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Finanzreformen, der Ölsektor und die Milizen in Libyen

Wie Milizen Libyen ausrauben

Feature
Finanzreformen, der Ölsektor und die Milizen in Libyen
Die Einwohner der libyschen Hauptstatdt stehen Schlange, um die Gelegenheit zu nutzen, endlich wieder größere Bargeldmengen abheben zu können. Foto: Alessio Romenzi

Libyens Milizen konsolidieren ihre Macht – auf Kosten des Staates und der Bürger. Neue Reformen sollen Vertrauen schaffen, doch noch ist unklar, ob die vom Westen untersützte Regierung des Landes Teil der Lösung oder Teil des Problems ist.

Mohammed Mizdawi steht vor einer der vielen Banken im Zentrum von Tripolis, in der Nähe des Märtyrerplatzes. »Ich warte immer noch darauf, dass ich an der Reihe bin, um etwas Geld abzuheben. Wer weiß, wie lange sich die Gelegenheit noch bietet«, sagt der 60-Jährige.

 

Es ist abends, Ende November 2018, und trotz der späten Stunde stehen die Menschen zu Hunderten an, Frauen auf der einen Seite und Männer auf der anderen. Vor den Eingängen sind Soldaten in den offiziellen Uniformen des libyschen Innenministeriums sowie weitere bewaffnete Wachmänner postiert, um die Reihen der wartenden Menschen zu ordnen. Diese Wachen gehören zu den »Revolutionären Garden Tripolis« (TRB), einer der mächtigsten Milizen in der libyschen Hauptstadt unter Führung des Warlords Haitham Tajouri.

 

Die Tajouri-Miliz entscheidet, wer das Gebäude betritt und verlässt. Am Straßenrand stehen ihre Boliden, darunter eine Reihe Motorräder und ein brandneuer Mercedes. Gelegentlich taucht Haitham Tajouri selbst auf und wird mit stürmischem Applaus empfangen. Denn zum ersten Mal seit Jahren können Libyens Bürger anstelle von 500 Dinar im Monat bis zu 5.000 Dinar abheben – damals rund 3.150 Euro. »Das ist alles Haitham zu verdanken« und »Tajouri ist unser Held«, rufen einzelne aus der Menge. In den Augen vieler Menschen, die hier geduldig Schlange stehen, übt mit Tajouri endlich jemand Druck auf die Zentralbank aus und tut etwas gegen die Bargeldflaute.

 

Die politische Situation in Libyen ist nach wie vor von Polarisierung geprägt.

 

»Lasst euch nicht täuschen«, fährt Mohammed fort und achtet darauf, von niemandem gehört zu werden, »nur eine Handvoll Banken haben bis spät in die Nacht geöffnet haben und auch nur hier, in den von Tajouri kontrollierten Stadtteilen. In anderen Vierteln ist die Situation unverändert. In Wahrheit haben die Milizen Angst, die Macht zu verlieren. Sie verteidigen ihre Macht und ihre Profite.«

 

Dann stellt er sich wieder an, eine Einkaufstasche in der einen und eine Zeitung in der anderen Hand und sagt: »Wir sind ein reiches Land, das waren wir immer. Der Boden, auf dem wir laufen, ist voller Öl und Gas. Und doch müssen wir für Benzin und Bargeld Schlange stehen. Die Warlords schmuggeln und plündern unseren Reichtum.« Die Folge: eine handfeste Liquiditätskrise und sinkende Kaufkraft. Die Preise für Konsumgüter stiegen im Jahr 2017 um 28 Prozent.

 

Die politische Situation in Libyen ist nach wie vor von der Polarisierung zwischen den Streitkräften des renegaten Generals Khalifa Haftar im Osten des Landes und der von der UN anerkannten Regierung unter Premier Fayez-al Sarraj mit Sitz in Tripolis geprägt. Zugleich operiert eine Vielzahl von Milizen unterschiedlicher Couleur auf eigene Rechnung, Allianzen entstehen und wechseln ständig. Mal mit, mal ohne Unterstützung aus der Bevölkerung.

 

So auch in der Hauptstadt. Im September 2018 eskalierte dort der Machtkampf zwischen rivalisierenden Banden. Die Zusammenstöße forderten 120 Tote und vertrieben Tausende von Menschen und endeten mit einem von den Vereinten Nationen ausgehandelten Waffenstillstand. Angezettelt wurde die Offensive auf Tripolis von der Siebten Brigade, einer abtrünnigen ehemaligen Armeeinheit aus der Kleinstadt Tarhuna, die auf halbem Weg zwischen der Hauptstadt und Misrata liegt.

 

Libyens Milizenwesens gleicht in seinen Strukturen immer mehr einer institutionalisierten Mafia.

 

Die Siebte Brigade hatte sich im Herbst mit einem weiteren Milizenführer zusammengetan, der mit populistischen Versprechungen um Unterstützung wirbt: Salah Badi, früherer Parlamentarier und heute Anführer der Al-Samud-Brigade aus Misrata. Das neue Bündnis trat mit dem Versprechen auf den Plan, die Hauptstadt aus dem Würgegriff des Milizenkartells zu befreien und die Bürger an dem Ressourcenreichtum des Landes zu beteiligen.

