werden müssen: Dabei geht es etwa um die aus türkischer Sicht vertragswidrige Militarisierung der griechischen Inseln im Vorfeld des anatolischen Festlands, die Kontrollrechte im Luftraum über der Ägäis und nicht zuletzt die Anliegen der turkophonen Minderheit im griechischen Westthrakien, die Ankara als »türkische« Minorität deklariert, Athen indes im Einklang mit dem Vertrag von Lausanne von 1923 als »muslimische Minderheit« bezeichnet sehen will. Der Streit um Worte birgt gerade bei diesem Thema erheblichen politischen Sprengstoff.
Streit über die Agenda
Trotz der regen diplomatischen Geschäftigkeit stecken die griechisch-türkischen Gespräche in einem Frühstadium, in dem es zunächst um Verfahrensfragen und die Definition der Streitpunkte geht. Man hoffe, so hört man aus beiden Lagern, dass das verbesserte zwischenstaatliche Klima den Prozess befördere. Im Vorfeld des letzten Treffens der Außenminister am 8. November in Athen waren beide Seiten sichtlich bemüht, das gute Klima hervorzuheben. Tatsächlich konnte man den Eindruck gewinnen, hier kommen zwei alte Kameraden zusammen. Auch die auf beiden Seiten von staatlichen Einflüssen nicht freien Medien trugen zum positiven Klima bei.
Gleichwohl wurde alsbald klar, dass Athen und Ankara keinesfalls an dem Punkt angelangt sind, um ernsthaft über die hoheitsrechtlichen Streitfragen zu diskutieren: »Sicher existiert noch kein gemeinsamer Rahmen, damit wir den einen großen Streitpunkt mit der Türkei lösen können – die Abgrenzung der Ausschließlichen Wirtschaftszone und des Festlandsockels in der Ägäis«, erklärte Ministerpräsident Mitsotakis den Rückschlag. Die Formulierung des Premiers lässt die Distanz zur türkischen Position in der prozeduralen Frage erkennen: Während die Griechen die »eine und einzige Frage« behandeln wollen, ist von türkischer Seite immer wieder von einer angestrebten »Paketlösung« für die diversen Streitpunkte die Rede.
Die vereinbarte Struktur der aktuellen Phase der griechisch-türkischen Diplomatie ist so angelegt, dass der Misserfolg in der prozeduralen Frage den Gesamtprozess der Annäherung nicht gefährdet. Neben den regelmäßigen Treffen der Außenminister haben Mitsotakis und Erdoğan bei ihrem Gipfeltreffen in Athen vor einem Jahr drei zusätzliche diplomatische Formate der jeweils eigenen Agenda festgeschrieben. Diese drei »Säulen«, wie sie in der Athener Deklaration genannt werden, umfassen: den »politischen Dialog«, die »positive Agenda« und die »vertrauensbildenden Maßnahmen«.
In den zurückliegenden zwölf Monaten fand eine Vielzahl zwischenstaatlicher Treffen statt, bei denen es in der Regel um recht praktische Dinge geht. Dazu gehört etwa das Projekt eines zusätzlichen griechisch-türkischen Grenzübergangs in Thrakien oder die von beiden Seiten als Erfolg gefeierten Express-Visa für Türken, die auf ausgewählten griechischen Inseln im Osten der Ägäis Urlaub machen wollen – und ohne bürokratischen Aufwand einreisen können.
Es sind allemal Teilerfolge, die zu einer deutlichen Aufhellung des politischen Klimas beigetragen haben. Zur gleichen Zeit wird mit jedem Treffen der Diplomaten auch klar, dass Athen und Ankara in den dem Konflikt zu Grunde liegenden Streitfragen nicht vorankommen.