 

Nicht nur für Tripolis gilt: Je schwächer die Regierung vor Ort ist, desto stärker ist die Macht der Miliz, die sie ersetzt. Doch in der Hauptstadt ist die Lage besonders vertrackt. Denn die Regierung Sarraj versuchte die Milizen in den vergangenen Jahren durch Einbindung in staatliche Institutionen einzuhegen – profitiert haben davon bislang aber nur die Milizen. Sie haben es geschafft, die politische Führung vor sich herzutreiben und für die eigenen Interessen zu instrumentalisieren.

 

Libyens Milizenwesens ist weit mehr als bewaffnete Banden, die in Pick-ups auf den Straßen patrouillieren, sondern gleicht in seinen Strukturen immer mehr einer institutionalisierten Mafia. Die wahre Macht der Milizen besteht heute darin, die politische Macht von innen heraus zu beeinflussen. »Die Milizen sind die größte Bedrohung für Libyen, und zwar nicht nur für die Ölindustrie, sondern für die gesamte Gesellschaft«, meint Mustafa Sanalla, Chef der National Oil Corporation (NOC). Die staatliche Ölfördergesellschaft ist in Anbetracht der Lage in Libyen noch in einem vergleichsweise guten Zustand, der durchschnittliche Output liegt bei einer Million Barrel pro Tag.

 

Finanzreformen, der Ölsektor und die Milizen in Libyen
»Die Milizen sind die größte Bedrohung für Libyen, und zwar nicht nur für die Ölindustrie, sondern für die gesamte Gesellschaft«, meint Mustafa Sanalla, Chef der National Oil Corporation (NOC).Foto: Alessio Romenzi

Doch der Status quo ist weder haltbar noch nachhaltig, das gilt für die NOC im Speziellen und für Libyen im Allgemeinen. Ökonom Sanalla fordert: »Finanzielle Transparenz kann und muss eine grundlegende Rolle spielen: Die Bürger müssen wissen, wie die gesamte Einkommensdynamik der Ölproduktion funktioniert.«

 

Nach den Kämpfen im September kündigte die Regierung Wirtschaftsreformen zur Behebung chronischer Engpässe an. Das Gesetzespaket, am 12. September unterzeichnet, setzt neue Wechselkurse für Fremdwährungskäufe in libyschen Banken fest, um aufgeblähten Kraftstoffpreisen entgegenzuwirken, den Wechselkurs zu stabilisieren und den Schwarzmarkt zu bekämpfen. »Die Geschäftsbanken in Libyen werden die Gebühren für Kaufabschlüsse einziehen und auf ein separates Konto einzahlen, um die Staatsschulden und andere Verpflichtungen abzubauen«, heißt es in dem Dokument. Die Reformen zielen auch darauf ab, einen Zufluss von Dollar in den Markt zu sichern, um den Dinar zu stärken.

 

Eine Wechselkurslücke bietet die Möglichkeit, die Staatskasse zu schröpfen, indem man die Akkreditive für die Einfuhr von Waren nutzt.

 

Eines der Hauptziele der Reformen ist es, die Profite aus den staatlichen Ressourcen durch diejenigen einzudämmen, die zum offiziellen Kurs (1,38 LYD=1 USD) auf Fremdwährung zugreifen und zu Schwarzmarktkursen (derzeit 5,3 LYD=1 USD) verkaufen können.

 

Diese Wechselkurslücke bietet die Möglichkeit, die Staatskasse zu schröpfen, indem man die Akkreditive für die Einfuhr von Waren nutzt – eine Methode, die Milizen verwenden, um den Wert importierter Waren aufzublasen, um zusätzliche Gewinne zu erzielen. Die Regierung hat nun eine Servicegebühr von 184 Prozent auf den offiziellen Wechselkurs für alle Fremdwährungskäufe erhoben, die für kommerzielle oder persönliche Transaktionen erforderlich sind.

 

Die lang erwarteten Reformen stoßen jedoch wie erwartet auf Kritik. Zwar zielen die Änderungen auf klar definierte Ziele, sind aber nicht in den Kontext einer umfassenden Subventionsreform eingebettet. Korruption ist endemisch und die Wirtschaftsinstitutionen – vor allem die Zentralbank – richten sich nach den Autoritäten, die vor Ort das Sagen haben. Angesichts dieser Schieflage bestehen berechtigte Zweifel an der Wirksamkeit der Reformpläne.

 

»Diese Wirtschaftsreformen mögen zwar einige der ökonomischen Probleme Libyens lindern, haben aber nicht das Potenzial, sie zu lösen – und können die Situation für einige sogar noch verschlimmern, wenn die Änderungen zu Preiserhöhungen führen. Und die Macht derjenigen, die den libyschen Schwarzmarkt sowohl durch Gewalt als auch durch Korruption kontrollieren, sollte nicht unterschätzt werden«, schreibt Tim Eaton, Research Fellow für den Nahen Osten und Nordafrika beim Londoner Thinktank Chatham House.