Was die Politiker hinter verschlossenen Türen im Detail beraten, bleibt oft im Dunkeln. Beide Seiten halten sich konsequent an eine Nachrichtensperre. Es ist davon auszugehen, dass die strittigen Fragen in der Ägäis bei den Beratungen immer wieder auf der Agenda stehen. Wie festgefahren hier die Positionen sind, belegt ein Hinweis des griechischen Außenministers in einem kürzlichen Radiointerview: Seit 2002 hätten sich – so Gerapatritis – griechische und türkische Unterhändler in nicht weniger als 64 Runden von Sondierungsgesprächen mit der Frage der Delimitation des Festlandsockels befasst. »Die Antwort auf die Frage, ob wir in die Nähe (einer Einigung) bei der Abgrenzung gekommen sind, lautet nein«, sagte der griechische Außenminister.
Keine brisante Vorentscheidung
Im besten aller Fälle würden sich Athen und Ankara einigen, ihre hoheitsrechtlichen Differenzen gemeinsam vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag zu bringen. Bevor die Richter über die Abgrenzung des Festlandsockels und die Ausschließliche Wirtschaftszone befinden können – ein Vorgang mit durchaus offenem Ausgang -, sind die Streitparteien verpflichtet, eine politisch höchst brisante Vorentscheidung zu treffen: Sie müssen die Ausdehnung ihrer jeweiligen Hoheitsgewässer festlegen.
Griechenland beansprucht derzeit in der Ägäis im Umfeld seiner vielen Inseln eine Hoheitszone von sechs Seemeilen, obwohl nach geltendem Völkerrecht zwölf Seemeilen zulässig wären. Die Türkei hat unmissverständlich zu Protokoll gegeben, das eine Ausweitung der griechischen Territorialgewässer auf diese Breite einer Kriegserklärung gleichkäme. Ankara droht unverblümt mit dem Casus Belli, denn eine Verdoppelung der griechischen Hoheitsgewässer im Umkreis der Inseln würde das Ägäische Meer praktisch in ein griechisches Binnengewässer verwandeln.
Der Streit über die Hoheitszonen in der Ägäis reicht in die 1970er-Jahre zurück. Über die Jahrzehnte hat es immer wieder Versuche gegeben, die Differenzen am Verhandlungstisch aus der Welt zu schaffen. Zuletzt sind Athen und Ankara vor zwanzig Jahren einem Ausgleich nahegekommen. Wie mittlerweile aus Zeitzeugenberichten bekannt, war die griechische Seite damals zu einer »gestaffelten« Grenzziehung der Hoheitszonen bereit: Im Umfeld der meisten ägäischen Inseln sieht dieses Modell eine sechs Seemeilen-Zone vor, für das Festland würde Athen hingegen zwölf Seemeilen beanspruchen. Auf dieser Grundlage sollte Thema zusammen mit der Türkei vor ein internationales Schiedsgericht gebracht werden.
Innenpolitik verhindert Lösung
Doch dazu sollte es nicht kommen – maßgeblich aufgrund der griechischen Innenpolitik. Der Wahlsieg der konservativen Nea Dimokratia am 7. März 2004 über die regierende Panhellenische Sozialistische Bewegung (PASOK) setzte den Verhandlungen mit der Türkei damals ein abruptes Ende. Der neue Regierungschef Kostas Karamanlis zeigte kein Interesse an der Fortführung des Projekts und brach die Gespräche kurzerhand ab. Damit erstickte eine innenpolitische Entscheidung in Griechenland die Hoffnungen auf eine einvernehmliche Lösung.
Eine Wiederholung eines solchen Szenarios erscheint heute – zwanzig Jahre später – unwahrscheinlich. In Athen wie auch in Ankara sind die Regierungen stabil, Wahlen stehen auf beiden Seiten der Ägäis nicht bevor. Dennoch zeigt der historische Rückblick, wie stark innenpolitische Turbulenzen den Handlungsspielraum der Regierungen einschränken und Kompromisse gefährden können. Und eines bleibt gewiss: Ohne gegenseitige Zugeständnisse wird die aktuelle Ruhe in der Ägäis kaum von Dauer sein. Doch genau diese Kompromissbereitschaft ist auf beiden Seiten nach wie vor Mangelware.
Dr. Ronald Meinardus ist Senior Research Fellow bei der Hellenischen Stiftung für Europäische und Auswärtige Politik (ELIAMEP) in Athen.