 

»Die Kontrolle über staatliche Institutionen in Tripolis ermöglicht die Kontrolle über die Verteilung der Staatseinnahmen. Es ist ein lobenswertes Unterfangen, den Spielraum derjenigen zu schmälern, die aus Libyens Institutionen Profit schlagen. Dennoch müssen die UN und ihre internationalen Partner versuchen, kurzfristige Ansätze mit Unterstützung für substantiellere Reformen zu verbinden«, argumentiert Eaton.

 

In einem aktuellen Bericht der »International Crisis Group« nimmt Claudia Gazzini ebenfalls die Umsetzbarkeit der beschlossenen Reformen unter die Lupe. So sei etwa nicht klar geregelt, wie die Einnahmen aus der Servicegebühr verwendet werden sollen. Regierungsbeamte befürchten, dass Sarraj und sein Umfeld diese Einnahmen dazu verwenden könnten, um sich weiter Loyalität zu erkaufen, anstatt Entwicklungsprojekte zu finanzieren.

 

»Eine weitere offene Frage ist, ob diese Mittel in den regulären Staatshaushalt fließen, der durch den Audit der Wirtschaftsprüfer geht, oder ob sie außerhalb des Haushalts verbleiben, was ein geringeres Maß an Kontrolle ermöglicht. Der Staat sollte die Zuteilung dieser Mittel sorgfältig überwachen«, schreibt Gazzini.

 

»Die Tankstellen sind nicht in der Lage, Ressourcen zu schützen. Das Ergebnis: Versorgungsengpässe und überhöhte Preise«

 

Doch erst einmal steht Libyens Regierung vor der Herausforderung, die bestehenden Geldflüsse umzustrukturieren. Dringend notwendig wäre vor allem ein Abbau der Treibstoffsubventionen, die bisher den Schmuggel ermöglichten und den Milizen eine verlässliche Einnahmequelle auf Kosten der Öffentlichkeit bescherten. Laut eines Interpol-Berichts von 2015 kostet der Treibstoffschmuggel den Staat sechs Milliarden Dollar pro Jahr.

 

»Das Land verliert bis zu 750 Millionen Dollar pro Jahr durch Kriminelle, die systematisch jeden politischen Vermittlungsprozess sabotieren, um den illegalen Handel aufrechtzuerhalten«, sagt Mustafa Sanalla. »Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Öl- und Kraftstoffeinnahmen von einer Zentralbank verwaltet werden, die die Transparenz dieser Verwaltung für die Bürger gewährleistet«, fordert der Ökonom.

 

Im November 2018 beschloss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, das Mandat der Expertengruppe zu verlängern, die die Sanktionen gegen die illegale Ausfuhr von Rohöl und Raffinerieprodukten aus Libyen bis zum 15. Februar 2020 überwacht. Doch der Ball liegt bei der Politik. »Die Hauptaufgabe der Regierung darin besteht, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die illegale Ausfuhr von Öl, einschließlich Rohöl und raffinierten Erdölerzeugnissen, aus Libyen zu verhindern«, betont der Text.

 

Eine langfristige Vision und strukturelle Subventionsreform sind notwendige Schritte, um sicherzustellen, dass die im September 2018 beschlossenen Wirtschaftsreformen nachhaltige Ergebnisse zeitigen. »Das Land steht am Abgrund, die Sicherheitslage ist schlecht – das hat der Angriff auf die NOC-Zentrale im September 2017 gezeigt, bei dem zwei Menschen getötet und zehn verletzt wurden. Es gibt einen endemischen Mangel an Transparenz über die Funktionsweise der Regierung und eine Wahrnehmung von Ungerechtigkeit im ganzen Land darüber, wie die Finanzen der Nation verteilt sind«, ergänzt Sanalla.

 

Trotz der Instabilität betonen internationale Ölgesellschaften ihr Interesse an einer Rückkehr nach Libyen und an neuen Explorationsabkommen. Die italienische ENI und die britische BP haben kürzlich ein solches Dokument unterzeichnet. Die Absichtserklärung ist für ENI der erste Schritt, eine 42,5%ige Beteiligung am Exploration and Production Sharing Agreement (EPSA) von BP in Libyen zu erwerben. Die unterzeichnenden Unternehmer verpflichten sich zudem dazu, »einen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung des Landes durch die Umsetzung von sozialen Initiativen zu leisten, einschließlich spezifischer Bildungs- und technischer Ausbildungsprogramme«.

 

»Die Unabhängigkeit der NOC muss weiterhin durch Resolutionen des UN-Sicherheitsrates geschützt werden«, fordert Sanalla. »Libyen braucht einen geeinten Sicherheitsapparat, sonst bleibt die NOC ständig der Gefahr von Angriffen durch diejenigen ausgesetzt, die die Zusammenarbeit zu ihrem eigenen Nutzen untergraben wollen.«

Von: 
Francesca Mannocchi

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